Wir waren bereits einige Querstraßen weiter, da wurde mir erst klar, was ich getan hatte. Meine Hände krallten in die Lenkstange, während sich mein Kopf langsam wieder einschaltete. Ich könnte es einfach liegenlassen, hier mitten auf dem Bürgersteig. Es würde schnell gefunden und niemand würde sich lange darum kümmern, wie es dort hingekommen war. Aber es schien mir unmöglich meinen Griff zu lockern.
„Mach mal low“, sagte Chris neben mir, dem die Eile überflüssig vorkam. „Hier is doch eh kein Schwein.“
Ich hob den Kopf, der die ganze Zeit über auf das Rad starrte. Weder vor noch hinter uns war jemand zu sehen. Die Wittelshainer verbrachten den sonnigen Nachmittag lieber in ihren abgeschotteten Gärten, im Café oder dem Spielplatz, wenn nicht einige von ihnen noch auf der Arbeit waren. Niemand hatte von dem Verbrechen Notiz genommen. War es dann überhaupt geschehen? Es fühlte sich nicht wie eines an, nur wie weiches Gummimaterial unter schwitzigen Fäusten.
Hinter der nächsten Biegung würde die Straße aus dem Dorf in den Wald führen. Ohne darüber nachzudenken hatte ich diesen Weg eingeschlagen, womöglich weil ich ihn mit Chris Beute in den Taschen schon mehrmals gegangen war. Nur dass ich dieses Mal etwas bei mir hatte, das man nicht einfach unter einem Kleidungsstück verbergen konnte. Wieder beschleunigte ich meinen Gang. Ich musste das Ding schnellstmöglich aus dem Dorf bekommen. Hinter der Biegung dann stoppte ich abrupt. Eine Frau mit Kinderwagen kam in unsere Richtung gelaufen. Hilfesuchend wandte ich mich Chris zu, der nicht zu verstehen schien, weshalb ich anhielt.
„Da ist jemand“, zischte ich, obwohl uns die Frau aus der Entfernung unmöglich hätte hören können.
Er zuckte mit den Achseln und ich spürte, wie Panik in mir aufstieg.
„Ganz toll“, erwiderte ich patzig. „Wirklich super Hilfe.“
Der Kinderwagen kam immer näher. Chris ruckelte am Sattelträger, damit ich weiterschob.
„Was wenn-“, setzte ich an, aber er unterbrach mich schon.
„Wenn du die Tussi nich kennst, is es doch scheißegal. Du hast es geklaut, jetzt ziehs auch durch.“
Die Frau war nur noch einige Meter von uns entfernt. Sie trug einen breitkrempigen Sonnenhut, der es mir unmöglich machte sie zuzuordnen. Vermutlich kannte ich sie nicht, aber wer konnte das in dieser kleinen Ortschaft schon mit hundertprozentiger Sicherheit wissen? Der Gehweg wäre für Kinderwagen und Fahrrad zu schmal, also lenkte ich auf die Straße, um ihr nicht in die Quere zu kommen. Meine Fingerspitzen kribbelten dermaßen intensiv, dass ich sie noch fester um die Griffe schloss. Gleich würde sie uns passieren. Das Gesicht von ihr abgewandt, blieben meine Augen auf Chris gerichtet, der mir ein schadenfrohes Grinsen zuwarf. Ich hörte die knirschenden Kiesel unter dem Kinderwagen. Für einen kurzen Moment dachte ich, meine Beine würden nachgeben, aber sie setzten treu einen Fuß vor den anderen.
„Das glaub ich ja nicht!“
Ich erstarrte. Es war vorbei. Sie hatte mich erkannt und es würde nicht lange dauern, bis sie feststellte, dass das Fahrrad einer anderen gehörte. Die Polizei würde mich abholen, meine Mutter benachrichtigt, der komplette Ort es erfahren. Einfach alle.
Mit bleichem Gesicht drehte ich mich um.
„Das hat er wirklich gesagt?“
Meine Atmung setzte wieder ein. Sie rauschte an uns vorbei, mit dem Headset in den Ohren, dessen Kabel unter ihrem Hut baumelten. Nicht einen Blick hatte sie uns zugeworfen.
Ich beugte mich schwer über die Lenkstange und schloss die Augen, um mir vollends bewusst zu werden, dass mir mein Kopf ein Streich gespielt hatte. Chris zwickte mich neckisch in die Seite.
„Bist so ein Schisser“, sagte er. „Hab schon tausendmal 'n Rad geklaut und nie is was passiert.“
„Wir sind nicht in Berlin. Das ist hier anders...“
„Bullshit. Die Leute kümmern sich nur um ihren eignen Scheiß, auch in so 'nem Dreckskaff.“
Ich hätte ihm gerne widersprochen, gesagt, dass die Wittelshainer nichts lieber taten, als sich in fremde Angelegenheiten einzumischen. Besonders, wenn es um Menschen ging, die schwere Zeiten durchmachten. Vor Jahren hatte ich mir sehnlichst gewünscht, dass sie sich um ihre eigenen Dinge kümmerten. Doch diese Art Gespräch wollte ich mit Chris nicht führen. Er sollte mich nicht ansehen wie die anderen, für ihn sollte ich Lis bleiben.
Ich richtete mich auf, schob das Fahrrad aus dem Dorf und bei der erstbesten Gelegenheit in den Wald.