Neben Mariell sitzen zu müssen, erwies sich als angenehmer wie zunächst gedacht. Die meiste Zeit kümmerte sie sich um ihren eigenen Kram, quatschte mit Cynthia neben sich, warf Michael laszive Blicke zu, die er mit einem dämlichen Grinsen quittierte, und tippte unentwegt auf ihrem Handy herum. Nur wenn es um Hausaufgaben ging, geriet ich in ihren Radar. Doch die überließ ich ihr gerne im Austausch dagegen, für sie weiterhin ein Geist zu sein. Besonders nachdem ich einmal beobachtet hatte, wie sie beim Aufrufen im Englischunterricht nervös wurde und verbissen auf das Buch vor sich gestarrt hatte, unfähig, eine Antwort zu geben. Bei der sanftmütigen Frau Schuter jedoch gab es keinerlei Grund sich zu schämen, niemals hätte sie einen Schüler bloßgestellt oder sich über einen lustig gemacht. Trotzdem hatte Mariell genauso dreingeblickt wie ich es wohl früher getan habe, wenn mir die Erkenntnis ins Gesicht schlug, ich sei zu dumm für die Schule. Dieser Anflug von Mitleid verflüchtigte sich allerdings schnell wieder, sobald sie die arme Anna triezte, was ihr selbst aus der Entfernung noch möglich war. Somit hatte es sich eingespielt, dass sie alle paar Stunden Spuckbällchen oder gemeine Klebezettel vorbereitete, die ich wiederum in den Pausen ungesehen verschwinden ließ, damit sie von vorne beginnen musste. Dabei kam sie nie auf den Gedanken, dass ich die Schuld dafür trug. Niemand würde das, weder hier in der Schule, noch außerhalb. Der Fokus der Menschen lag nun mal nicht auf nett wirkenden, kleinen Mädchen.
Aus diesem Grund waren die nachmittäglichen Abgriffe für mich auch deutlich einfacher als für Chris. Und mit jedem Erfolg stieg mein Selbstbewusstsein ein Stück weit an, während alle unangenehme Gedanken in den Hintergrund rückten. Nur Schraders würde sie wieder aufleben lassen, weshalb ich, abgesehen von den üblichen Einkäufen, darum einen großen Bogen machte. Das Letzte, das ich wollte, war von Gregor in flagranti ertappt zu werden. Es würde nicht nur sein Misstrauen gegenüber Chris untermauern, sondern wäre für mich eine Peinlichkeit von undenkbaren Ausmaß. Vom neuen Freund meiner Mutter beim Klauen erwischt. Nein, das müsste ich unter allen Umständen verhindern.
Die ganze Beziehungskiste meiner Mutter war bereits Blamage genug. Deshalb ging nach dem schrecklichen Spieleabend der Tanz der Vermeidung zwischen uns beiden auch unbeirrt weiter. Sie wollte sich nicht entschuldigen und ich sah keinen Grund, den ersten Schritt zu tun. Aber was machte das schon. Nach der Arbeit im Café konnte ich schließlich Mellis verkorkstes Leben hinter mir lassen und mit jemandem losziehen, der mir unmissverständlich zeigte, wie sehr er mich wollte.
Die Schulglocke läutete und befreite uns endlich von diesem Schultag. Ich warf einen verstohlenen Blick auf Mariell. Morgen würde der Kampf um die Spuckbällchen weitergehen. Ich lächelte in mich hinein und ließ die Augen über die hektisch zusammenpackende Klasse schweifen. Lena-Marie unterhielt sich angeregt mit Zeynep und Kathi. Seit unserem Schlagabtausch per Brief hatten wir kein Wort mehr gewechselt, aber es war irgendwie ein beruhigendes Gefühl, zu sehen, dass sie Anschluss fand. Möglicherweise hatte ihre seltsame Fixierung auf mich das zuvor verhindert. Mit einem leisen Seufzen schulterte ich meinen Rucksack. Es war besser so, jeder schien seinen Platz gefunden zu haben. Lena-Marie weit weg von mir, Mariell weit weg von Anna und ich ganz nah bei Chris.
In Erinnerung an seine Küsse und Berührungen schlenderte ich den Schulgang entlang. Neuerdings waren diese stürmischer, beinahe fordernd geworden. Manches mal musste ich ihn ausbremsen, um einen klaren Kopf zu behalten. Nicht, dass es nicht schön wäre, aber ab einem bestimmten Punkt stellte sich die Angst ein, die mich hinderte zu weit zu gehen. Natürlich hatte er bald selbst begriffen, wo ich die Grenzen zog, doch das hinderte ihn nicht daran, sie bei der nächstbesten Möglichkeit weiter auszureizen. Dabei überrollte mich immer eine Lawine an Überlegungen. Ob er bereits Sex gehabt hatte, wann und wie oft, und ob er es auch mit mir wollte. Letzteres löste in mir eine derartige Nervosität aus, dass alles Weitere blockiert wurde.
„Das ist sie doch, oder?“, hörte ich es neben mir Flüstern.
Ich war gerade an zwei Mädchen der Parallelklasse vorbeigelaufen und drehte mich irritiert in ihre Richtung, in der Annahme, sie meinten mich. Aber warum sollten sie, ich hatte mit ihnen nichts zu tun. Sie bedachten mich mit einem aufgesetzten Lächeln und steckten die Köpfe wieder zusammen. Beim Durchqueren der Eingangshalle sah ich mich unbehaglich um. Einige Schüleraugen waren auf mich gerichtet, wandten sich jedoch bei Blickkontakt schnell ab. Eine ungute Vorahnung machte sich in mir breit.