Als sich die Türen wieder hinter mir schlossen, schien die Welt davor eine andere zu sein. Sie war größer und aufregender geworden, wie ein überdimensionaler Spielplatz, auf dem die Durchtriebensten den Takt vorgaben. Nun ich war eine davon. Ein anderer lehnte im Sonnenschein an einem geparkten Auto, gedankenverloren und gleichzeitig unbekümmert. Bei meinem Anblick legte sich das schönste Lächeln der Welt auf sein Gesicht. Das gehörte nur mir, dachte ich. Es mochte 'Schön, dass du wieder da bist' oder 'Ich wusste, du schaffst es' bedeuten, vielleicht sogar beides, aber wichtiger war die Tatsache, dass er es mir ganz bewusst schenkte, nicht über dem Handydisplay versteckt in einer Menschenmasse.
Als ich vor ihm stand, zog er mich am Shirt heran.
„Und, was haste?“
Siegreich fummelte ich die Batterien aus den Taschen. Dann hob ich das Oberteil an für meinen großen Auftritt. Darunter präsentierten sich weitere vier Packungen zwischen Jeansbund und Haut.
„Oh Lizzy Lis.“ Er sang meinen Namen beinahe vor lauter Begeisterung. „Was biste nur für'n gerissenes Miststück.“
Überschwänglich drückte er mir einen Kuss auf, zupfte die Plastikdinger aus dem Bund und ließ sie in seiner Hose verschwinden. Ein weiterer Kuss folgte, länger und intensiver. Seine warme Hand umfasste hart meinem Nacken, dass es beinahe wehtat, mir aber einen Schauer nach dem anderen über den Rücken jagte. Hier, inmitten des Parkplatzes und als würde es nur noch uns beide geben, pressten wir die Lippen aufeinander, vergruben die Finger in den Haaren des anderen, verringerten den Abstand unserer Körper bis keine 1-Euro-Münze mehr dazwischen passte. Ich war angekommen. Genau in diesem Moment, der so prickelnd und überwältigend war, fühlte ich den Herzschlag der Gegenwart und wusste, dass ich nun endlich ein Teil davon war. Und sie ließ mich Chris Nähe spüren, würde dafür sorgen, dass er für immer blieb. Nichts und niemand würde mir das nehmen können.
Auf einmal war sein Atem verschwunden. So plötzlich, dass ich zunächst nicht begriff, dass seine Aufmerksamkeit etwas anderem galt.
„Was gibt’s 'n da zu glotzen?“
Mein Kopf schnellte um. Hätte der Wind günstiger gelegen, hätte ich das aufdringliche Parfüm sofort gerochen. Doch so stand Frau Weigart mit der leise vor sich hinröchelnden Molli an der Leine einfach nur perplex da und gaffte uns an. Dabei wirkte sie wie eine unförmige Nana-Figur mit hochtoupierter Frisur. Ihre Augen verarbeiteten die Szene, die sich ihr da bot, in allen Einzelheiten und je länger sie starrte, desto bleicher wurde ich. Allmählich rückte ich von Chris ab.
Dann fasste sie sich und schüttelte enttäuscht den Haarturm.
„Aber Melissa, sowas hast du doch nicht nötig“, sagte sie kurz angebunden und machte sich auf in den Laden.
Chris legte den Kopf schief und beobachtete, wie sie mit Molli im Schlepptau hinter den Glastüren verschwand. Seine Miene wirkte dabei so ausdruckslos, dass es unmöglich war zu ahnen, was in ihm vorging..
„Das meinte sie nicht so“, flüsterte ich vorsichtshalber, und erst jetzt verzog sich sein Gesicht amüsiert.
„Glaubst, das juckt mich, was so 'ne fette Kuh von sich gibt?“
Erleichtert lächelte ich in mich hinein. Natürlich interessierte er sich nicht für ihre Meinung, dafür war er zu selbstbewusst. Und was machte es schon, wenn Frau Weigart uns gesehen hatte? Sollte sie doch sonst was denken. Schließlich hatte ich nicht allzu viel mit ihr zu tun und wenn sie dadurch weniger mit mir redete, wäre das nur gut für meine Ohren. Meine Hochstimmung jedenfalls würde ich mir durch sie nicht vermiesen lassen. Und Chris auch nicht.
