Bevor der anschwellende Geräuschpegel die unmittelbare Nähe des Fests deutlich machte, nahm Chris seine Kappe ab und warf sie mir zu. Ich schmunzelte wegen meines kleinen Siegs und ließ sie in der Tasche verschwinden. Im großzügigen Abstand zueinander folgten wir der Schar einiger Menschen bis auf den Platz. Ein kurzer Windstoß durchwirbelte mein Haar und ich hoffte, die aufkommenden Wolken im Osten würde uns nicht die Tour vermasseln. Gedanklich ging ich Chris Anweisungen durch. Wichtig war die Beobachtung im Vorfeld, hatte er erklärt. Jackenseiten, aus denen Handys herausschauten, leicht zu öffnende Rucksäcke und Handtaschen, die außerhalb des Sichtfelds der Besitzer lagen. Komplette Taschen allerdings wären tabu, da deren Abwesenheit im Nu bemerkt würde und sie beim Abtransport auffälliger waren. Alles musste schnell und im Hintergrund passieren, denn eine Flucht bei derart vielen Menschen wäre äußerst schwierig. Dabei sollte mein Gesicht das Einzige sein, auf das man sich fixierte.
Ich atmete tief ein, um die Nervosität zu dämpfen und nur das Zucken der kleinen Muskelpartien meiner Finger zu spüren. Dann setzte ich mich in Bewegung, langsam, wie ein Kunde beim Einkaufsbummel. Dass ich die Leute aussuchen musste, war von Vorteil. So konnte ich sicherstellen, dass kein Wittelshainer uns zum Opfer fiel, auch wenn das Bequatschen von Fremden nicht einfach werden würde.
In den Reihen vor dem Karussell dann witterte ich eine Chance. Eine junge Mutter in rosa Shirt hielt nach ihrem Kind Ausschau, dass sich wie die Anderen freudequietschend im Kreis drehen ließ. Eine Hand hatte sie am seitlich stehenden Buggy, auf dessen Verdeck eine strassbesetzte Handtasche stand. Die Menschen um sie herum waren mit den eigenen Kindern beschäftigt, die entweder quengelnd auf einen Platz im Hubschrauber oder Auto warteten oder herausgehoben werden wollten, bevor sich die riesige Scheibe wieder in Bewegung setzte. Das würde einfach werden. Ich musste mir nur eine Taktik überlegen. Während ich zielsicher auf sie zusteuerte, im Wissen, dass Chris weiter hinten jeder meiner Schritte beobachtete, zog ich das passende Hilfsmittel hervor.
„Hallo“, grüßte ich die Frau. „Waren Sie schon bei Mahlers Stand?“
Sie sah etwas überrascht drein, als ich mit dem Flyer vor ihren Augen wedelte.
„Wir haben frisch gebackene Berliner, Zimtschnecken und Windbeutel. Oder für ihren Kleinen vielleicht einfach nur einen Kakao?“
Ihre Miene hellte sich auf. Den Buggy an der anderen Seite schien sie komplett zu vergessen, während sie den Flyer entgegennahm.
„Na, besser einen Kakao nach dem Karussell als davor“, sagte sie schmunzelnd und überflog Mahlers Angebot.
Ich fragte mich, ob Chris bereits zugeschlagen hatte. Anders als im Laden konnte mich keine Eingangsglocke von seinem Kommen und Gehen informieren. Und mich nach ihm umzuschauen würden nur Misstrauen wecken. Wie also sollte ich wissen, wann ich wieder das Feld räumen konnte?
„Oh ja, das hat meine Mutter auch nie riskiert“, erwiderte ich lachend. „Aber wir sind auch noch eine Weile da. Und wenn es heute nicht klappt, vielleicht morgen?“
Eine Hand streifte im Vorbeigehen meinen unteren Rücken. Flüchtig, aber mit einem Druck, der verdeutlichte, dass es kein Versehen war.
