Ich würde nie wieder glücklich werden. Das wusste ich, nachdem ich die Leere von Mahlers Haus betreten hatte, in der Sörens letzte Worte umhergeisterten wie ein bleiernes Echo. Auch als ich die AD/DC-Platte auflegte und den Rest des Tages wie gelähmt auf dem Teppich lag, um den Klänge von Angus Young zu lauschen, die alles erfüllten, nur nicht mich. Selbst am nächsten Tag in der Schule wusste ich es.
Die Aufregung um Mariell und Steffi, die heute verschollen blieben, wurde von der unbändigen Vorfreude auf die näherrückenden Ferien überlagert. Während die anderen noch einmal richtig aufdrehten, kauerte ich am Fensterplatz, packte mein bedeutungsloses Zeugnis ein und starrte ins Nichts. Wäre das Trio von gestern heute nochmals aufgetaucht, hätte ich mich sicher nicht gegen sie gewehrt. Selbst wenn sie mich in der Luft zerrissen hätten. Aber keiner der Jungen erschien und so akzeptierte ich die niederschmetternde Gewissheit, auf sechs einsame, trostlose Wochen zuzusteuern.
Mein Blick schweifte über die Klasse, betrachtete all die ausgelassenen Mitschüler, die das Ende des Tages nicht abwarten konnten und untereinander mit den Ferienplänen angaben. Ich sah Lena-Marie, die flüchtig in meine Richtung spähte, und fragte mich, ob sie wie jedes Jahr mit den Eltern an die Ostsee fahren würde. Die Vorstellung, wie sie in ihrem blauen Badeanzug am Strand ein Eis aß, so vollkommen zufrieden mit sich und der Welt, beruhigte mich. Vielleicht würde sie ja ein nettes Mädchen kennenlernen, eine, die ebenfalls wenig für Jungen übrig hatte und mit der sie schüchtern händchenhaltend über die Promenade schlendern konnte.
Neben mir summte leise das Handy auf. Das war sicher wieder Chris. Ich hätte ihn längst blockieren oder seine Nummer löschen sollen. Wie seltsam, dass ich nie zuvor daran gedacht hatte. Es wäre ein endgültiger Schlussstrich. Ich zückte das Handy und wollte gerade den Chat öffnen, als ich Lena-Maries Nachricht aufblinken sah. Im Unterricht herumzutippen war eigentlich nicht ihre Art.
„Wie sieht es bei dir aus?“, stand im Display und ließ sofort erahnen, was sie meinte.
„Habe noch nicht nachgesehen“, tippte ich zurück.
Es dauerte einige Minuten, bis eine neue Nachricht erschien.
„Ich vermisse dich... Also als Freundin.“
Ich hob den Kopf und erkannte, wie sie mir einen wehmütigen Blick über die Schulter zuwarf. „Ich dich auch“ formten meine Lippen lautlos und sandten ein ebenso trauriges Lächeln zurück. Es war nicht gelogen, ich vermisste das kleine Lenchen wirklich. Sie war die Einzige gewesen, die immer bei mir geblieben war, in all den Jahren, in denen ich mich mit To-Do-Listen und Kalendereinträgen zugeschüttet hatte. Sie hatte alles erduldet, meine Absagen, mein Schweigen, und es verziehen. Was war ich nur für eine dumme Kuh, so einen liebevollen Menschen aus meinem Leben geworfen zu haben.
Unser Augenkontakt bracht ab, als Zeynep sie anstupste, um ihr Fotos aus der Türkei zu zeigen. Es war besser so. Lena-Marie würde mich ohnehin nicht zurückhaben wollen, wenn sie wüsste, was ich schon alles getan hatte. Ich sollte das bittere Los, das vorsah, alleine zu bleiben, endlich annehmen. So würde ich wenigstens keinen weiteren Schaden anrichten.
