Als sich Chris mit mir im Fahrensweg treffen wollte, prüfte ich beim Einbiegen in die Straße mehrfach die Umgebung, um sicher zu gehen, dass ich keinem der Bewohner auffiel. Die Blicke in der Schule hatten mich beunruhigt. Aber womöglich bildete ich mir das auch nur ein. Vielleicht hatte mich das Zusammentreffen mit Frau Weigart doch soweit aus der Fassung gebracht, dass ich Unmögliches zusammenfantasierte. Dass ich gerade jetzt an sie denken musste, war kein Zufall, denn ein Stück weit die Straße herunter wohnte sie in einem der pastellfarbenen Reihenhäuser. Ich sah auf die Uhr. Wenn sie ihre Routine beibehielt, wäre sie gerade auf dem Wochenmarkt im Ortskern. Trotzdem sollte ich nicht länger als nötig in der Nähe ihres Hauses bleiben. Sicher ist sicher.
Wie auf Kommando tauchte Chris hinter einer Reihe geparkter Autos auf, mit der Sonnenbrille auf der Nase und einem grauschwarzen Plüschding unter dem Arm. Mein Lächeln gefror. Es war Molli.
Ihr kleiner Körper zappelte begeistert, als sie mich erkannte.
„Sag nicht -“, begann ich, doch dann fiel mein Blick auf den bläulich-violetten Fleck, der sich über Chris Wangenknochen zog.
Ich schluckte und wandte die Augen auf Molli, über deren Kopf ich tätschelte, damit sie sich nicht vor lauter Aufregung aus seinem Griff wand. Es war nicht der rechte Ort, um das Veilchen anzusprechen. Nicht mit einem gestohlenen Tier in der Straße seiner Besitzerin.
„- du hast sie einfach aus dem Garten geholt“, beendete ich den Satz mit belegter Stimme, wodurch es mehr nach einer Feststellung klang.
Er grinste nur verschmitzt. Hatte er komplett den Verstand verloren? Das war nicht einfach eine Packung Skittles oder ein Radler. Man würde sie vermissen, nach ihr suchen. Hektisch drehte ich den Kopf in alle Richtungen, während ich Chris folgte, der mit dem Mops in aller Seelenruhe um die nächste Ecke bog.
„Was willst du denn mit ihr machen?“
„Weiß nich. Vielleicht steck ich ihm 'n Knaller in den Arsch und guck, wie weit er fliegt“, sagte er und lachte über seinen Einfall.
Genervt verdrehte ich die Augen. Es war eine unüberlegte, saudumme Aktion und ich war nicht bereit, da mitzumachen. Aber den Hund mit ihm alleine lassen wollte ich auch nicht.
Das Haus von Frau Weigart war längst nicht mehr in Sicht, als er Molli absetzte, die kurz zurücksah, uns dann aber brav hinterher tapste. Sie war eben ein vertrauensseliges Ding.
„Was ist, wenn jemand nach dem Hund sucht?“
Ich versuchte es mit dem alten Risiko-abwägen-Prinzip. Wenn er nur genau darüber nachdenken würde, würde er sicher einsehen, dass das Ganze bescheuert war. Doch er zuckte nur gleichgültig mit den Schultern.
„Und wenn uns jemand mit ihr sieht?“
„Dann sagen wir, wir habn das Vieh gefunden. Um keine Ausrede verlegen sein. Is auch 'ne Regel.“
Jetzt war ich mir ziemlich sicher, dass er sich die Regeln nur ausgedacht hatte, um sie aus dem Ärmel ziehen zu können, wenn es ihm passte. Ganz egal, welche andere er damit brach.
„Mann, jetzt trödel nich so“, meckerte er.
Molli hatte Mühe seinen großen Schritten zu folgen. Mit der Angst in den Augen, alleine zurückgelassen zu werden, dribbelte sie uns keuchend hinterher. Chris stöhnte ungeduldig.
„So wird's ewig dauern. Na komm her, du blöde Töle“, sagte er und klemmte sie wieder unter seinen Arm.
Freudig zuckte ihr Stummelschwanz von rechts nach links.
„Was biste nur für'n hässlicher, kleiner Bastard.“
Sie gab ein begeistertes Schnaufen von sich, denn der Inhalt seiner Worte interessierte sie nicht, nur die Art wie er es sagte. Molli war eben nur ein dummer Hund. Und doch bemerkte ich einen Anflug von Neid, als er sie hinter dem Ohr kraulte und ihre Schnauze tätschelte.