„Dann wünsche ich Ihnen noch eine schöne Zeit auf dem Fest“, verabschiedete ich mich und sie erwiderte es mit einem Zwinkern, ohne zu ahnen, dass sie gerade etwas Wertvolles gegen ein bedrucktes Stück Papier getauscht hatte.
Einige Meter weiter kam Chris an meine Seite.
„Und?“, fragte ich aufgeregt.
Er grinste schief und steckte mir unter der Hand einen rosa Geldbeutel zu, den ich augenblicklich in meine Tasche gleiten ließ. Im nächsten Moment verschwand er wieder. Ein Hochgefühl packte mich. Obwohl es nicht meine Finger gewesen waren, die danach gegriffen hatten, war die Möglichkeit dazu nur meinem spontanen Einfall zu verdanken. Und dieser stellte sich bei genauer Überlegung als recht genial heraus, denn die Verteilung von Flyern auf dem Fest war nicht unüblich. Daher würde niemand im Nachhinein darauf kommen, wann genau die Sachen verschwunden wären.
Mit einem breiteren Lächeln als zuvor steuerte ich die nächsten Besucher an. Egal ob einzelne oder zusammenstehende Grüppchen, alle konnte ich sie mit meinem Auftritt einnehmen, bis Chris ihre Jacken und Taschen um eine Kleinigkeit erleichterte. Nach den ersten paar Abgriffen hatte ich ein vages Gefühl dafür bekommen, wie lange es im Schnitt dauerte. Sechs Sekunden, länger musste ich sie nicht beschäftigen und konnte zum Nächsten übergehen.
So arbeiteten wir uns quer über den Platz und die Straße herunter, verschwanden manches mal in einer leeren Seitengasse hinter Pappaufstellern, um die Beute sicher in meiner Tasche verschwinden zu lassen, und machten weiter. Es war lächerlich einfach. Ich konnte es nicht fassen, wie unvorsichtig und gutgläubig die Leute waren. Und auch wenn nicht jeder Abgriff gelang – die ein oder anderen Habseligkeiten lagen an schwer erreichbaren Stellen oder es gab schlicht nichts Lohnenswertes zu holen - war der Erfolg unterm Strich enorm.
In der zweiten Runde visierte ich einen Mann um die Vierzig an. Ich hatte schnell gelernt, dass Männer im Allgemeinen misstrauischer reagierten, aber seine Sportjacke, die er lässig über die Schulter hängen ließ, sah zu verführerisch aus. Sicher hatte er dort den Geldbeutel verstaut. Er stand alleine da und nippte an einer Cola. Selbstsicher schlenderte ich auf ihn zu, den Flyer bereit in der Hand. Doch noch bevor ich ihn erreichte, drückten Hände mich weiter vorwärts an ihm vorbei.
„Das 'n Bulle“, raunte Chris hinter mir.
Ich warf den Kopf zurück. Der Mann trug weder eine Dienstmarke, noch hatte er eine Schusswaffe am Gürtel.
„Woher willst du das wissen?“, flüsterte ich, während er mich weiter durch die Menge schob.
„Vertrau mir, ich kenn diese Scheißkerle.“
Mit einem Mal wurde ich bleich. Ich hatte nicht damit gerechnet, einen Polizisten in Zivil hier anzutreffen. Schon gar nicht einen, dessen Gesicht ich nicht kannte. Nur der alternde Bäumer und sein jüngeres Gegenstück Hanke observierten in Dienstkleidung seit Jahren das Fest, wobei ihre einzige Aufgabe darin zu liegen schien, die Betrunkenen am Abend nach Hause zu schicken.
„Lass was futtern“, sagte Chris, ohne ein weiteres Wort darüber zu verlieren, und zog eine schwarze Geldbörse hervor.
Er steckte die Scheine ein, sah kurz auf den Führerschein und warf den Rest fort.
„Herbert lässt was springen.“
Ein wenig benommen folgte ich ihm.