„Wenigstens warste nich so blöd und hast es weggeschmissen“, bemerkte Chris, während ich darum kämpfte, die Reifen durch Gestrüpp und über Wurzeln zu bekommen.
Innerhalb einer Woche war das Grün im Wald explodiert wie Farbbomben. Über uns lag ein Meer aus hellgrünen Blättern, darunter ein bunter Teppich aus verschiedenen Gewächsen, die allesamt ihre Hälse zum Himmel streckten. Große und kleine Pollenbälle tanzten in Zeitlupe an uns vorbei. Einige verfingen sich in Chris Haar, während er munter weiterredete:
„Wenn man 'n Abgriff fallen lässt, is das wie'n Eingeständnis. Is immer besser, es durchzuziehen. Im Notfall kann man alles abstreiten, darf dir nämlich keiner einfach so in die Tasche greifen.“
Ich nickte und zerrte das Rad durch einen Wildwuchs an blau blühenden Glöckchen, die unter dem Gewicht ihre Köpfe sinken ließen.
„Was ist mit der Polizei?“, fragte ich.
„Bei Bullen lautet die Regel immer abhauen“, erklärte er. „Wenn's nich geht und du kannst dein Zeug irgendwo ablegen, so das sie's nich sehen, gut, aber in der Regel klappt das nie.“
„Haben die dich mal erwischt?“
Er zuckte desinteressiert mit den Achseln.
„War meistens schneller.“
Ich fragte mich, wie oft er bereits von der Polizei aufgegriffen wurde und ob nur wegen Ladendiebstahls oder auch anderer Dinge. Die Vorstellung, dass er in Berlin weitaus Schlimmeres getan hatte, war inmitten dieses herrlichen Frühjahrsgrün kaum möglich.
Die rote Fassade der Fabrik blitzte leicht durch das dichter werdende Blätterdach. Im Sommer würde sie sich komplett dahinter verbergen, wie ein Geheimnis, dass nur Chris und ich kannten. Auch der Anblick des alten Gebäudes kam einem in diesen neuen Farben weit weniger befremdlich vor. Wie die blühenden Ranken sich an die Ziegel schmiegten und sich der zarte Blumenteppich über Schutt und Glasscherben legte, wirkte es beinahe so, als wäre es zu einen untrennbaren Teil des Waldes geworden.
Abgekämpft schmiss ich das Rad vor die Absperrung. Durch die Gitter würde ich es nicht hindurchbekommen, und wozu auch, ich wollte keines von Mariells Sachen in der Fabrik haben. Dort wäre es genauso fehl am Platz wie hier, denn die rote Lackierung und das neuwertige Sattelleder stachen wie ein Fremdkörper aus dem Gras. Ich ließ mich seufzend daneben sinken, während Chris hinter der Absperrung verschwand. Mir fehlte die Kraft zu fragen, wohin er ging. Das blöde Ding hatte mir alles abverlangt, mein Hals schrie nach Wasser und meine Arme waren bleischwer vom Heben und Drücken. Das Rad selbst lag in seiner glänzenden Vollkommenheit da, als wartete es nur darauf, dass sein neuer Besitzer den nächsten Schritt tat. Nachdenklich fuhr ich über die Reflektoren an den Speichen und das kühle Aluminium. Auf dem Unterrohr zog sich ein Schriftzug in weißem Blumenmuster bis hoch zum Lenker: Riding on way of love. Der unschuldig wirkende Aufkleber machte mich zornig. Wie konnte eine Plage wie Mariell, der es Spaß bereitete, andere zu drangsalieren und zu demütigen, nur mit so einem scheinheiligen Spruch durch die Gegend fahren? Mit neuer Energie sprang ich auf und rammte meinen Schuh in die Speichen, bis sie aus den Felgen brachen. Neben mir erschien Chris, in der einen Hand zwei Mixbier, in der andere die Eisenstange, mit der er das Gitter vor Wochen aufgebrochen hatte. Er reichte mir eine der Flaschen, die ich sofort griff und ansetzte. Ob Alkohol oder nicht, ich brauchte dringend etwas zu trinken. Die Kohlensäure stieg mir kribbelnd in die Nase, während ich die halbe Flasche leerte.
„Sauber“, sagte er anerkennend, stelle sein Bier ab und hielt mir die Stange hin.
