Ich begann einen der leeren Tische abzuwischen, als ich die alten Damen losschnattern hörte. Iris Grumann, deren Familie Stammkunde bei uns war und ihre Plaudergesellin Gerda Alsbach trafen sich beinahe täglich zum Kaffeeklatsch und genauso oft hatten sie Neuigkeiten aus der Nachbarschaft zu berichten, mal Wahre, mal Unwahre.
Thema Nummer Eins in den letzten Tagen war natürlich der Vandalismus in der Ringgold-Schule. Dabei wurden hauptsächlich irgendwelche Teenager verdächtigt. Die einen, weil sie aus einer schwierigen Familie kamen, die anderen, weil sie gelegentlich laute Partys feierten oder einfach nur, weil man bei ihnen schon immer ein komisches Gefühl hatte. Alteingesessene Wittelshainer hielten die Schulleitung für unfähig, ihr eigenes Gelände zu schützen, manch einer bezeichnete die Schmiererei sogar als Attentat auf die guten Sitten.
Und auch die Schule hatte ein ziemliches Aufhebens darum gemacht. Zwischen den Unterrichtsstunden mussten freie Lehrer die Gänge überprüfen, die Mitnahme des Rucksacks war nur noch bei direktem Zimmerwechsel erlaubt und Schüler, die um die Tatzeit nicht in ihren Klassen waren, wurden zum Verhör ins Rektorzimmer geholt. Nicht nur Lena-Marie ärgerte sich darüber, dass wir allesamt für das Vergehen eines Einzelnen bestraft wurden.
Ich hingegen fand den ganzen Wirbel überzogen. Das ein hässliches Graffiti die Routine der Leute durcheinanderbringen konnte, zeigte nur, wie festgefahren sie waren. In den Schulen Berlins stand so etwas sicher an der Tagesordnung und kümmerte die wenigsten.
„Haste den Bengel gesehen, der hier seit kurzem rumschleicht?“, hörte ich Iris fragen.
Ich wurde hellhörig. Bad Guy war also schon den anderen aufgefallen. Da der Dorffunk – wie meine Mutter es im Scherz nannte – nur wenige Tage zum Verbreiten der interessantesten Meldungen brauchte, schätzte ich seine Ankunft auf Ende letzter Woche.
„Das der Sohn vom Hauke“, erklärte Iris. „Hat die Didi gesagt.“
Ich stieß einen leisen Seufzer aus. Hauke Martens. Unter allen merkwürdigen Bewohnern des Dorfes hätte es den Jungen nicht schlechter treffen können. Martens war bekannt dafür, im Vollrausch schnell handgreiflich zu werden. Und den hatte er nicht selten. Man machte besser einen großen Bogen um sein Haus, aus dessen Fenster er lehnte und jedem mit Schimpftiraden auf die Nerven ging.
„Wenn dit der Sohn vom Hauke is“, krächzte Gerda. „Dann is dit sicher der Christian. Is mit der Mutter damals jejangen. Der armen Frau...“
Ich wandte mich ihrem Tisch zu und räumte geschäftig die leeren Tassen auf mein Tablett. Normalerweise hatte ich am Geschwätz der Damen kein Interesse und meine Mutter sagte immer, dass es nichts Unhöflicheres gab, als einem fremden Gespräch zu lauschen, doch wenn ich bei meiner Arbeit zufällig etwas zu hören bekam, konnte man mir das ja nicht vorwerfen.
„Aber warum hat sie ihn dann wieder zurückgeschickt?“, überlegte Iris laut und schob sich nachdenklich ein weiteres Stück Kuchen in den Mund.
„Melissa, Täubchen“, sagte Gerda. „Holste noch'n Kaffee, sei so lieb.“
Ich nickte und kritzelte die Bestellung auf meinen Block.
„Vielleicht noch ein Stück Himmbeertarte? Ist gerade frisch fertig geworden.“
„Och Kind, ick muss och auf de Linie achten“, erwiderte sie mit einem Zwinkern.
„Ich kann ja auch ein gaaanz Kleines bringen“, lockte ich und zeigte zwischen Daumen und Zeigefinger einen minimalen Abstand.
