Theresa hatte sich für den Rest der Woche krankgemeldet. Nach den Worten meiner Mutter hatte sie sich am Telefon furchtbar angehört. Die Meisten konnten einfach deutlich besser lügen als ich. Immerhin kam mir ihre Abwesenheit gerade recht. Sie sorgte dafür, dass ich öfter im Café zu tun haben würde und wäre ein weiterer Tropfen in Mamas schier unendlich großem Fass der Gutmütigkeit, von dem ich hoffte, es würde früher oder später überlaufen.
Ich schmiss den Rucksack in die Ecke der Backstube und band mir die Schürze um. Heute musste es schnell gehen, der Laden war voll besetzt. Da blieb für eine herzliche Begrüßung meiner Mutter keine Zeit. Als ich eintrat, kleidete sie gerade eine Torte in rosafarbener Sahne ein. Dabei fixierte sie sie hochkonzentriert, um einen sauberen Abschluss der Kanten zu schaffen. Nach all den Jahren bemühte sie sich immer noch darum, ihre Stücke möglichst perfekt zu präsentieren.
Die kleinen Falten unter ihren Augen und das locker sitzende Haar, aus dem sich ein paar der strohblonden Strähnen gelöste hatten, verrieten mir, dass der Vormittag stressig gewesen sein musste. Wenn sie mich nur an diesen Tagen von der Schule freistellen würde. Aber jedes Mal erklärte sie, dass ich des Alters wegen keine acht Stunden arbeiten dürfe und mich aus diesem Grund freizustellen, wäre nicht nur schädlich für meine Zukunft, sondern auch absolut verantwortungslos. Das meine Noten ausgezeichnet waren und ich Zuhause ohnehin weiterarbeitete, spielte dabei keine Rolle.
„Paul war hier“, murmelte sie über die Torte hinweg.
„Wer?“, fragte ich, während ich einen der Bestellblöcke vom Stapel zog.
„Paul, wer ist eigentlich Paul?“, zitierte sie eine alte Werbung und kicherte. „Ich meine Christian Martens.“
Mein Block fiel mir beinahe aus der Hand.
„Ach ja?“, gab ich, so gelassen ich konnte, zurück. „Was wollte er denn?“
Sie beugte sich über den Tischrand und drückte präzise die Sahne aus der Tülle.
„Ich glaube, er hat nach dir gesucht“, antwortete sie schließlich.
Er hatte nach mir gesucht. Die Worte sickerten wie warme Honigmilch direkt in meinen Bauch und hüllten mich wohlig ein. Mir war, als spürte ich seine Hand wieder an der Hüfte. Und beinahe traute ich mich nicht, die Frage zu stellen, die mir sofort auf der Zunge brannte.
„Was... was hast du ihm denn gesagt?“
„Das du heute von Drei bis Sechs Uhr im Café bist.“
Sie wische sich die Sahnereste von den Händen und lächelte geheimnisvoll.
„Ein gutaussehender Junge.“
Ich wollte am liebsten im Boden versinken. Mit meiner Mutter über diese Dinge zu reden, hatte ich längst aufgegeben. Sie nicht, denn jegliches Interesse meinerseits an Jungen nahm sie zum Anlass, ausgiebige Gespräche zu führen, die allesamt mit der Geschichte endeten, wie sie Papa kennengelernt hatte und wie traumhaft ihre Hochzeit gewesen war.
„Mag sein“, antwortete ich, um das Thema schnell zu beenden.
Ich griff nach einem Tablett und machte mich auf zur Theke.
„Melli-Maus?“
Es war noch nicht vorbei. Als ich kehrtmachte, stellte ich mich auf ein peinliches Gespräch ein, aber sie nahm mich nur zärtlich in die Arme.
„Diese Art von Jungen sind meist die Traurigsten“, wisperte sie.
Ich sah sie verwirrt an. Sprachen wir noch über denselben? Chris war alles andere. Er war abenteuerlustig und unverschämt, witzig und vorlaut, aber ganz sicher nicht traurig.
