Das Leben war so schön wie vor Hauke. Ausrufezeichen, Fragezeichen, Straßenname, Zugriff. Wir gingen von einem Laden zum nächsten und manchmal, wenn uns Wittelshain zu klein wurde, fuhren wir mit dem Bus in die Nebenorte, um dort weiterzumachen. Die Zeiten dazwischen - wenn ich neben Schule, Café und Nachhilfe noch Luft hatte - füllte ich mit Recherchearbeiten über Diebstähle und Taschenspielertricks. Ich hatte mir fest vorgenommen, in kein weiteres Fettnäpfchen zu treten, deshalb musste ich mich auf alles Vorbereiten. Aber obwohl ich Chris zugesichert hatte, bereit für mehr zu sein, blieb meine Aufgabe zunächst dieselbe: Ablenken.
Es zeigte sich, dass ich dafür selbst in fremder Umgebung bestens geeignet war. Mit meinen reizenden Kleidern und dem blondumrahmten Mädchengesicht konnte ich die Leute schnell um den Finger wickeln, sei es als hilfsbedürftiges Dummerchen, dass ein Geschenk für die Mutter suchte, oder als Tollpatsch, der über seine eigenen Beine fiel und damit den ganzen Laden in Aufruhr brachte. Nur beim offensichtlichen Lügen musste ich vorsichtig sein, übte sogar die einen oder anderen Aussagen Zuhause vor dem Spiegel bis sich nur noch eine leichte Röte über meine Wangen legte, die ebenso als zuckersüße Schüchternheit gewertet werden konnte.
Kurzum war ich auf dem besten Weg eine fabelhafte kleine Helferin zu werden, deren Begeisterung von Abgriff zu Abgriff und von Kuss zu Kuss stieg. Meine Laune hatte einen solchen Höhenflug erreicht, dass ich mich sogar mit Lena-Marie nochmals verabredete. Seit dem Beginn der Schulbalz machte sie einen betretenen Eindruck und in einem Anflug von Mitgefühl dachte ich, es wäre nett, sie etwas von ihrem Alleinsein abzulenken. Denn was bedeuteten schon ein paar öde Stunden, wenn ich wusste, welches Abenteuer danach auf mich wartete.
Mit einer Hand kippte ich das Dressing über den Salat, während meine andere ein Filzstift hin- und herbalancierte. Chris hatte mir gezeigt, welche Bewegung die Schnellste, die Unauffälligste für das Einstecken war. Der Mittel- und Zeigefinger umschließt die Beute wie eine Zange und sobald sie aus der Tasche ist, wird sie in der Hand nach unten gedreht, damit man sie verdeckt einstecken kann. Seither gab es kaum eine Gelegenheit, in der ich keinen Gegenstand zwischen den Fingern hatte, damit ich ihre Geschicklichkeit schulen konnte. Und nach und nach wurden die Bewegungen immer fließender, nicht ganz so perfekt wie bei Chris, aber doch recht anschaulich wie ich fand. Stolz platzierte ich die Salatschüssel auf den Esstisch und legte mein Übungsstück beiseite.
In den letzten Tagen hatte ich meine Mutter nur sporadisch zu Gesicht bekommen. Für die Vorbereitungen der Hochzeitsbestellungen verkroch sie sich in der Backstube, während Theresa und ich das Tagesgeschäft managten, und kam abends so spät nach Hause, dass ich, vom ereignisreichen Tag erschlagen, bereits im Bett lag. Jeder von uns schien derzeit mit dem eigenen Leben zu beschäftigt zu sein, als dass wir Zeit füreinander hätten. Deshalb hatte ich diesen Abend nur für uns eingeplant, mit einem guten Essen und einer Runde Uno, das sie so gerne spielte. Vergnügt hüpfte ich durch das Wohnzimmer, als das Klicken der Eingangstür zu hören war. Doch mit einem Mal verebbte die Vorfreude.
Neben dem glockenhellen Lachen meiner Mutter war noch eine andere Stimme zu hören. Gregors Stimme. Beide bogen sie ins Wohnzimmer und stoppten, als sie mich dort sahen. Die Finger meiner Mutter hatten sich eben noch auf seinen Arm gelegt, jetzt zog sie sie vorsichtig zurück. Ihre Wangen nahmen ein leichtes Rot an.
