„Wenn du das in mehreren Schritten löst, ist es einfacher. Sieh mal, wenn du hier von der 55 die 34 abziehen musst, machst du das in zwei Schritten. Erst die 30, und dann noch die 4.“
Benny saß mit aufeinandergepressten Lippen auf der anderen Seite des Wohnzimmertischs und starrte in das Hausaufgabenblatt, das ihm wie eine wüste Ansammlung von Zahlen vorkommen musste. Auf einem Schmierblatt machte ich die Rechnungen anschaulich und schob sie ihm zu. Er fuhr sich über das strubbelige Haar, was er immer tat, wenn er angestrengt nachdachte.
„Und bei Sachen über Hundert dann in drei Schritten?“, fragte er.
„Genau. Aber lösen wir erst einmal das. Was kommt denn heraus, wenn wir 30 von der 55 abziehen?“
Das Handy neben mir gab einen leisen Ton von sich. Die Nachricht auf dem Display leuchtete auf. Es war ein Ausrufezeichen. Das ganze Wochenende hatte ich darauf gewartet, überlegt, ob ich mich selbst melden sollte, einen Satz geschrieben, diesen gelöscht, einen anderen getippt und wieder entfernt. Ich versuchte mir vorzustellen, was er die Tage über trieb. Ob er ohne mich auf Diebeszug ging oder alleine in der Fabrik saß, mit dröhnendem Minimal Techno in den Ohren und einem Energy Drink in der Hand. Das Warten war unerträglich geworden, und heute, am Montag, meldete er sich endlich. Mitten in meiner Nachhilfestunde.
Ich musterte nachdenklich die Uhr und Bennys Aufgabenblatt. Wir hatten erst vor wenigen Minuten angefangen. Meine eigenen Schularbeiten zu verschieben, war kein Problem, aber sich bei der Nachhilfe zu verdrücken, die gut bezahlt wurde, wäre keine gute Idee. Das erste Mal sendete ich ihm einen Smiley mit heruntergezogenen Mundwinkeln zurück.
Benny kritzelte derweil unsicher die Lösungen auf das Blatt. Ich beobachtete, wie er mit der Hand herunterzählte, während sein Mund stumm die Zahlen formte. Meine Worte in der Tankstelle kamen mir wieder in den Sinn: Ich glaube, er ist nur ein wenig unkonzentriert...
„Wie geht es eigentlich deinen Eltern?“, fragte ich in die Stille hinein.
Er sah kurz auf und zuckte mit den Schultern.
„Ganz gut“, antwortete er und reichte mir das Blatt zur Überprüfung. „Mama hat sich ein neues Auto gekauft, aber wir dürfen da drin nichts Essen. Das ist voll doof.“
Ich nickte und wies ihn an, die Lösung auf sein Aufgabenblatt zu übertragen.
„Und deinem Bruder?“
Bei keinem Anderen war mir die Ablenkungsaktion derart nachgegangen wie bei Jonathan. Wenn ich mich an seinen Gesichtsausdruck erinnerte, in dem Moment, als ich ihm die Lüge über die Scheidung auftischte, machte sich immer ein ungutes Gefühl in mir breit. Selbst die nachträgliche Knutscherei mit Chris hatte daran nichts geändert.
„Jojo ist voll cool geworden“, sagte Benny stolz. „Wir waren im Sealife und so, und er spielt viel häufiger Ball mit mir.“
Ich lächelte in mich hinein. Meine Lüge in der Tankstelle hatte ihn dazu bewegt, sich mehr um seinen kleinen Bruder zu kümmern. Das war gut, auch wenn er es aus den falschen Gründen tat. Ich sollte also aufhören, deswegen ein schlechtes Gewissen zu haben.
Das Handy piepte wieder auf. 'Komm schon!' stand auf dem Display.
Ich hatte Tage warten müssen und Chris konnte sich nicht einmal eine Stunde gedulden? 'Ich kann nicht' schrieb ich und sah anhand der blauen Symbole, dass er es sofort las. Dann blieb das Handy still.
„Jetzt nutzen wir den Lösungsweg auch für die anderen Rechnungen“, erklärte ich Benny. „Was kommt denn heraus, wenn wir von den 83 die 46 abziehen?“
Ich setzte ein freundliches Gesicht auf, um den aufkommenden Frust herunter zu schlucken. Benny kritzelte die einzelnen Schritte auf das Blatt. Es war zum Verrücktwerden, erst meldete er sich nicht und jetzt, wo ich nicht konnte, müsste ich sicher wieder Tage auf eine Nachricht warten. Nach und nach füllte Benny das Aufgabenblatt mit Zahlen. Mein Fuß wippte ungeduldig auf und ab. Ich sollte aufhören, so verdammt unsicher zu sein und ihm einfach schreiben, sobald wir fertig wären. Im schlimmsten Fall war er eingeschnappt, was keinen Unterschied machen würde.
