Mit verdutztem Gesicht betrachteten mich sowohl meine Mutter als auch Gregor, der sich durch den Eingang an ihre Seite schob.
„Wen hast du denn erwartet, Mäuschen?“, fragte sie halb amüsiert.
Entkräftet schüttelte ich den Kopf, weil mir keine plausible Antwort einfielt. Damit wandten sich beide wieder ihrem Vorhaben zu, das offensichtlich darin bestand, schick auszugehen, denn meine Mutter hatte sich ein elegantes schwarzes Kleid übergeworfen und griff nach ihren verstaubten Stilettos aus der hintersten Ecke des Schuhregals.
„Wir sollten besser die Straße nach Ebersfelde nehmen“, bemerkte Gregor, der bereitwillig den Kleiderständer für Mamas Tasche und Jäckchen spielte. „Im Fahrensweg ist gerade die Hölle los. Bei Weigart wurde wohl eingebrochen.“
Mein Magen zog sich krampfhaft zusammen und das Hämmern im Kopf nahm ein unmenschliches Ausmaß an. Ich taumelte gegen die Wand. Die Garderobe und Gregor kippen zur Seite. Sofort kam meine Mutter in ihren Stilettos angesprungen und verhinderte gerade noch, dass ich auf den Boden sackte.
„Mel, was ist los?!“
Ich spürte eine Hand auf meiner Stirn, zart und herrlich kühl wie ein Eiswürfel.
„Mein Gott, du glühst ja“, hörte ich Mama sagen, und im nächsten Moment legte sie mir einen Arm um, um mich zurück ins Zimmer zu führen.
Der Weg zum Bett fühlte sich unwirklich weit an und die lila Tapete schaukelte auf und ab wie bei starkem Seegang. Ich spürte eine große Erleichterung in den Beinen, nachdem ich auf die Matratze sank. Keine Sekunde länger hätten sie meinen schlaffen Körper tragen können.
„Du bleibst jetzt erstmal im Bett und ruhst dich aus, Mäuschen“, wisperte meine Mutter und wickelte die Decken um mich. „Ich hole dir Schmerzmittel und einen Tee.“
„Tee hört sich gut an“, erwiderte ich schwach und versuchte mich an einem Lächeln, aber meine Lippen schienen der Anstrengung nicht gewachsen.
Ich sah ihr nach, wie sie in ihrem Abendkleid aus dem Zimmer eilte, von dem übermächtigen Impuls getrieben, sich um das eigene Kind zu kümmern. Dabei hätte ich es selbst getan, wäre ich dazu noch in der Lage gewesen. Wie sonst auch, wenn sich eine Erkältung oder Grippe anbahnte und ich damit alleine gelassen wurde.
Aus dem hinteren Teil der Wohnung hörte man den Wasserhahn rauschen, als Gregor an die offenstehende Tür trat. Sein Kopf neigte sich kurz zur Seite, um in Richtung Küche zu spähen. Meine Mutter wäre dort einige Minuten beschäftigt, daher machte er ungefragt einen Schritt ins Zimmer. Ich erwartete ein paar unterkühlte Genesungswünsche, stattdessen holte er etwas aus der Tasche seines ordentlichen Hemds hervor. Es war der abgerissene Teil einer Silberkette, der nun zwischen seinen Fingern baumelte. Ein Kälteschauer nach dem anderen packte mich und meine Atmung wurde merklich schneller.
„Die habe ich vor eurem Haus gefunden“, brummte er und ließ das Teil hin und herschwingen wie ein hypnotisierendes Pendel. „Gehört die dir?“
Ich kniff kurz die Augen zusammen, in denen sich Tränen sammelten. Wo blieb nur meine Mutter mit dem Tee?
„Nein“, presste ich heraus.
„Aha“, gab er zurück und steckte das Ding wieder ein, bevor er die Arme verschränkte und kritisch zu mir heruntersah.