„Maus, ich dachte, du wärst heute bei Lena-Marie?“
Unter mir tat sich ein Loch auf, riss mich in seinen Abgrund und ließ mich endlos fallen. Zumindest hätte ich mir das gewünscht, aber auch beim nächsten Wimpernschlag standen sie noch vor mir.
„Am Samstag, Mama. Ich wollte am Samstag zu Lena-Marie“, hörte ich mich tonlos antworten.
„Oh...“
Sie warf einen hilfesuchenden Blick zu Gregor, der nur auf sein Handgelenk tippte, um ihr zu bedeuten, dass sie zu spät kommen würden. Die angespannte Atmosphäre schien nicht auf ihn überzuspringen. Aber was ging schon groß im Kopf eines Kerls herum, der in seinem Leben nur Rausschmeißer und Sicherheitsblödmann war?
„Wir sind gerade auf dem Weg ins Kino. Magst du vielleicht mit, Mäuschen?“
Mit zusammengepressten Lippen schüttelte ich den Kopf.
„Verstehe“, sagte sie kleinlaut. „Dann mach dir einen schönen Abend, ok?“
Sie küsste mich auf die Stirn, griff nach ihrer Handtasche und verließ mit ihm die Wohnung. Wie ein Klotz stand ich inmitten des Wohnzimmers. Meine Augen huschten im Raum umher, während sich der Zorn in meinem Bauch immer tiefer hineinfraß wie Säure. Irgendetwas musste es hier geben, dass ich gegen die Haustür schmettern konnte. Vielleicht die kitschige Vase, die meine Mutter auf dem Flohmarkt erstanden hatte und die ihr so ans Herz gewachsen war.
Erneut klickte das Schloss. Gregor steckte den Kopf ins Wohnzimmer.
„Lilli hat ihre Jacke vergessen.“
Ich kochte vor Wut, stampfte an ihm vorbei zur Garderobe, riss das cremefarbene Jäckchen vom Haken und hielt sie ihm hin. Ohne von meiner Rage Notiz zu nehmen, warf er die Jacke über die breite Schulter. Er sollte endlich verschwinden. Sie beide sollten verschwinden und sich nicht mehr Blicken lassen. Von mir aus für immer!
Ich wollte gerade die Tür hinter ihm zuschmeißen, da blockierte er sie mit einer seiner Bullenhände.
„Ach ja, ich habe mich über deinen Cousin informiert“, murmelte er.
Ich schnaubte abfällig. Informiert, dass ich nicht lachte. Er hatte lediglich bei Sven Hanke ein Stein im Brett und ihn darauf angesetzt, bei der Polizeistelle Chris Daten abzufragen. Gregor war schließlich nur ein unbedeutender Ladendetektiv, er hatte gar nicht die Möglichkeit, selbst daran zu kommen.
„Der ist kein unbeschriebenes Blatt“, sagte er und fixierte mich nun hartnäckig. „Hat schon einige Einträge: Diebstahl, Körperverletzung, Drogenbesitz...“
Ich versuchte, so ruhig wie möglich zu bleiben, obwohl ich kurz vorm Platzen war. Was für eine Frechheit! Erst machte er sich an meine Mutter heran und besaß dann auch noch die Unverschämtheit, bei mir den Moralapostel zu spielen. Zumal er keine Ahnung hatte, was hinter den Anzeigen tatsächlich steckte. Schließlich kannte er Chris nicht wie ich, was wusste er also schon? Er war nur ein lächerlicher, abgewrackter Kerl, der dachte, durch seine Vergangenheit in der Berliner Szene den Durchblick zu haben. Ein unglaublicher Verlierer!
Als er merkte, dass seine Äußerung keinerlei Wirkung auf mich zeigte, seufzte er schwer.
„Dieser Typ zieht dich nur runter, Melli. In Berlin habe ich das dutzende Male erlebt. Die Mädchen – nette, liebe Dinger - haben sich an diese miesen Kerle rangehängt, haben den ganzen Dreck mitgemacht und standen dann heulend vor dem Nichts, wenn die sie wieder haben fallen lassen. Das willst du doch nicht, Melli?“
Ich war kurz davor ihm die Tür vor der Nase zuzuschlagen oder ihm irgendeine Beleidigung an den Kopf zu werfen. Aber dann rief meine Mutter nach ihm und er wandte sich ab.
„Denk nochmal drüber nach. Wenn nicht für dich, dann für Lilli.“
Jetzt knallte ich wirklich die Tür zu. Und Sekunden später flog die Vase.