Mithilfe der Schule in den Alltag und damit zurück zu mir zu finden, stellte sich als dämlichste Idee überhaupt heraus. Die Hälfte der Schülerschaft hatte sich bereits in den Familienurlaub verabschiedet, sodass das Gebäude und der Hof wie ausgestorben wirkten. Jene, die nicht vorzeitig freigestellt wurden, quälten sich zusammen mit den antriebslosen Lehrern durch die Stunden, die selbst das Ende der Woche herbeisehnten. Allein Jansen schien noch Interesse daran zu haben, den Unterricht durchzuziehen, auch wenn ihm keiner zuhörte. Während er Zahlen und Formeln auf die Tafel schrieb, starrte ich mit leerem Blick auf mein Mathebuch, unter dessen Buchrücken sich das Farbmassaker befand. Mit einem dicken Edding hatte ich mehrmals über den beleidigenden Schriftzug gekritzelt, bis er komplett darunter verschwunden war. Aber nun schien es, als sickerte er geradewegs durch die schwarze Übermalung und die Seiten des Schulbuchs, um mir ins Gesicht zu grinsen: Martens Schlampe. Wie viel Wahrheit steckte heute in diesen Worten?
Zumindest redete keiner mehr hinter hervorgehaltener Hand über mich. Die wochenlangen Gerüchte um das Mahler-Mädchen waren von Erzählungen über den Einbruch abgelöst worden, die sich zweifelsfrei schon vor dem Zeitungsartikel wie ein Lauffeuer verbreitet hatten. Auf dem Schulhof wurden abstruse Theorien und Halbwahrheiten ausgetauscht, und hatten mich unweigerlich an Chris Worte denken lassen: Wenn was Neues passiert, is das sowieso Schnee von gestern.
„Melissa?“, hörte ich Jansen sagen und sah auf.
Ohne es bemerkt zu haben, hatte die Schulglocke geläutet und sich das Zimmer geleert. Nur ich kauerte apathisch hinter dem Schreibtisch, was Jansen veranlasste, mit sorgenvoller Miene den Weg in die letzte Reihe einzuschlagen. Er zog einen Stuhl in Erwartung eines ausführlichen Gesprächs heran.
„Ist alles in Ordnung?“
Leise seufzte ich in mich hinein. Er sollte gehen. Ich wollte mit mir und meinem Selbstmitleid alleine sein. Stattdessen setzte er sich gegenüber.
„Ist es bald wieder soweit?“, fragte er, als müsste ich wissen, wovon er redete.
Mein verständnisloses Gesicht ließ ihn weiter ausholen.
„Nun ja, es ist vollkommen normal, wenn die Stimmung beim Näherrücken des Datums bedrückender wird.“
Dieser blöde Idiot! Wieso musste er wieder und wieder darauf herumreiten? Am liebsten hätte ich ihm die mitleidigen Augen ausgekratzt.
„Mir geht es gerade einfach nicht gut“, erklärte ich tonlos und wandte den Blick ab.
Er nickte verständnisvoll und stand auf.
„Du kannst die Pause gerne hier verbringen. Und wenn du über etwas reden möchtest -“
„Danke.“
Im Augenwinkel sah ich, wie er die Hand leicht hob, in der Absicht mir diese auf die Schulter zu legen. Wehe, du fasst mich an!, wetterte ich innerlich. Inmitten der Bewegung ließ er sie aber wieder sinken und kurz darauf rastete das Türschloss ein.
Meine Stirn fiel schwer auf die harte Tischplatte, schlug auf, erhob sich, schlug abermals auf und blieb liegen. Tränen bahnten sich ihren Weg nach oben. Ich versuchte sie zurückzuhalten und atmete tief auf den Eddingfleck. Den Entschluss, wieder vor die eigene Haustür zu treten, zweifelte ich nicht an. Doch die Schule schien aktuell der letzte Ort, um in die Normalität zurückzukehren. Alles war fremd und unerträglich geworden, da hätte ich genauso gut Zuhause bleiben können. Aber vielleicht war es dafür noch nicht zu spät. Eine kurze Nachricht an meine Mutter, ein Wort zu Jansen und ich wäre daheim.
Ich kramte das Handy aus der Schultasche. Die verpassten Anrufe und ungelesenen Mitteilungen auf dem Display erreichten neue Höhepunkte. Chris ließ einfach nicht locker. Einen Moment lang spielte ich mit dem Gedanken, den Chat zu öffnen, schüttelte dann aber vehement den Kopf. Keinen Kontakt! Ich durfte nicht zulassen, dass er die Tür zu Lis erneut öffnete. Was immer er wollte, es sollte mich nicht interessieren, und früher oder später würde selbst er begreifen, dass es vorbei war.
Schwermütig ließ ich das Telefon wieder in die Tasche gleiten und stand mit einem verzweifelten Stöhnen auf, das im menschenleeren Zimmer hängenblieb wie eine Gewitterwolke. Die Zeiger der Wanduhr schlichen in unfassbar langsamen Zügen von einem Strich zum Nächsten. Das war also der Übeltäter, der für den nicht endenwollenden Vormittag verantwortlich war. Ich warf der Uhr einen giftigen Blick zu und schlurfte ziellos zwischen den Tischen umher, die von den breiten Sonnenstrahlen der Fensterfront beleuchtet wurden. Draußen wäre es jetzt bestimmt angenehmer als in diesem Käfig aus billigen Holzmöbeln und ergrauten Linoleum. Andererseits musste ich mich hier nicht im Schatten verkriechen. Ich streckte das Gesicht in die Sonne und versuchte für diese wenigen Minuten, in der ihr Strahl meine Nase kitzelte, alles andere aus dem Kopf zu verbannen.
Dann erkannte ich in ihrem Schein ein schwaches Funkeln an einem der vorderen Tische. Als würde das Licht dort durch etwas eingefangen, blitzte es auf wie kleine Diamanten. Neugierig näherte ich mich dem Pult und ging vor ihm in die Hocke, um es genauer zu untersuchen. Es war Annas Tisch, auf dem drei Tropfen zurückgeblieben waren. Mein Zeigefinger strich die klare Flüssigkeit über den Lack und krümmte sich mit den restlichen Fingern zur Faust.
Mariell, diese dumme Kuh! Dieses Mal würde sie dafür büßen.