Außerhalb des Stands mischten sich die Gerüche von Frittierfett, Bratwurst und karamellisieren Zucker mit denen der nach Alkohol und Parfüm riechenden Passanten. Eine wilde Mischung, die mir einen leichten Schwindel verursachte, bis sich meine Nase dran gewöhnte. Eilig drängte ich mich zwischen den Menschen hindurch und musste erkennen, dass man selbst in dem kleinen Stand mehr Raum für sich hätte. Ich konnte kaum bis zur nächsten Querstraße sehen. Aber Chris Lächeln ließ mich über den Platz flitzen. Mein Hals streckte sich, damit ich anhand der Häuserfassaden erkannte, wo ich mich befand. Gleich hinter dem Karussell, zwischen der beschilderten Bude eines Winzers und einem bunt ausgestatteten Spielzeugverkauf führte eine Gasse aus dem Treiben. Ich musste nur noch wenige Meter hinter mir lassen.
Doch dann stieß ich gegen etwas weiches, dessen beißender Geruch meine Nase augenblicklich kitzelte.
„Ach herrjechen, Melissa!“
Dicke Finger packen mich am Arm, damit ich nicht zurückgeworfen wurde, und schon blickte mich unter einem Haarturm das erschrockene Gesicht von Frau Weigart an. Ich erwartete das aufgeregte Bellen von Molli, doch der Mops war unter ihren kurzen Beinen nicht zu entdecken.
„Was haben wir es denn so eilig?“, fragte sie und hielt mich mit ausgestreckten Armen vor sich, offenbar um zu prüfen, ob ich unverletzt blieb. „Sonst bist du doch auch nicht so aufgekratzt. Nicht wie diese schreckliche Jugend von heute, die alles immer schneller, immer besser haben möchte. Ganz merkwürdige Vorstellungen haben die heute. Da bist du viel gewissenhafter, Kind.“
Ich öffnete meinen Mund zu einer Antwort, aber sie plapperte einfach weiter.
„Aber du bist sicher nur auf dem Weg ins Café, um neue Zutaten zu holen, stimmst? Wo ist denn euer Stand dieses Jahr? Hoffentlich nicht wieder neben Jenkes Bierzelt, die Betrunkenen dort sind doch wirklich eine Zumutung. Haben der kleinen Molli einen ganz schönen Schrecken eingejagt, aber meine Süße ist ohnehin so ängstlich, wenn es um Ansammlungen geht. Und so gut zu Fuß ist sie ja auch nicht mehr. Gibt es denn noch Berliner bei euch?“
Endlich holte sie Luft, damit ich mich äußern konnte.
„Ja, die gibt es, Frau Weigart“, erwiderte ich mit äußerster Höflichkeit, damit sie mich endlich losließ. “Aber ich selbst kann ihnen leider keinen besorgen. Ich habe nämlich gerade frei.“
Das war etwas forsch, aber ich hoffte, sie würde den Wink verstehen und mich nicht weiter aufhalten. In meiner Jeanstasche spürte ich das Handy vibrieren. Chris wurde ungeduldig.
„Tatsächlich?“ Sie schürzte die Lippen. „Schon so früh? Ihr macht doch erst in zwei Stunden zu? Aber deine Mutter ist noch dort, nicht wahr?“
Ich schluckte schwer und warf den Kopf zurück auf Mahlers Stand. Der Andrang hatte nicht nachgelassen. Ich sah meine Mutter von einer Seite zur nächsten springen. Sie hat gesagt, dass du gehen kannst, meldete sich mein Kopf trotzig. Es wäre ja nur ausnahmsweise. Außerdem wartete Chris auf mich und würde alleine seinen Spaß haben, wenn ich nicht auftauchte.
„Ich helfe ihr dann morgen wieder“, sagte ich und wandte mich ab.
Frau Weigart lächelte zufrieden, drückte aufmunternd meinen Arm bevor sie losließ und verabschiedete sich. Mit einem tiefen Seufzer setzte ich meinen Weg fort, nicht mehr so eilig wie zuvor, aber doch schnell genug, dass Chris keine weitere Nachricht schicken musste.
