Die Bemerkung kam vollkommen nüchtern daher, als ob er über das Wetter redete. Vor Schreck hätte ich beinahe das Handy fallen lassen.
„W-was?!“
Jetzt grinste er. Mich aus der Fassung zu bringen, gefiel ihm sichtlich. Es war ein Scherz, nichts weiter. Das Ganze fand er wohl auch noch witzig.
„Ich würd dich gern mal vögeln.“
Bitte nicht dieses Wort!
Erwartungsvoll sah er mich an.
„Wie sieht's aus?“
Ich brauchte einige Sekunden, um meine Sprache wiederzufinden.
„Fragst du das jede vorher?“
In der Art und Weise, wie er mich berührt hatte, musste ich zwar davon ausgehen, dass er bereits einige Freundinnen vor mir gehabt hatte, trotzdem hoffte ich wohl auf einen kleinen Protest, der klarstellte, dass es auch für ihn etwas Neues wäre.
„Nee.“
Natürlich nicht. Christian Martens war keiner, der lange auf etwas warten würde. Aber normalerweise auch keiner, der um Erlaubnis bat.
„Und warum fragst du dann mich?“
Er zuckte mit den Schultern. „Einfach so.“
Nein, damit würde ich ihn nicht davonkommen lassen. Wenn er so dreist war, es mir in einer halbzerfallenen Fabrik zu besorgen, konnte ich es auch sein, um ihn aus der Reserve zu locken. Ich stellte mich demonstrativ vor ihn und nahm ihm das Bier aus der Hand. Er ließ es zu, in der Annahme, ich würde ihm antworten.
„Sag erst, warum du fragst.“
Seine dunklen Augen fixieren mich nachdenklich. Dann steckte er sich eine Zigarette an.
„Weiß nich“, sagte er und zündete sie sich an. „Wirkst nich wie 'ne Schlampe.“
Ein etwas verhaltener Ton für seine sonst so selbstgefällige Art. Er hatte es also tatsächlich Ernst gemeint. Mehr noch, wie er sich an der glimmenden Stange festhielt und die Nase kurz krauszog, erkannte ich, dass die Anfrage ihn mehr in Verlegenheit brachte, als er durchscheinen lassen wollte. Das schmälerte mein eigenes Schamgefühl deutlich.
Ich nahm einen Schluck aus seiner Flasche und gab sie ihm zurück.
„Und du wirkst nicht wie ein Arschloch.“
Er gluckste und ich lehnte mich neben ihm gegen die Mauer. Hinter uns trommelte der Regen gleichmäßig gegen das Fensterglas und füllte die Halle in ihrem eigenen Rhythmus. Das Licht war um einiges schwächer geworden. Nicht mehr lange und wir müssten uns mit den Handys einen Weg durch die dunkle Fabrik leuchten.
„Wir sollten gehen“, sagte ich und warf mir die Jacke über.
Mit einem leisen Murren trat Chris die Zigarette aus und blies den letzten Zug gegen die gläsernen Quadrate.
Gedanklich war ich bereits damit beschäftigt, welche Erklärung ich meiner Mutter für meine lange Abwesenheit bieten sollte. Womöglich würde die Tatsache, mich wohlbehalten durch die Haustür gehen zu sehen, schon ausreichen, um keine weiteren Fragen zu stellen. Aber darauf verlassen konnte ich mich nicht.
Als ich meine Tasche schulterte, hatte sich Chris noch immer nicht für den Rückweg bereit gemacht. Er stand einfach da und starrte in den Wald, dessen Umrisse immer mehr von der Nacht verschluckt wurden.
„Willst du nicht gehen?“, fragte ich. „Ist schon ziemlich dunkel...“
Ein Funkeln machte sich in seinen Augen breit. Unerwartet nahm er mich bei der Hand und führte mich zurück zur Decke. Für einen herrlichen Moment waren unsere Finger ineinander verschränkt, so wie ich es mir vorhin gewünscht hatte, aber schon entglitten sie mir wieder.
„Ich zeig dir mal was“, sagte er aufgeregt und sprintete davon.
„Chris, ich... ich muss wirklich langsam nach Hause.“
„'N paar Minuten wirst wohl noch haben!“, rief er aus dem Nebenraum.
Seufzend sah ich auf das Handy. Viel länger würde meine Mutter ohne eine Nachricht von mir nicht mehr warten. Bei der Vorstellung, wie sie mit Gregor zusammen das Dorf nach mir absuchte, überkam mich eine Gänsehaut. Womöglich aber hatte sie auch nur angerufen, um mich zu einem weiteren furchtbaren Spieleabend nach Hause zu beordern. In dem Fall könnte ich mich glücklich schätzen, wenn ich erst später dort aufschlug.
Es schepperte laut. Was zum Henker machte Chris da hinten? Schon kam er zurück, überladen mit zwei Campinglampen und einer länglichen Tischlampe, um die eine LED-Kette gewickelt und an mehreren Stellen mit Klebeband befestigt war. Woher hatte er das Zeug? Und wann hatte er die Zeit gehabt, es herzutragen? Wie so oft realisierte ich, dass ich keine Ahnung hatte, was er außerhalb unserer Treffen tat, geschweige denn wo er sich herumtrieb. Schlug er womöglich in der Fabrik die Zeit tot, alleine und verlassen, wie ich in der Schule?
Vergnügt verteilte er die Leuchten in einem großen Kreis um die Decke und setzte sich mir gegenüber.
„Na?“, sagte er mit einem Ausdruck, als müsste ich seine Begeisterung teilen. „Is doch geil, oder?“
Skeptisch betrachtete ich die lichtlosen Dinger.
„Und wie soll das funktionieren? Hier gibt es doch gar kein Strom.“
Er holte eine kleine Fernbedienung hervor und grinste breit.
„Brauchs auch nich“, antwortete er, und mit einem Knopfdruck leuchteten die Lampen auf und warfen ihr Licht über den Boden und die Luft. Batteriebetrieben. Ich schüttelte lächelnd den Kopf. Dafür also hatte er die Batterien aus Schraders klauen wollen. Womöglich war ihm das alte Gemäuer schon kurz nach seiner Ankunft in Wittelshain aufgefallen und hatte diesen Plan ins Leben gerufen. Und nun saßen wir inmitten einer kleinen Höhle aus weißem und gelbem Licht, während die Halle um uns herum noch dunkler wurde. Allein Chris Augen schien mit den Lampen um die Wette strahlen zu wollen.
„Voll cool, oder?“
Meine Finger fuhren über die Plastikeinfassung der Campinglampe. Dabei krochen ihre langen Schatten bedrohlich über den Betonboden.
„Jaaa... aber was willst du denn damit? Ich meine, willst du hier über Nacht bleiben, oder was?“
Er zuckte mit den Schultern. Ich wusste, was das bedeutete. Nach Hause zu gehen schien für ihn keine Option mehr zu sein. Auf meinem Handy tippte ich ein kurzes 'Bin noch unterwegs, komme später Heim' an meine Mutter und legte es beiseite.
Das hier würde länger dauern. Aber unter keinen Umständen würde ich ihn über Nacht hier sitzen lassen.