Verärgert stand ich auf, um mir ein Glas Wasser zu holen. Vor dem Kühlschrank atmete ich tief aus, um meine Gedanken zu sammeln. Es brachte nichts, sich den Kopf darüber zu zerbrechen. Und schon gar nicht, deshalb an die Decke zu gehen. Als ich das Mineralwasser herausnahm, hörte ich hinter mir ein dumpfes Klopfen. Benny sollte besser seine Aufgaben machen, anstatt die Zeit mit Kindereien zu verplempern. Ansonsten würden wir hier noch länger sitzen. Noch ein Klopfen.
„Ben-“, hörte ich mich seufzen, aber er sah nur mit großen Augen in Richtung Garten.
„Kennst du den?“
Ich folgte seinem Blick und erschrak kurz, als Chris auf der Terrasse stand und durch die Glastür grinste.
„Kümmere dich um deine Aufgaben“, wies ich Benny an, schlüpfte durch die Tür und zog sie hinter mir zu, damit er uns nicht hören konnte.
„Was machst du hier?!“, fuhr ich ihn an. „Und woher weißt du überhaupt, wo ich wohne?“
„Is 'n kleines Kaff“, antwortete er, sichtlich amüsiert darüber, dass er mich erschreckt hatte. „Kommste jetzt?“
Ich warf den Kopf zurück, um Benny dabei zu ertappen, wie er uns neugierig beobachtete, das Gesicht aber schnell wieder auf das Blatt drehte. Normalerweise hätten wir noch eine Viertelstunde.
„Was solls“, stöhnte ich. „Ich muss den Kleinen nur noch nach Hause schicken.“
Chris machte keine Anstalten mir ins Haus zu folgen. Glücklicherweise, denn ich wusste nicht, ob Benny seinen Eltern gegenüber den Mund halten konnte. Die fänden es nicht witzig, wenn ich während der Nachhilfe von Jungen Besuch bekommen würde. Besonders, wenn es sich dabei um Christian Martens handelte, über den man schon jetzt schlecht redete.
„Wie wäre es, wenn wir jetzt schon Schluss machen?“, schlug ich Benny vor und sah sofort, wie sich seine Gesichtszüge erhellten. „Du kannst noch eine Runde über den Spielplatz drehen und deine Eltern werden nicht erfahren, dass wir heute früher fertig waren. Deal?“
„Hey, Kleines“, flüsterte Papa durch den Türspalt, bevor er mein Zimmer ganz betrat und sich auf mein Bett setzte.
Ich rutschte vom Fenstersims. Nachdem ich versucht hatte, die Fußgänger vor unserem Haus mit Barbieköpfen zu treffen, durfte ich das Fenster nur noch kippen. Dabei hatte ich nicht einen getroffen. Seit Stunden hockte ich deshalb herum und kritzelte die Tapete hinter meinem Bett an.
„Setz dich zu mir, Mel“, sagte Papa und klopfte auf die Matratze. „Wir müssen reden.“
Missmutig schlurfte ich zu ihm. Jedes Mal, wenn ich Hausarrest bekam, kam Papa irgendwann an und erklärte mir, warum ich bestraft wurde. Dabei sah er immer traurig aus. Vielleicht wusste er gar nicht mehr, was Spaß machte, und war deshalb so traurig. Er sah auf meine Wandbilder und nahm mir seufzend den Filzer aus der Hand.
„Weiß du, Mel, du hast ganz schön viel Energie“, fing er an. „Viel mehr als dein alter Vater. Deshalb denken Mama und ich, es wäre sinnvoll, wenn du die auf die richtige Art nutzen würdest.“
Er zog einen Flyer aus der Tasche und reichte ihn mir. Darauf waren Kinder auf verschiedenen Sportgeräten abgebildet, wie in meiner Schule, darüber stand in Großbuchstaben Turnverein Ebersfelde e.V..
„Das ist ein Sportverein“, erklärte Papa. „Die haben da ein großes Angebot, du kannst auf Geräten turnen, Bahnen rennen oder Ball spielen. Das würde dir bestimmt gefallen.“
So was Doofes. Das wäre ja wie zur dummen Schule gehen. Die Erwachsenen würden mir nur sagen, was ich tun sollte und mir wäre total langweilig dabei.
„Was hältst du davon? Wir fahren morgen kurz dort vorbei und du siehst es dir an. Dafür ist der Rest vom Hausarrest gestrichen. Deal?“
Benny nickte begeistert und packte schnell Hefte und Bücher ein. Bei dem Gedanken mit seinen Freunden über den Spielplatz rennen zu können, hatte er Chris vermutlich schon jetzt vergessen. Ich ließ ihn auf der einen Seite des Hauses durch die Eingangstür flitzen, zog meine Schuhe an und eilte selbst auf der anderen durch die Terrassentür.