Ein paar Querstraßen entfernt sah ich ihn an einer Hauswand gelehnt. Er versuchte, Rauchringe in die Luft zu pusten, die jedoch keine konkrete Form annehmen wollten. Bevor ich mich ihm näherte, prüfte ich wie gewohnt, ob wir alleine waren. Es hatte sich bereits eingespielt, wie das über die Straße gehen. Ein Blick nach recht, ein Blick nach links. War alles frei, konnte ich zu ihm. Und auch das Herzpochen, sobald er aufsah, stellte sich wie üblich ein.
Ich erwartet, dass er mich mit einem lässigen „Hey, Lizzy Lis“ begrüßte, als ich vor ihm stand.
„Was'n das?“, fragte er stattdessen spöttisch und zwirbelte mit den Fingern an einen meiner Seitenzöpfe. „Warste auf'n Kindergeburtstag, oder was?“
Verlegen zog ich mir die Bänder aus dem Haar und schüttelte es auf.
„Und wozu soll das gut sein?“ Ich deutete auf seine rote Kappe, unter der einige Haarspitzen hervorschauten.
„Die is cool“, verteidigte er sich. „Und tausendmal besser als kleines Mädchen zu spielen. Sieht aus wie bei 'ner abgefuckten Fünfjährigen.“
Ich musterte ihn nachdenklich und rief mir sein Lächeln beim Versenden der Nachricht ins Gedächtnis. Er wollte mich nicht beleidigen, nicht jetzt und nicht früher, als er mich mit einem fetten Mädchen verglich. Für ihn war es ein Spiel, bei dem es darum ging, den anderen zu provozieren. Wer einen Rückzieher machte, hatte verloren. Was mich betraf, war es langsam an der Zeit mitzuspielen.
„Kleinen Mädchen vertraut man. Die sind brav und süß, und niemand würde auf die Idee kommen, dass die etwas anstellen.“
Er schnaube abfällig.
„Dann viel Spaß, wenn dich mal so'n Pädo angräbt.“
Das war ein schwacher Einwand. Aber ich ließ es ihm durchgehen, schließlich war er es gewohnt zu gewinnen. Andererseits würde er womöglich beleidigt das Weite suchen und das wäre es, nachdem ich meine Mutter für ihn im Stich gelassen hatte, absolut nicht Wert.
Seine Aufmerksamkeit lenkte zur Querstraße, von der aus der Festlärm bis an unsere Ohren drang. Je später es wurde, desto ausgelassener und lauter würde es werden. Die Familien würden mit ihren Kindern nach Hause gehen und was bleibt, wären die Angetrunkenen, die bis in die Abendstunden singend über den Festplatz schaukeln. Aber noch war es nicht soweit, noch konnte man sich in der Menge ungesehen bewegen.
„Geht da ordentlich was rein?“, fragte Chris und zeigte auf die Tasche, die um meine Schultern bis hin zur Hüfte hing.
Ich runzelte die Stirn, bis das Leuchten seiner Augen mir alles verriet. Er war nicht hergekommen, um sich nur eine Tüte Pommes abzugreifen. Allerdings hatte ich erwartet, dass wir die Leere im Rest des Dorfs nutzen würden, um etwas anzustellen, weit abseits des Fests.
„Ist das nicht ein wenig riskant bei so vielen Menschen?“
Ich erinnerte mich daran, wie er anfangs erklärt hatte, dass ein Abgriff sicherer war, je weniger ihn beobachten könnten. Zumal es hier nicht um das einfache Einstecken von Ladenwaren ging, sondern um das gezielte Bestehlen von Leuten, darunter nicht wenige, die ich persönlich kannte.
„Denk doch mal nach...“
Er zog mich bei der Hüfte an sich, damit seine Lippen direkt an mein Ohr kamen.
„Das Gedränge...“, flüsterte er verschwörerisch hinein und presste sich an meinen Körper. Sein Mund fuhr an meinem Hals entlang, während die Hand über meinen schauernden Rücken hinunter bis zum Po strich.
„...der Alkohol...“
Ich schloss die Augen, um mich ganz seinen Berührungen und dem warmen Atem auf der Haut hinzugeben. Ein leichtes Zittern nach dem anderen durchfuhr mich. Es steigerte die Aufregung bis ins Unerträgliche. Konnten wir nicht einfach zu mir gehen und die nächsten Stunden damit weitermachen?
„...und 'ne kleine Ablenkung...“, hörte ich ihn raunen, bevor er seine Lippen auf meine legte und damit ein Feuerwerk in mir zündete.
