Ich sauste die Treppen hinunter, durch die Eingangshalle und hinaus auf den Hof, damit ich von dort aus zum Parkplatz kam. Glücklicherweise war Jansen nicht mehr zu sehen. Das höhnische Gelächter der Zuschauer hatte ihn wohl zurück in den Unterricht getrieben. Gut für mich, denn so konnte ich die Autoreihen genaustens absuchen. Ich wettete mein letztes Kleid darauf, dass Chris hier noch irgendwo steckte, um sich eine neue Dummheit auszudenken. Allein aus Trotz würde er das Feld nicht räumen, denn niemand sollte denken, er hätte letztlich klein beigegeben.
„Hey, Lizzy“, raunte es vom Heck eines Peugeots.
Lässig lehnte er gegen das Blech, mit einem Grinsen im Gesicht, als hätte er mich erwartet und freue sich nun darüber, Recht behalten zu haben. Der Duft seines Deos und die selbstsichere Haltung, die der Welt vor Augen führte, dass ihm nichts und niemand etwas anhaben konnte, ließen mein dummes Herz augenblicklich höher schlagen. Ich zwang es zur Ruhe, durfte nicht zulassen, dass das Kribbeln, das er in mir auslöste, meine zurechtgelegte Ansprache über den Haufen warf. Ohne vom Kampf, den ich innerlich führte, Notiz zu nehmen, zog er eine Brottüte aus der Tasche und biss in bester Laune in die blassen Sandwichscheiben. Offensichtlich hatte er vor seiner Aktion mit Jansen noch einen Abstecher in die Grundschule gemacht, in der die Essenspakete in verschnürter Form vor den Klassenzimmern hingen, damit die Schüler im Unterricht nicht davon naschten. Einer von ihnen würde heute leer ausgehen.
„Was machst du hier?“, fragte ich unvermittelt.
Es war nicht das, was ich zunächst hatte sagen wollen, aber mein scharfer Ton drückte recht gut aus, was ich von seinem Auftauchen an der Ringgold hielt. Jeder andere normale Mensch hätte das tagelange Ignorieren als das verstanden, was es war: Ein klares Zeichen, Abstand zu halten. Aber Chris schien für diese Art der Kommunikation vollkommen unempfänglich.
„'N bisschen chillen“, erwiderte er gelassen und kaute weiter auf seinem Sandwich herum. „Und du?“
Mit einer genervten Geste zum Schulgebäude machte ich deutlich, wie lächerlich diese Frage war.
„Haste den Typ vorhin gesehen?“, fragte er und gluckste in sich hinein. „War das nich der von diesem Kackfest?“
„Jansen, ja. Der ist mein Lehrer.“
„Dieser Penner? Der bumst bestimmt kleine Mädchen.“
Ich schlug die Augen nieder und atmete tief ein. Zu jedem anderen Zeitpunkt hätte ich mich gerne mit ihm über Jansen ausgelassen. Aber nicht heute, nicht nach dem, was passiert war.
„Chris, du kannst nicht... Also, ich will nicht-“
„Wo is seine Karre?“, unterbrach er mein Stottern, warf das Brot beiseite und stieß sich vom Auto ab.
Er hatte keinerlei Interesse daran, mir zuzuhören, denn in seinen suchenden Augen leuchtete das vertraute Funkeln auf, dem immer eine fixe Idee voranging. Und in diesem Zustand wäre es unmöglich, mit ihm zu reden.
„Der graue Opel da“, erklärte ich resigniert.
Früher oder später hätte er es ohnehin herausgefunden. Von einem gefassten Plan ließ er sich nur schwer abbringen, besonders wenn es darum ging, einem anderen eins auszuwischen. Mir blieb deshalb nichts weiter übrig, als ihm zum Wagen zu folgen und zu hoffen, dass er es schnell hinter sich bringen würde. Damit ich endlich in meine trostlosen Ferien starten konnte.
Doch plötzlich blitzte die Metallkante eines Schlüssels in seiner Hand auf. Sofort duckte ich mich zwischen die Wägen und presste meine Seite gegen die Beifahrertür.
„Was hast du vor?!“, zischte ich, unnötigerweise, denn niemand würde die nächste halbe Stunde über diesen Parkplatz laufen.
„Ich schreib dem Penner 'ne schöne Messenge.“
Was hatte ich denn erwartet? Dass er sich mit einem abgebrochenen Scheibenwischer zufriedengab? Ich dachte an das Chaos, das er bei Frau Weigart angerichtet hatte, und das nur wegen eines einzigen unbedachten Spruchs. Da wäre es nur logisch, bei Jansen nachzulegen.
Dass ihn das allerdings in große Schwierigkeiten bringen würde, schien ihm dabei nicht zu interessieren. Die liebe Frau Schuter würde ihn für die Dachhopserei sicher nicht anzeigen, doch von Jansen konnte man diese Nachsichtigkeit nicht erwarten. Zumal der beim Fest bereits drauf und dran war, die Behörden einzuschalten. Ein Kratzer an seinem Wagen würde ihm die Absicht nur in Erinnerung rufen.
„Chris, hör mal-“, begann ich, wusste allerdings nicht, wie ich den Satz beenden sollte.
Das Einzige, dass mir einfiel, war eine seiner verfluchten Regeln. Aber wie könnte man jemanden überzeugen, der die eigenen Grundsätze ständig zurechtbog oder überging?
Die zackigen Kanten des Schlüssels legten sich auf die Motorhaube, bereit, sich tief in den Lack zu bohren.
Warum war es mir überhaupt wichtig, welche Probleme er bekam? Schließlich interessierte er sich nur für sich, da sollte ich nicht einen müden Gedanken an ihn verschwenden. Und Jansens Eigentum konnte mir dreimal so egal sein. Das Klügste wäre, einfach zu verschwinden.
Ich stand auf, doch mit einem Mal, noch bevor die Zacken eine tiefe Schramme verursachten, hielt Chris inne. Sein Gesicht verzog sich, wurde kreidebleich. Er krümmte sich und im nächsten Moment klatschte ein Schwall Erbrochenes auf die Windschutzscheibe.
Entsetzt sprang ich aus meinem Versteck.
„Scheiße!“, fluchte er und taumelte zurück.
„Aber so is auch nich-“
Weiter kam er nicht. Mit schmerzverzerrtem Gesicht krallte er die Hände in den Bauch und ging vor der Stoßstange in die Knie.