„Frau Schuter!“, drang Matteos Stimme durch das rege Gequatsche. „Gehört der Fiat da nicht Ihnen?“
Mein Blick folgte seinem Zeigefinger, der auf den Parkplatz unter uns deutete. Doch sofort sank ich ein Stück tiefer in den Stuhl, als ich erkannte, wer sich da auf dem Fiat breitgemacht hatte. Das eine Bein lässig an der Windschutzscheibe herunterbaumelnd, lag Chris mit dem Rücken auf dem rotglänzenden Autodach und ließ sich die Sonne ins Gesicht scheinen.
„Das kann doch nicht wahr sein“, murmelte Frau Schuter und öffnete das Fenster.
Sofort drangen die lauten Beats der Technomusik ins Zimmer, was die Aufmerksamkeit aller erregte und sie wie eine aufgescheuchte Schafherde zur Scheibenfront trieb.
„Ey, Mahler, ist das nicht dein Freund?!“, blökte einer und die anderen Schafe lachten laut mit.
Am liebsten hätte ich mich unter dem Tisch verkrochen, konnte die Augen aber nicht vom Parkplatz lösen. Ich sah Jansen mit gestrafften Schultern geradewegs auf den Fiat zukommen. An der Seite des Wagens stemmte er die Arme in die Hüfte und redete auf Chris ein. Der schenkte ihm allerdings kaum Beachtung. Nachdem auch ein drohender Finger nicht den gewünschten Effekt zeigte, machte er einen folgenschweren Fehler: Er versuchte, ihn herunterzuziehen. Chris sprang auf. Die Musik verstummte. Gespannt warteten die Köpfe an den Fenstern, was als Nächstes passierte. Mit beiden Beinen stand er nun fest auf dem Dach und sah herausfordernd auf Jansen herunter. Dann begann er zu auf und ab zu springen.
„Mein Gott, mein Auto!“, rief Frau Schuter entsetzt, bevor sie das Gesicht in den Händen verbarg, um das Unglück nicht mitansehen zu müssen.
Unter Anfeuerungsrufen und schockiertem Gekreische hielten einige ihre Handykameras auf das Geschehen. Aus den Nebenzimmern grölte es lautstark mit. Die komplette Schülerschaft schien das Spektakel zu verfolgen, sah dabei zu, wie Jansen das Auto umkreiste, um Chris Füße zu packen. Aber der war schneller, rutschte auf der anderen Seite herunter und zeigte ihm frech den Mittelfinger.
Jansen war außer sich. Eine Verfolgungsjagd begann, die nicht witziger hätte aussehen können. Während er wutentbrannt hinter Chris herrannte, machte der sich einen Spaß daraus, ihn bis aufs Äußerste zu reizen. Immer kurz bevor der Lehrer ihn erwischte, schlug er einen Haken und ließ ihn ins Leere greifen. Wie ein Hase flitzte er dabei von einer Stelle zur nächsten, wobei der unsportliche Jansen regelmäßig ins Stolpern geriet. Das Lachen der Zuschauer lärmte über ihn hinweg. Nach einigen Minuten des Abmühens stemmte er die Hände in die Oberschenkel, mit hochrotem Kopf und dem Hemd voller Schweißflecken. Chris erkannte, dass das Spiel vorbei war, winkte enttäuscht ab und machte sich in aller Ruhe davon. Ihm folgte tosender Applaus.
Entnervt schüttelte ich den Kopf. Gestern noch hatte ich es geschafft, eine ganze Klasse aufzumischen. Aber ein Christian Martens musste natürlich einen draufsetzen.
Wieder summte mein Handy. Er hätte nicht wirklich die Nerven, sich nach dieser Aktion bei mir zu melden? Aber es war Lena-Marie, die ihre ganze Fassungslosigkeit in einen einzigen Satz packte: „Du bist nicht wirklich mit dem Zusammen, oder?“
Energisch schulterte ich meinen Rucksack, tippte ein schlichtes „Nein“ und bahnte mir einen Weg zum Lehrerpult, an dem die arme Frau Schuter mit letzter Kraft versuchte, den Aufruhr unter Kontrolle zu bekommen. Mit einem schwachen Nicken stellte sie mich frei und sank entkräftet auf ihren Stuhl. Den Kampf um die wiedereinkehrende Ruhe würde sie heute nicht mehr gewinnen.