Auf die Minute genau war ich mit Benny fertig geworden und übergab ihn Frau Fern, nicht ohne zuvor die Sahnereste aus seinen Mundwinkeln verschwinden zu lassen. Danach vertröstete ich Chris auf den morgigen Tag. Was er davon hielt, würde ich nie erfahren, denn wie üblich schrieb er nicht zurück. Der Gedanke, es bald wieder gutmachen zu können, ließ mich jedoch darüber hinwegsehen.
Im Eilverfahren sorgte ich für Ordnung in der Wohnung und deckte den Tisch. Ich wusste noch nicht recht, was mich erwarten würde. Eine reumütige Mutter, die eingesehen hatte, einen Fehler begangen zu haben und der nichts Wichtiger war als die Vergebung ihrer Tochter? Vielleicht hatte sie Gregor ja schon wieder fallen lassen, wie Lena-Marie es vorausgeahnt hatte? Schließlich müsste man blind sein, um nicht erkennen zu können, dass dieser grobschlächtige Ladenheini und sie nicht zusammenpassten.
Das vertraute Klicken des Türschlosses ertönte.
„Hallo Melli-Maus!“, rief es aus dem Flur. „Wir sind da.“
Wir? Ich wartete auf ein Kichern, dass mir bedeutete, sie würde das hoheitliche Wir meinen. Aber schon tauchte Gregor hinter ihr auf. Meine Miene verfinsterte sich. Ihr Blindflug ging wohl weiter, und das Geschenk stellte weniger eine Entschuldigung als eine Bestechung dar. Ganz großartig.
Wie selbstverständlich nahm Gregor auf der Couch Platz und grüßte mich. Sein billiges Aftershave juckte mir in der Nase, während meine Mutter die Pizzaschachtel auf den Tisch rutschen ließ und Teller besorgte. Seit wann aßen wir im Wohnzimmer? Und seit wann durften andere bei unserem Spieleabend dabei sein? Was zum Teufel war hier eigentlich los?! Beim Anblick der Pizza schnaufte ich leise, denn mir wurde klar, dass ich hier nicht so schnell wieder herauskommen würde. Dafür war der Hunger zu groß. Und Chris könnte ich auch kein weiteres Mal schreiben, denn dieses Hin und Her würde ihm nur auf den Keks gehen.
Somit hatte ich aufregende Stunden voller Adrenalin und wilder Knutscherei gegen einen grässlichen Abend mit meiner Mutter und ihrer Liebschaft getauscht. Gefrustet öffnete ich die Schachtel.
„Warum ist da Ananas drauf?!“, rief ich entsetzt.
Wer nur auf die Idee gekommen war, diese widerlich süßen Stückchen auf Pizza zu legen, gehörte meiner Meinung nach in das dunkelste Loch gesteckt.
„Aber in der einen Ecke sind keine“, erklärte meine Mutter und zeigte auf ein mickriges Randstück.
So weit war es also gekommen. Für die kleine Melissa blieb nur noch die hinterste Stelle einer mit Ananas bestückten Familienpizza.
Gregor fuhr sich unbehaglich über den Nacken.
„Das war dann wohl mein Fehler. Ich dachte, Ananas mag jeder.“
Schiebs dir sonstwo rein, wetterte ich innerlich und packte mir das jämmerliche Stück. Wieder dachte ich an das Kleidchen. Ich sollte mich zusammennehmen, es einfach durchziehen. Es wären ja nur wenige Stunden und zumindest turtelten sie nicht vor meinen Augen herum. Im Gegenteil, sie hielten einen großen Abstand zueinander und wirkten etwas steif auf dem Sofa, während ich mich auf der anderen Seite des Tischs auf den Teppich gesetzt hatte. Bei der Vorstellung, seine Griffel würden sich um die zarte Taille meiner Mutter legen, blieb mir die Pizza im Hals stecken. Während ich krampfhaft versuchte, das blöde Teil herunterzuwürgen, unterhielten sie sich über Belanglosigkeiten. Wie es im Café lief, die wirtschaftliche Lage, ein bisschen Politik, bla, bla, bla... Um dem ganzen Unsinn ein schnelles Ende zu setzen, griff ich nach den Unokarten.
„Wie spielt man das denn genau?“, fragte Gregor und beugte sich mit dem bulligen Körper über den Tisch.
Der Kerl wusste nicht einmal, wie Uno ging, wo gibt’s denn sowas? In einem rasanten Tempo spulte ich die Regeln herunter und teilte die Karten aus.
„Bei Melli musst du aber aufpassen“, bemerkte meine Mutter mit einem schelmischen Lächeln. „Sie sorgt schon dafür, dass du deine Karten nicht loswirst.“
Gregor nahm sein Deck in die Pranke.
„Ich dachte, bei dem Spiel kann man nicht betrügen.“
„Kann man auch nicht“, antwortete ich pampig. „Man kann nur dumm sein.“
Und ich sorgte dafür, dass er dabei dumm aussah. Bis jemand die Spielrichtung ändern würde, war er nämlich nach mir dran und das nutzte ich aus, um ihn mit meinen Karten gnadenlos zum Ziehen zu zwingen. Solange, bis er sein Deck ungeschickt mit beiden Händen halten musste, damit sie sich nicht quer über den Tisch verteilten und meine Mutter mit einem Richtungswechsel intervenierte. Aber das konnte mir ziemlich egal sein, denn ich besaß nur noch drei Karten, die ich ebenfalls bald loswerden würde. Mama gab Gregor unterdessen Tipps und nach und nach entwickelte er ein Gefühl für das Spiel.
Die nächsten Runden liefen nicht so gut für mich. Neue Karten kamen hinzu und wenig Chancen taten sich auf, sie abzugeben. Gregor und ich waren gleichauf. Und dann, innerhalb eines Zuges, purzelten seine Karten eine nach der anderen auf den Ablagehaufen.
„Hey, stapeln ist nicht erlaubt“, protestierte ich.
„Das lassen wir jetzt mal durchgehen“, wandte meine Mutter nachsichtig ein.
„Was! Wieso?! Ich habe die Spielregeln erklärt.“
Beschwichtigend hob er die Arme und sammelte die Überschüssigen wieder ein.
„Da hast du vollkommen recht“, sagte er. „Man sollte sich an die Spielregeln halten.“
Er sah mich eindringlich an.
„Was wäre das denn auch, wenn jeder machen dürfte, was er will? Regeln sind schließlich wichtig. Ist doch so, Melli?“
Während meine Mutter munter ablegte und sich darüber freute, mehr als nur eine Karte loswerden zu können, biss ich die Zähne zusammen und warf Gregor einen schneidenden Blick zu. Ich verstand, worauf das hinauslaufen sollte. Er würde bei der Sache mit Chris nicht locker lassen, selbst in Anwesenheit meiner Mutter nicht.
„Ja“, erwiderte ich. „Beim Spielen sollte sich jeder an die Regeln halten. Du, ich, wir alle.“
Das tat ich, wenn auch nicht an die Regeln, die er im Sinn hatte. Chris und ich spielten schließlich unser eigenes Spiel.
Jetzt begriff auch meine Mutter, wie die Stimmung kippte und klatschte in die Hände.
„Wie wäre es mit Wein? Für dich eine Limo, Mäuschen?“
„Ich glaube, ich geh ins Bett“, murrte ich und schmiss mein Deck auf den Tisch.
„Aber wir haben doch noch gar nicht fertig gespielt...“
„Ich habe sowieso gewonnen“, antwortete ich und schlurfte wie der allerletzte Verlierer aus dem Wohnzimmer.