Was zum Teufel wollte er noch? Konnte er mich nicht einfach in Ruhe lassen?
„Der kleine Martens hat bei Schraders nichts verloren“, sagte er unvermittelt. „Ich dachte, dass hätte ich deutlich gemacht.“
Einen Moment lang starrte ich ihn verwirrt an. Wie ein Häufchen Elend lag ich da, zitternd vor Kälte und Hitze, und er hatte nichts Besseres zu tun, als mit Chris anzufangen?
„Ich - weiß nicht -“
„Natürlich weiß du das“, fiel er mir hart ins Wort. „Der Parkplatz gehört zum Supermarktgelände. Deshalb wird der auch Videoüberwacht.“
Ich schluckte schwer, obwohl in meinem ausgetrockneten Mund nichts war, dass ich hätte herunterschlucken können. Die Videos von Schraders wurden also doch gespeichert. Ich erinnerte mich genau daran, wie Rita an dem Tag gesagt hatte, Gregor wäre nicht da. Er hatte sich die Aufnahmen womöglich zu einem späteren Zeitpunkt angesehen und Chris und mich auf dem Parkplatz entdeckt. Aber was hatte er noch gesehen? Seinem bohrenden Blick zu urteilen, genug.
„Mama?!“, rief ich mit verzweifelter Stimme.
„Bin gleich da“, schallte es aus der Küche.
Ich saß fest, zusammen mit einem Ladendetektiv, der eindeutig ein Auge auf mich geworfen hatte. Was würde ihn denn davon abhalten, die Polizei einzuschalten? Die Bilder, wie ich unter meinem Shirt gestohlene Batterien präsentierte, reichten locker als Beweis. Und die Reste der Kette? Konnte man dadurch den Einbruch auf mich zurückführen? Ich spürte, wie mir das Oberteil nass am Rücken klebte. Gregors Statur verschwamm vor meinen Augen, kehrte in Größe und Breite zurück wie die Konturen eines unheilvollen Riesen und wurden von Neuem unscharf. Plötzlich flatterte es Schwarz vor mir auf und in der zierlichen Hand meiner Mutter lag eine Tablette, die andere hielt eine dampfende Tasse. Erleichtert steckte ich mir die Medizin in den Mund, um sie mit dem Kamillentee herunterzuspülen. Danach sank ich wieder tiefer in das Kissen.
„Mein armer Schatz“, flüsterte Mama und strich mir über die heißglühende Wange, während Gregor wie ein Unbeteiligter neben der Kommode stand.
„Wir bleiben besser hier bis es Melli wieder gut geht“, sagte sie kurz darauf in aller Entschiedenheit.
Erschrocken fuhr ich hoch.
„Nein. Geht nur. Ihr habt euch doch sicher auf den Abend gefreut und die Tablette wirkt bestimmt auch gleich.“
Keinesfalls wollte ich, dass der Riese mit dem wachsamen Blick länger bleiben würde. Von meiner Mutter ungesehen erkannte ich, wie sich seine Augenbraue skeptisch hob. Ich müsste mehr Überzeugungsarbeit leisten.
„Wirklich, Mama, das ist kein Problem. Geht und macht euch einen schönen Abend. Morgen bin ich wieder fit. Versprochen.“
Ihre Stirn legte sich in Falten. Es war offensichtlich, dass ihr die Wahl zwischen der neuen Liebschaft und der leidenden Tochter nicht leicht fiel. Recht ironisch, wenn ich daran dachte, wie oft sie mich in letzter Zeit hintenangestellt hatte. Und gerade jetzt, wo sie mir diesen Schnüffler vom Leib halten sollte, meldeten sich ihre Mutterinstinkte? Einen schlechteren Zeitpunkt hätte es dafür nicht geben können. Doch endlich nickte sie einsichtig, küsste mich aufs Haar und verschwand zusammen mit Gregor aus der Wohnung.