All die Bedenken waren wie weggespült. Was interessierten mich schon die Habseligkeiten der Anderen? Sollten sie doch ihr Geld, die teuren Handys und die Markentaschen nicht offen mit sich herumtragen wie großkotzige Neureiche. Sie wären allesamt selber Schuld.
Seufzend öffnete ich die Augen, als sich Chris wieder von mir löste. Vor meinem Sichtfeld baumelte eine kleine Armbanduhr mit schmalem Lederband. Meine Armbanduhr!
„...schon is was weg“, sagte er triumphierend.
Erschrocken sah ich auf mein nacktes Handgelenk, an dem sie eben noch hing.
Beim Frühstück sagte er, er hätte ein Geschenk für mich. Ich war noch immer sauer auf ihn. Gestern kamen wir wieder zu spät zum Training, die anderen hatten längst mit den Übungen angefangen, während ich mich in Windeseile umziehen musste. Es war nicht das erste Mal gewesen, dass Papa mich zu spät hinbrachte. Die Trainerin hatte bereits mit ihm gesprochen, darüber, wie wichtig das pünktliche Erscheinen für mich wäre, dass ich ansonsten nie die Möglichkeit hätte, voranzukommen. Dabei war sie seit meinem ersten Tag im Turnverein begeistert gewesen. Und auch ich wollte wiederkommen, ganz zur Freude von Papa. Das turnen am Reck, auf dem Schwebebalken und an den Ringen hatte Spaß gemacht und war viel besser als auf langweiligen Bäumen zu klettern. Die Trainerin zeigte die verschiedenen Übungen, die ich leichtfertig wiederholte und am Rand der Halle klatschte Papa beeindruckt, was mir immer etwas peinlich war. Nach den Stunden dann fuhren wir gemeinsam ins Café, damit ich eine Zimtschnecke bekam und er Mama voller Stolz alles erzählen konnte. Wenn Papa so war, mochte ich ihn am liebsten.
Was ich nicht mochte, war seine Arbeit. Mama konnte mich wegen dem Café nicht zum Training fahren, also musste ich nach der Schulbetreuung mit meiner Sporttasche am Bordstein auf Papas Wagen warten. Und häufig kam er viel zu spät.
Er legte eine kleine, glänzende Schachtel neben meinen Cornflakes. Lustlos schob ich sie weg. Ich wollte kein Geschenk, ich wollte rechtzeitig zum Training erscheinen, damit die Trainerin nicht mit dem Kopf schüttelte und die anderen Mädchen sich nicht über mich lustig machten.
Papa stupste mich lächelnd an und griff selbst nach der Schachtel, um den Deckel zu öffnen. Heraus kam eine kleine Armbanduhr. Sie hatte ein hübsches Lederband und eine goldene Fassung um die rund angeordneten Zahlen.
„Guck mal, Mel“, sagte er und hielt sie mir vor die Augen. „Damit können wir immer pünktlich beim Training sein. Und wenn ich die Zeit mal aus den Augen verliere, kannst du das im Blick behalten und mich anrufen.“
Er legte das Band um mein Handgelenk und schob das Ende durch den goldenen Verschluss. Danach sah er mich so ernst an, dass ich dachte, er wäre böse mit mir. Aber dann legte er seine Hand an meine Wange.
„Das ist wichtig, Mel. Ich kann nicht versprechen, dass ich immer auf die Zeit achte. Das musst du für mich übernehmen. Glaubst du, du schaffst das?“
Ich nickte und hielt sie mir lauschend ans Ohr. Tick, tick, tick.
„Gib sie wieder her!“ Ich wollte danach greifen, aber Chris zog sie schnell aus meiner Reichweite und betrachtete sie eingehend.
Die Gravur auf der Rückseite beachtete er kaum, dafür stutzte er beim Anblick des Ziffernblatts.
„Die geht falsch.“
„Ich weiß. Das habe ich so eingestellt“, antwortete ich und versuchte erneut, sie ihm zu entreißen.
Meinen zehnminütigen Zeittrick würde er nicht verstehen, lange Erklärungen wären also sinnlos.
„Hä? Is doch voll bescheuert.“
Er drehte an dem filigranen Seitenrädchen und händigte sie mir endlich aus.
„Willkommen im Jetzt“, sagte er. „Auf geht’s.“