Einen quälend langen Moment über wurde es still. Ich hatte nicht bemerkt, dass die Playlist zu Ende gegangen war. Nur das stete Prasseln des Regens war zu hören. Chris stand meterweit von mir entfernt und sah mich verdutzt an.
„Hä?!“
Seine Verständnislosigkeit machte mich nur noch wütender.
„Oder Herpes oder Sackratten, was weiß ich! Das musst du schon die Idioten auf meiner Schule fragen! Die scheinen nämlich ein ganz genaues Bild davon zu haben, welche Krankheiten du mit dir rumschleppst. Oh, und vergessen wir nicht, dass ich jetzt jedem für ein paar Scheine einen blase!!!“
Jetzt schien er zu verstehen. Seine Miene hellte auf.
„Diese kleinen Wixxer“, prustete er los.
Meine Schultern sackten ein, die Wut verflog schneller, als sie kam. Unwillkürlich zuckten meine Mundwinkel nach oben. Es tat gut, dass es raus war. Der ganze Druck verpuffte in Chris Lachen, während er ein zweites Bier nahm, den Deckel aufspringen ließ und es mir als Friedensangebot hinhielt. Geknickt schlurfte ich zurück und setzte mich auf den Fenstersims.
„Auf Sackratten“, sagte er und stieß seine Flasche gegen meine.
Ich lächelte schwach und spülte das Letzte bisschen Ärger mit dem herb-süßen Mixgetränk herunter. Was hängen blieb, war nur noch das bedrückende Gefühl der Machtlosigkeit.
„Hör mal, Lizzy“, begann Chris und zog den Reißverschluss meiner Jacke herunter, damit er sie mir über die Schultern streifen konnte. „Is doch nich so schlimm. Lass die doch einfach labern...“
Ich nickte halbherzig. Als ob ich das nicht längst tat. Vor Jahren hatten sie es schon einmal getan, allerdings versteckt und mitleidig. Es hatte mich auf eine andere Weise gekränkt als heute und war auch einfacher zu ignorieren gewesen.
„Wenn was Neues passiert, is das sowieso Schnee von gestern.“
Etwas Neues, hier in Wittelshain? Darauf könnte ich lange warten. Er sah mir an, dass seine Worte wenig Wirkung zeigten, und startete einen neuen Versuch.
„Und wenn's dir zu blöd wird, dann schwänz doch einfach.“
„Das ist nicht so leicht“, erwiderte ich und setzte das Bier wieder an.
Er grinste schief und hob den Flaschenboden in die Höhe, damit ich das Zeug in großen Zügen hinunterpumpen musste.
„Klar. Musst nur zur ersten Stunde da sein und dann kannste dich verpissen“, erklärte er, nahm mir die leere Flasche ab und stellte sie beiseite. „Kapier sowieso nich, warum du da noch hingehst.“
Die Schule schwänzen, soweit kam es noch. Als ob Jansen meine Abwesenheit nicht sofort bemerken würde. Ein guter Notenschnitt befreite einen noch lange nicht von der Schulpflicht. Leider. Obwohl es in Chris Fall egal zu sein schien.
„Musst du nicht eigentlich noch zur Schule?“, fragte ich, während ich versuchte, die rebellierende Kohlensäure in meinem Magen auszublenden.
Mit ihm auf der Ringgold wäre es wesentlich erträglicher. Wir könnten die anderen zusammen ignorieren und keiner würde es wagen, laut über uns herzuziehen. Dafür hätten die meisten wegen der wilden Spekulationen über Chris Vergangenheit zu große Angst.
„War zehn Jahre lang in dem Scheißladen“, raunte er, während seine Finger an meinem Kleidsaum spielten.
Er umfasste meine Hüfte und schob mich vor an die Kante vom Sims.
„Nach 'm Gesetz kann mich da keiner mehr reinstecken.“
Mit einem selbstgefälligen Ausdruck beugte er sich vor, drückte mir einen Kuss auf und fuhr mit der Zungenspitze meine Lippen entlang. Sofort meldete sich wieder die Hitze in meinem Bauch, die sich ihren Weg nach unten bahnte. Jeder weitere Kuss ließ den Frust in die Ferne rücken, ihn soweit abschwächen, dass er kaum mehr wahrnehmbar war. Da war nur Raum für Chris und seinen süßen Geschmack in meinem Mund.
Bis seine Hand mein Bein entlangglitt, gefährlich nahe am Stoffrand.
„Chris...“, seufzte ich und drückte ihn sacht von mir.
Er verzog das Gesicht in gespielter Enttäuschung.
„Zu billig? Oder willste erst 'n paar Scheine sehen?“
Ich boxte ihm gegen die Brust und er machte sich glucksend in den Nebenraum davon.
„Wehe, du holst jetzt Geld!“, rief ich ihm nach.
Als ob er für irgendetwas bezahlen würde. Bisher hatte er alle unsere Abgriffe einkassiert. Alles, was man zu Geld machen konnte, verwahrte er in einem sicheren Versteck unter Eisenmüll im Erdgeschoss. Nur das Knabberzeug und die Getränke teilte er brüderlich. Manchmal fragte ich mich, was er mit dem Geld wohl anstellte, dann dachte ich an Hauke und das verwahrloste Haus und sah ein, dass es mich nichts anging. Es wäre nur eine weitere traurige Geschichte, aus der ich mich heraushalten sollte.
Mit einem braunen Stoffteil unter dem Arm geklemmt, kam er wieder in die Halle geschlendert. Er schob ein paar rote Ziegelstücke und Dosen beiseite, breitete die Decke auf dem Betonboden aus und setzte sich darauf. Dann klopfte er auffordernd auf seine freie Seite. Unsicher rutschte ich vom Sims. Wann hatte er diesen Fetzen denn hier hergebracht?
„Wollten wir nicht eigentlich raus...?“
Er verdrehte die Augen.
„Jetzt komm schon, Lis. Ich beiß nich. Außer du stehst drauf“, fügte er mit einem Zwinkern hinzu.
Mit vorsichtigen Schritten trat ich zur Decke und setzte mich in Zeitlupenbewegung neben ihm. Eigentlich war es ganz gemütlich, etwas kratzig an den nackten Hautstellen, aber wesentlich besser als der kalte Stein am Hintern. Chris streckte genüsslich die Arme von sich und blickte zu mir auf.
„Und?“
„Und was?“, fragte ich zurück.
Ich fing an, nervös an meiner Nagelhaut zu zupfen. Im Augenwinkel konnte ich sein schiefes Grinsen sehen.
„Bist wirklich die unchilligste Person, die ich kenn. Wir können hier machen, was wir wollen, und du guckst, als ob die scheiß Welt untergeht.“
So wie es über uns auf das Blechdach hämmerte, hörte es sich tatsächlich an, als würde die Welt untergehen. Aber nicht hier drinnen. Hier saßen wir im trockenen, weit weg von all den dämlichen Leuten in Wittelshain und inmitten der leuchtenden Farbbilder, die mit aller Macht gegen das triste Grau des Tages kämpften. Chris hatte recht, es war eigentlich ganz schön. Ich sollte aufhören, mich zu verkrampfen, den Dreck von der Schule und dem Café hinter mir lassen und mich entspannen. Das beste Vorbild für ein unbeschwertes Dasein saß schließlich direkt neben mir.