„Und traurige Menschen brechen einem leicht das Herz.“
Sie küsste mein Haar, bevor sie mich losließ.
„Ok, also, ich helfe ihm nur ein wenig“, versicherte ich.
Das war nicht gelogen. Ich hatte ihm geholfen. Zugegeben bei einem Einbruch in ein Privatgrundstück, aber solange ich nur in der Nähe der Wahrheit blieb, wehrte sich mein Körper nicht vehement dagegen.
Sie streichelte mir liebevoll über die Wange.
„Du bist so ein guter Mensch, mein Mäuschen.“
Ich konnte es kaum erwarten, dass die Zeiger der Uhr auf Sechs sprangen. Die letzten Gäste hatten das Feld längst geräumt und ich wischte und putzte im Eilverfahren, damit ich pünktlich die Tür hinter mir absperren konnte. Meine Mutter blieb meist etwas länger, um Gebäck und Brötchen für den nächsten Tag vorzubereiten und den Kassensturz zu machen. Daher würde es nicht zu einer weiteren Begegnung kommen, in der sie falsche Schlüsse über Chris ziehen könnte.
Meine Hände zitterten leicht, als ich den Ladenschlüssel einsteckte. Ich löste das Gummi aus meinem Haar und ließ es locker über die Schultern fallen. Aber erst als ich den Saum meines Kleids glattstrich, wurde mir klar, was ich eigentlich tat und schüttelte lächelnd den Kopf. Zu diesen Mädchen, die sich für einen Jungen aufhübschten, hatte ich nie werden wollen. Zumal keiner mir versprechen konnte, dass er tatsächlich irgendwo auf mich wartete. Womöglich machte ich mich selbst wahnsinnig, und die Enttäuschung würde mir den Rest des Tages verderben.
Weniger enthusiastisch schritt ich den Bürgersteig entlang, bis ich die Fichtenstraße und damit die Kirche erreicht hatte. Die lauter werdenden Beats des Minimal Technos pumpten mir mit jedem Schlag das Hochgefühl in die Adern. Da war er wieder. Ausgestreckt lag er auf der Mauer, als wäre er nie weg gewesen. Neben ihm sein Handy, so laut aufgedreht, das es die ganze Straße mit den dröhnenden Klängen flutete. Weit über mir im vierten Stock wurde ein Fenster geöffnet, aus dem der alte Tanner sein Kopf steckte.
„Junge, wenn du nicht sofort diese gottverdammte Musik ausmachst!“, brüllte er.
Chris sah zu ihm auf, grinste und drehte die Lautstärke weiter hoch. Das machte ihn natürlich noch rasender. Wild gestikulierte er in der Luft.
„Das reicht. Ich rufe jetzt die Polizei!“ Damit knallte er das Fenster wieder zu.
Unbeeindruckt lehnte sich Chris zurück und ließ die Beine rechts und links von der Mauer baumeln. Ich fasste Mut und überquerte die Straße. Als er mich in seine Richtung laufen sah, lächelte er verschmitzt. Unter seinem Kopf lag eine dunkle Jacke und kurz kam mir in den Sinn, dass es dafür heute eigentlich zu mild war.
„Damit machst du dir nicht viele Freunde hier“, sagte ich.
Mit einem Tastendruck verstummte die Musik.
„Hä?“
„Wenn er sagt, er wird die Polizei rufen, macht er das auch“, stellte ich stattdessen klar.
Er zuckte mit den Schultern.
„Soll der Penner doch.“
Er musterte mich und seine Augen schienen kurz aufzuleuchten.
„Haste Hunger?“
Ich legte den Kopf schief, aber er war schon aufgestanden, zog sich die Jacke über und rutsche von der Mauer.
„Du willst mich jetzt aber nicht mit meinem eigenen Geld einladen?“, witzelte ich, während wir die Fichtenstraße verließen.
„Erstens is es meins, habs ehrlich gewonnen“, erwiderte er. „Und zweitens musste dafür schon was tun.“