„Na jut, an Kleenes wird ma nüscht umbring.“
Ich strahlte über beide Ohren und räumte auch Iris Geschirr ab.
„Ach Melissa, ist der Christian vielleicht auf deiner Schule?“, fragte sie unvermittelt.
„Och Iris, jetzt lass doch det arme Mädchen mit sowas in Ruh“, warf Gerda entrüstet ein. „Det hat och jar nix zu tun mit solche Leute.“
„Christian?“, fragte ich gespielt unwissend.
„Ja, Christian Martens.“
Ich schüttelte den Kopf.
Als hätte ich nach dem Graffiti-Vorfall in der Schule nicht schon selbst Ausschau nach ihm gehalten. Nur um feststellen zu müssen, dass es dort niemanden Neues gab.
„Ich kenne keinen Martens an der Ringgold.“
„Natürlich nüscht. Bist auch een viel zu kluges Mädchen, um dit mit so'nem abzujeben. Und de Penne hat nu wirklich größre Sorgen grad, mit dit furchtbaren Schmierereien da.“
„Aber das geht doch nicht, dass der nicht die Schule besucht“, lamentierte Iris, „Da muss man doch was machen.“
Ich ging an die Theke, um die Bestellung vorzubereiten. Mehr musste ich nicht hören, und sich in ein längeres Gespräch verwickeln zu lassen, wäre nicht nur langweilig, sondern auch unklug. Ich hatte die Erfahrung gemacht, dass Meinungsäußerungen gegenüber Kunden einen langen Rattenschwanz nach sich zogen. Allein meine Mutter schien ein Gespür dafür zu haben, wann man was zu wem sagen konnte.
Der Kaffeevollautomat ratterte und brummte, als ich mehr Bohnen einfüllte.
Christian Martens also. Der schlanke Junge mit den geschickten Händen und den dunklen Augen. Christian, Christian...
Die Ladenglocke ertönte. In meiner Träumerei erwartete ich, dass er das Café betrat, mich erkennen und sich für sein Verhalten entschuldigen würde. Dabei würden seine Finger meine streifen.
„Hallo Melli“, grüßte eine tiefe Männerstimme vor mir.
Ich riss die Augen auf. Schlagartig war ich wieder in der Realität, in der der Kaffee beinahe über den Tassenrand schwappte und mich Gregor mit seinen harten Zügen musterte.
„Ah, hallo“, gab ich zurück.
Ich bewahrte den Automaten vor einer Überschwemmung und befüllte eilig das Tablett.
„Mama kommt gleich bei dir vorbei, nimm doch schon mal Platz.“
Damit rettete ich mich zu den Damen und huschte anschließend in die Backstube, in der meine Mutter hinter dem Ofen ein neues Blech Kuchen vorbereitete.
„Mama, ich muss jetzt los!“, rief ich und riss die Schürze fort. „An Tisch 5 muss noch 6,20 abgerechnet werden. Danke!“
Meinen Rucksack schnappte ich mir im Gehen von der Wandgarderobe.
„Halt, halt! Warum denn so eilig, Mel?!“
Seufzend blieb ich zwischen Stube und Theke stehen. Ich hasste es, wenn sie mich Mel nannte. Diesen Namen hatte Papa benutzt, hauptsächlich dann, wenn er mich tadelte. Gründe dafür hatte es damals genug gegeben.
„Seit wann stiehlst du dich einfach so davon?“, fragte sie, während sie aus der Ecke kam und sich das Mehl von den Händen klopfte.
Mit forschendem Blick wollte sie meiner Hast auf die Spur kommen, dann aber erkannte sie Gregor weiter hinten sitzen, der die Tischkarte studierte.
„Ah, ich verstehe“, flüsterte sie verschwörerisch, als hätte sie ein Geheimnis aufgedeckt.
„Kannst du bitte mit ihm reden?“, fragte ich in fehlenden Ton.
Selbst an diesem vertrauten Ort würde ich mich in Gregors enges Büro zurückversetzt fühlen, wenn er auf den Diebstahl zu sprechen kam. Es wäre eine Fortsetzung des Verhörs, das ich unter allen Umständen umgehen wollte.
Meine Mutter lächelte verständnisvoll.
„Na klar, ab mir dir.“