Während wir uns über den Parkplatz in die Richtung davon machten, aus der wir gekommen waren, summte ich leise vor mich hin. Wäre es nach mir gegangen, hätten wir gleich weitermachen können. Gedanklich listete ich schon alle Läden der Umgebung und deren Sortiment auf. Chips, Cola, Bonbons, Schuhe, von mir aus auch Kulis, ich könnte alles haben. Ob ich es brauchte, war vollkommen egal.
„Mann, Lis, du hast was abgegriffen“, befeuerte Chris meine Ausgelassenheit und boxte mir freundschaftlich gegen den Oberarm. „Wie hat sich's angefühlt?“
Ich dachte kurz darüber nach. Es war etwas ganz anderes als nur für Ablenkung zu sorgen. Die Aufregung, während man die Sachen einsteckte, war atemberaubend. Der Kopf lief auf Hochtouren, alles schien wie aufgeladen und man nahm jeden noch so kleinen Reiz wahr, die Gerüche, Geräusche und Bewegungen. Doch am gewaltigsten war der Moment, in dem man den Gegenstand berührte, ihn über die kribbelnden Fingerspitzen in die Hand wandern ließ. Das Wissen, man könnte erwischt werden, pulsierte durch die Adern und versetzte den Verstand in einen intensiven Rausch.
Ich verkniff mir meine Begeisterung und zuckte mit den Schultern.
„War ganz ok“, antwortete ich abgeklärt.
„Laber nich, dir hat's voll gefallen. Bist mit 'nem fetten Grinsen da raus gekommen.“
„Ja, ok, war schon cool“, gab ich lächelnd zu. „Auch wenn es nur Batterien waren.“
Ich hoffte auf Widerworte, darauf, dass er mir sagen würde, wie viel ihm meine Geste bedeutete, aber nichts davon kam.
„Was war das Erste, das du abgegriffen hast?“, fragte ich, um die kleine Enttäuschung beiseitezuschieben.
Er dachte nach. Es musste schon etwas länger in der Vergangenheit liegen.
„Kennste die Legoautos zum Zusammenbauen? Da gab's mal diesen geilen Ferrari Enzo. Den hab ich mir geschnappt.“
Damit hatte ich nicht gerechnet. Eher mit einem geklauten Bier, weil man einem unfreundlichen Verkäufer eins auswischen oder die Freunde beeindrucken wollte. Aber ein Spielzeug?
„Wie alt warst du denn da?“
„Weiß nich, sieben oder acht. Hab den in 'nen Kinderwagen von so 'ner Mutti gelegt und als die draußen war, hab ich der irgendeinen Scheiß erzählt, ich wär der Sohn vom Ladenbesitzer oder so und die hätt was im Wagen rausgeschmuggelt. War voll fertig, die Alte. Meinte dann, ich brings einfach zurück, ohne Probleme und so. Und die Dumme hat's mir dann wirklich gegeben.“
Ich fragte mich, ob er die Wahrheit sagte. Zumal das für einen Siebenjährigen ganz schön gewieft war. Straßenschläue nannte man das wohl.
„Und deiner Mutter? Ist ihr das gar nicht aufgefallen?“
Er schnaubte abfällig.
„Die hat sowieso nie was gecheckt.“
Damit war die Grenze des Persönlichen erreicht. Ich erkannte es sofort daran, wie er die Nase kurz kraus zog. Sobald er das tat, sollte man das Thema besser wechseln.
„Jetzt können wir das Doppelte mitgehen lassen“, sagte ich schnell. „Ist doch toll?“
Er streckte die Arme nach oben und verschränkte sie gähnend hinter dem Kopf.
„Jopp. War schon mal 'n guter Anfang für'n Montag.“
Montag? Es war Montag! Vor lauter Frust am Morgen und Hochgefühl am Nachmittag hatte ich eine Sache komplett vergessen. Hektisch sah ich auf meine Armbanduhr. Es war kurz nach Vier und wenn ich mich beeilte, würde ich noch rechtzeitig ankommen. Aber irgendetwas an dieser Überlegung schien nicht richtig zu sein.
„Wir haben doch 15:55 Uhr?“
Er schielte auf meine Uhr und sah mich belustigt an.
„Die läuft jetzt richtig, weißte nich mehr?“
Natürlich, er hatte sie selbst vor wenigen Wochen umgestellt. Soviel zu den Vorzügen der Gegenwart.
„Mist!“, zischte ich, machte kehrt und rief Chris beim Davonrennen noch zu, dass ich mich melden würde.