„Was soll ich damit?“
Er grinste schief.
„Was denkste denn?“
Unsicher betrachtet ich das Eisen bis er hinter mich trat und es mir in die Hand legte. Seine warmen Finger umschlossen meine.
„Du musst es unten fassen, mit beiden Händen“, raunte er in mein Ohr.
Er stand sehr viel dichter als vor Wochen beim Steinwurf. Ich spürte, wie sein Jeansknopf gegen meinen Hintern drückte, und musste mir auf die Lippen beißen, um den aufkommenden Schauer zu ignorieren. Seine andere Hand strich meinen freien Arm entlang, führte auch diese Finger an das Eisen, sodass er mich komplett umschloss. Ich versuchte, jedes Detail dieses großartigen Moments zu verinnerlichen, denn ich hatte gelernt, wie vergänglich sie mit ihm waren. Eben noch packte er einen für einen aufregenden Kuss, der mehr versprach, und Sekunden später wandte er sich ab und ließ tagelang nichts von sich hören. Er war wie ein scheues Tier, wild und hinreißend. Bewegungslos lauschte ich ihm und hoffte, er würde das Fahrrad vergessen und mich küssen.
„...kann sonst verdammt wehtun“, beendete er seine Ausführungen.
Dann war es vorbei. Er löste sich von mir, nahm seine Flasche und lehnte gegen einen nahen Baum, um zu sehen, was ich gelernt hatte.
Ich atmete tief ein, schüttete meine Aufregung mit einem weiteren großzügigen Schluck Bier herunter und ließ die Stange einige Mal durch die Luft sausen, um mir ihrer Schwere bewusst zu werden. Beim nächsten Ausholen sammelte ich alles, was ich hatte. Der Vorderteil krachte auf das Aluminumrohr, die Energie des Aufpralls schoss durch das Eisen und riss es mir aus den Händen.
„Scheiße!“, brüllte ich und rieb mir die schmerzenden Finger.
Chris lachte laut auf.
„Hab doch gesagt, nich auf'n Rahmen. Den kriegst du nich kaputt.“
Ich blinzelte die Tränen weg und hob zornig die Stange wieder auf. Dieses blöde, scheinheilige Kackrad! Mariells blödes, scheinheiliges Kackrad! Unkontrolliert donnerte ich sie auf das Vorderlicht. Es brach und wurde wegkatapultiert.
„Sehr gut!“, hörte ich Chris hinter mir jubeln, aber ich war bereits komplett in Rage verfallen, sodass ich ihn kaum mehr wahrnahm.
Ungehalten zerstörte ich das Schutzblech und die Klingel, riss die Reflektoren ab und verbog die Felgen. Die Schmerzen in meinen Fingern traten in den Hintergrund. Wieder und wieder ließ ich die Stange auf das Rad krachen. Für jedes Spuckbällchen, jeden Stoß und jedes gehässige Wort, mit dem Mariell andere gequält hatte. Sie würde ihr Fahrrad in Fetzen zurückbekommen. Damit sie wissen würde, dass es da jemanden gab, dem es nicht egal war.
Nach einer gefühlten Ewigkeit ging ich atemlos in die Knie. Ich leerte das Bier, von dem ich bereits etwas merkte und betrachtete mein Werk aus zerbeulten, abgerissenen Radteilen. Chris hockte sich neben mich, während ich meinen Kopf auf das Gras sinken ließ. Die Genugtuung, die mich überkam, spülte all den Zorn, all die Frustration mit einem Mal fort.
Er strich über den zerkratzen Rahmen und runzelte die Stirn.
„Hast da echt 'n Riss reingekriegt“, sagte er bewundernd.
Erschöpft schloss ich die Augen. Die plötzliche Stille, die sich um mich legte, lullte mich ein. Ich spürte Chris Finger an meiner Stirn, wie sie eine Strähne wegwischte.
„Nich einschlafen. Wir haben noch viel vor, Lizzy Lis.“
Seine Lippen legten sich auf meine, warteten auf Erwiderung, die schnell kam, und drängten mich sie zu öffnen, damit er seine Zunge gegen meine pressen konnte. Es war meine Belohnung, die ich in vollen Zügen auskostete. Wenn er gewollt hätte, hätte er in diesem Augenblick alles von mir bekommen. Wir haben noch viel vor, Lizzy Lis.