„Papa, wo bist du?!“, quengelte ich in den Hörer.
Ich hasste es, ihn in der Schule anrufen zu müssen. Die Sekretärin warf mir immer einen genervten Blick zu, wenn ich in das Zimmer kam, denn immerzu war es der gleiche Ablauf: Ich wartete vor dem Schulgebäude auf den alten Ford meines Vaters, der nicht zur ausgemachten Zeit kam. Dann ging ich ins Sekretariat, bat um das Telefon und tippte die Nummer seines Büros ein. Manchmal erwischte ich ihn nicht und musste das Ganze nach fünf Minuten wiederholen. Wenn er dran ging, versprach er sofort loszufahren. Also schleppte ich Sporttasche und Schulranzen wieder nach draußen und wartete. Und wenn er nach einer halben Stunde noch immer nicht aufgetaucht war, ging ich schnurstracks zurück zum Telefon. Dabei zeterte und brüllte ich in den Hörer, sodass die Sekretärin kopfschüttelnd dreinblickte, während sie so tat, als würde sie am Computer ihrer Arbeit nachgehen.
Aber dieses Mal war es anders, dieses Mal ging es um ein wichtiges Turnier, das entscheiden würde, ob ich in die Landesliga kam. Das wusste er doch, noch am Frühstückstisch hatten wir darüber geredet.
„Noch fünf Minuten, Mel“, sagte mein Vater gereizt. „Fünf Minuten und ich fahre los.“
„Wir sind jetzt schon zu spät!“
„Sieh auf deine Uhr, es sind nur fünf kleine Striche, dann bin ich auf dem Weg.“
„Jetzt!“
„Verdammt noch mal, Mel!!! Meinst du, ich kann mir das aussuchen?!“
Ich knallte den Hörer auf. Warum tat er mir das an? Warum stand er voller Begeisterung in den Zuschauerreihen und prahlte mit seiner sportlichen Tochter, wenn er es nicht einmal schaffte, zu diesen wichtigen Ereignissen pünktlich zu sein? Diese blöde Armbanduhr hatte gar nichts geändert, gar nichts!
Wie konnte meine Mutter mir so etwas antun? Jahrelang hatte ich ihr geholfen, hatte Kaffee gekocht, Brötchen geschmiert und Kunden bedient, war bei jedem Fest und jeder Veranstaltung bis in den späten Abend dabei gewesen. Und selbst an diesen Tagen hatte ich mich noch um den Haushalt gekümmert, dafür gesorgt, dass sie etwas Warmes zu essen bekam und sich nicht um die Dreckwäsche kümmern musste. Alles Dinge, die sie alleine nicht hätte schaffen können! Ich war immer die, auf die sie sich verlassen konnte, von der sie selbst behauptete, ihr Rettungsring zu sein. Und nun ersetzte sie mich wie eine x-beliebige Bedienung.
Die Fassade unseres Hauses kam immer näher. Ich war blindlings losgestürmt, ohne darauf zu achten, wohin. Der kleine Briefkasten vor dem Gartentor wippte leicht im Wind. Auf der Vorderseite stand in handgeschriebenen Lettern Lilli & Melli Mahler. Wir hatten ihn vor Jahren frisch lackiert und zusammen beschriftet. Sie war wohl der Meinung, dass diese eine von unzähligen Abschiedszeremonien dazu beitragen würde, nach vorne zu blicken. Mit einem gezielten Tritt beförderte ich den blöden Kasten zu Boden, bevor ich die Haustür hinter mir zuknallte und ins Zimmer rannte.
Meine Fingernägel gruben sich schmerzend in die Handflächen. Hier lebte sie, die nette, zuverlässige Melli, zwischen tadellos gestapelten Schulheften, Terminplanern und Notizheften. Hatte meine Mutter nicht gesagt, ich sollte meine Zeit nicht mit arbeiten verschwenden? Ich riss die Hefte aus ihrer Ordnung, zerstückelte und zerknüllte ihren Inhalt. Sie wollte, dass ich zu Lis wurde? Ich würde ihr zeigen, wer Lis war, würde alles kurz und klein hauen. Das Zimmer füllte sich mit Papierfetzen. Ich hörte mich schreien, während ich Bücher gegen die Wand schleuderte, Zeugnisse und Urkunden zerriss, Bilderrahmen auf den Boden schmetterte, bis ihr Glas in tausend Teile zersprang.
Der Briefkasten müsste erneut übermalt werden. Denn Lilli & Melli Mahler gab es nicht mehr.
Schluchzend sank ich auf den Trümmerhaufen. Jedes einzelne Teil daraus war eine lächerliche Sinnlosigkeit, die allein den Zweck diente, ein glückliches Leben vorzutäuschen. Ich sollte es loswerden, alles auf einen Stapel werfen und anzünden, damit mein Zimmer so aussehen würde, wie ich mich fühlte. Leer. Die lavendelfarbenen Wände schienen mich anzustarren, warteten darauf, ob ich es durchziehen würde. Wer von meinen Eltern hatte eigentlich beschlossen, diese scheußliche Farbe auf die Tapete zu schmieren? Sie wirkte trügerisch verträumt und kitschig, und hatte rein gar nichts mit mir zu tun. Ich brauchte ein knalliges Rot, ein stechendes Grün oder ein neonfarbenes Gelb. Etwas, dass vor Aufregung pulsierte. Vielleicht würde ich das nächste Mal in der Fabrik eine von Chris Spraydosen mitgehen lassen.
Mein Handy klingelte. Mit schniefender Nase und tränenüberlaufenen Wangen kroch ich zu ihm. Das Display zeigte eine Festnetznummer, die ich nicht kannte.
„Ja?“, meldete ich mich in einem wimmernden Ton, der mich anekelte.
„Melissa? Fern hier...“, sagte die unsichere Stimme von Bennys Vater in der Leitung. „Ist es gerade ein schlechter Zeitpunkt?“
Ich wischte mir über das Gesicht und zog die Nase hoch, um meiner Stimme mehr Festigkeit zu verleihen.
„Nein, nein. Ist etwas mit Benny? Soll die Nachhilfestunde verschoben werden?“
„Ja...Nein...“, erwiderte er.
Er räusperte sich kurz, schien nicht recht zu wissen, wie er anfangen sollte. Da redete ich lieber mit seiner Frau, der Beißzange, denn zumindest sagte sie es direkt heraus, wenn es ein Problem gab. Nach einem weiteren Räuspern hatte er sich die richtigen Worte endlich zurechtgelegt.
„Benny hat durch deine Nachhilfe schon ziemliche Fortschritte in der Schule gemacht. Aber wir denken, dass es das Beste wäre, sie bis auf Weiteres auszusetzen.“
Mein Kopf sackte nach unten.
„Das Geld für den Rest des Monats bekommst du natürlich trotzdem“, schob er nach, als würde es die Nachricht in irgendeiner Weise abmildern.
Ich sagte nichts, konzentrierte mich nur auf den schmerzenden Klos in meinem Hals, der überdimensional anzuschwellen schien.
„Ich hoffe, du kannst das verstehen...“