Eine ganze Weile über saß ich in meinem selbst geschaffenen Chaos und ließ allen Gefühlen ihren Lauf. Wie in einem unbändigen Sturm wurden die Gedanken hochgerissen, im Zorn von einer Seite zur anderen geschleudert, kämpften sich durch einen Tränenregen und sanken in Gleichgültigkeit zurück auf den Boden, damit sie wenig später von einer neuen Böe gepackt wurden. Ein sich ständig wiederholender Kreislauf aus Wut, Verzweiflung und Apathie.
Bei der Absage der Ferns würden es nicht bleiben, da machte ich mir nichts vor. Auch die anderen zwei Kinder, die ich betreute, würden keinen Schritt mehr in dieses Haus setzen. Dafür würden ihre Eltern schon sorgen. Das alles hatte bereits die Ausmaße einer Naturgewalt angenommen, ausgelöst von nur einem unachtsamen Moment auf dem Supermarktparkplatz. Wie eine Lawine war das Bild, wie ich Christian Martens geküsst hatte, über Wittelshain gerollt und sorgte dafür, dass ich meine Anstellung im Café und die Einnahmen als Nachhilfelehrerin verlor. Und keiner der Bewohner schien bereit, sich dagegen stemmen zu wollen. Alle ließen sie sich mitreißen. Meine Bemühung beim Frühlingsfest, die dafür gesorgt hatte, dass ihnen nicht die Habseligkeiten aus den Taschen gezogen wurden, kam mir jetzt unglaublich lächerlich vor.
Chris hatte wiedermal recht behalten: Die Welt bestand nur aus Arschlöchern. Und ich war die Idiotin gewesen, die das nicht hatte wahrhaben wollen, die sich weiterhin mit allen gut stellen wollte. Aber damit war jetzt Schluss!
Entschlossen warf ich die Zeugnisschnipsel, die Glassplitter und Zeitungsartikel in einen großen Sack. Die kleinen Trophäen und Medaillen des Turnvereins folgten ihnen. Dann war der Kleiderschrank dran. Ich riss alle bunten und blumigen Kleidchen von der Stange, damit auch diese verschwanden. Nachdem ich den überquellenden Müllbeutel zugezogen hatte, wirkte der Schrank wie leergefegt und hinterließ eine erlösende Genugtuung in mir. Mein altes Leben würde mir nicht länger im Weg stehen, endlich könnte ich es mit dem Füllen, das einer Lizzy Lis mehr entsprach. Massig Zeit dafür hätte ich ja jetzt. Vielleicht könnte ich sofort los, wer hinderte mich schon daran? Die dreckige Wäsche im Wohnzimmer oder das schmutzige Geschirr in der Küche bestimmt nicht.
Ich packte mein Handy, um den Busplan nach Mügge zu googeln. Meine Mundwinkel zuckten kurz nach oben. Im Müggener Zentrum tatsächlich mal etwas kaufen zu wollen, fühlte sich merkwürdig an. Aber wenn ich schon dort wäre, könnte ich genauso gut eine Kleinigkeit mitgehen lassen, ganz nach Lis Manier.
Plötzlich wurde der digitale Fahrplan von einer eingehenden Nachricht überdeckt. Ich vermutete schon, es wäre einer der Eltern, die zu feige waren, direkt mit mir zu sprechen. Aber es erschien ein schlichtes Ausrufezeichen. Chris. Die einzige Person, die sich nichts aus der Lawine machte. Er war nicht hinterhältig und kleinkariert wie der Rest des Dorfs, bei ihm konnte ich immer sein, was und wer ich wollte. Auf seine Art zeigte er mir jedes Mal, wie dankbar er über meine Hilfe war und wie sehr er mich mochte. Wenn ich es mir recht überlegte, mochte er mich sogar so gerne, dass er mit mir schlafen wollte. Ich spürte, wie mein Herz wieder zu schlagen begann. Chris und ich gehörten zusammen, egal was die anderen darüber dachten. Was interessierte uns schon das Gerede, wenn wir einander hatten, uns gegenseitig halt geben konnten?
Ich atmete tief ein, um mich auf die alles entscheidende Antwort vorzubereiten.
'Ja' tippte ich in den Chat und schickte es ab.
Ein Fragezeichen kam zurück.
'Zu deiner Frage gestern'.
Die Reaktion kam nicht sofort. Ich starrte sicher ganze drei Minuten auf das Display, während mir mein Herz davonzuflattern drohte. Hätte ich es ihm persönlich sagen sollen? Ich schüttelte den Kopf. Das würde ich mich nicht trauen, ohne unsinniges Zeug zusammen zu stottern. Ich wüsste nicht mal, wie ich anfangen sollte...
Endlich leuchtete das Display auf.
'Nice'.
Verdutzt starrte ich jeden einzelnen Buchstaben an, als würde sich ihr Sinn dadurch ändern. N-I-C-E. Das war seine Antwort? Irgendwie hatte ich mir mehr erhofft. Aber was eigentlich genau?
Vielleicht maß ich dem Ganzen auch einfach zu viel Bedeutung bei. Bei den trockenen Aufklärungsversuchen im Unterricht, über die sich jeder lustig machte, und den bescheuerten Videos im Internet, die es einen als den schönsten Moment im Leben zweier Menschen verkauften, war es kein Wunder, dass ich eine komplett falsche Vorstellung hatte. Womöglich war es ganz simpel: Zwei Menschen, die sich anziehend fanden, hatten einfach Sex. Ohne es groß bereden oder vorbereiten zu müssen. Kein Paukenschlag, keine Schmetterlinge.
Eine neue Nachricht leuchtete auf.
'Ecke Fahrensweg'.