„Eigentlich ist Er eine Sie“, erklärte ich.
„Deshalb biste so fett“, sagte er an Molli gewandt. „Frauchen sperrt dich Zuhaus ein und verhätschelt dich. Machen die doch immer so mit ihrn Weibern.“
Bis wir die Straße wenig später verließen, waren uns nur tobende Kinder auf Inlineskates sowie die steinalte Berger begegnet, die über ihren Rollator gebückt schon lange nichts mehr von der Welt mitbekam. Wir folgten einem staubigen Landweg aus dem Ort, bis er sich geradewegs durch lange Rapsfelder zog. Die Anspannung, die mich den Weg über begleitet hatte, fiel zwischen dem goldgelben Blütenmeer vollständig ab. Außer den sanft vor sich hinsummenden Bienen war niemand weit und breit zu sehen. Aber selbst wenn uns ein Spaziergänger entgegengekommen wäre, mit einem Hund würden wir hier nicht weiter aufgefallen.
Abseits der Pfade steuerte Chris einen Grünstreifen an. Zwischen Raps und verwilderten Büschen dann setzte er Molli ins Gras. Aufgeregt drehte sie sich im Kreis, schnüffelte an den grünen Halmen und machte neben ihm Platz.
„Na los“, sagte er und wedelte mit den Händen. „Hau ab.“
Die runden Knopfaugen guckten ihn gespannt an.
„Mach schon! Oder muss ich dir 'n Tritt verpassen?“
Wieder drehte sie sich im Kreis und sah zu ihm auf. Resigniert ließ er sich ins Gras sinken.
„Was dachtest du denn, was passiert?“, fragte ich und setzte mich ebenfalls.
„Das er abhaut. Is hier doch schöner als so'n abgefuckter Garten.“ Erneut wedelte er mit den Armen, was ein wenig aussah, als wollte er ein Insekt verscheuchen. „Verpiss dich jetzt endlich!“
Doch Molli neigte nur ihren Oberkörper und bellte spielerisch.
„Sieht so aus, als mag sie nicht abhauen“, sagte ich. „Vielleicht gefällt ihr der Garten. So ein schlechtes Leben ist das doch gar nicht.“
„'N Leben in so'nem kleinen Scheißding kann einen gar nich gefallen.“
Ich streckte mich genüsslich aus und blinzelte in den Himmel, der mit hellen Wolkenfetzen seine ganz eigene Landschaft zeichnete. Wenn wir heute schon nichts abgreifen würden, konnte ich genauso gut das herrliche Wetter genießen.
„Manchmal ist es schön, aus dem eigenen Garten herauszukommen. Aber es ist auch schön, zu wissen, dass er immer da sein wird und auf einen wartet.“
„Bullshit, der brauch nur 'n Schubs.“
Er griff nach einem verrotteten Stock und warf ihn im hohen Bogen in einen der Weißdornbüsche. Sofort flitzte Molli hinterher, so schnell ihre kurzen Beine sie tragen konnten, und verschwand in der Hecke.
Zufrieden klopfte Chris die Holzreste von den Händen.
„Geht doch.“
Seine Ahnungslosigkeit amüsierte mich. Er schien tatsächlich nicht zu wissen, wie Hunde tickten. In wenigen Sekunden würde ich einiges zu lachen haben. Schon flitzte sie aus dem Weißdorn und trabte mit dem Stock im Maul erhobenen Hauptes zurück, wo sie das angesabberte Ding vor Chris Sneakern fallen ließ.
„Is nich dein Ernst“, stöhnte er und rieb sich frustriert über das Gesicht.
Ich kicherte in mich hinein.
Wütend packte er den Stock und sprang auf.
„Du blöde Töle!“, bluffte er, als er ihn mit aller Kraft durch die Luft schleuderte. „Was stimmt nur nich mit dir?! Hast die Chance abzuhauen und machst nix!“
Wieder sauste Molli dem Stück Holz hinterher. Gleich würde sich das Drama wiederholen. Er wusste es, ich wusste es. Und doch leuchtete mir sein Zorn nicht sofort ein. Wieso war es ihm so wichtig, dass Molli frei war? Warum sollte sie den Drang verspüren, nie wieder in ihr Zuhause zurückgehen zu wollen?
Dann fiel mein Blick auf seine Wangenblessur. Ich fasste Mut und stellte die entscheidende Frage.
„Was ist mit deinem Gesicht passiert?“
Ich versuchte, es wie eine Nebensächlichkeit klingen zu lassen. Er war bereits genervt und ein mitleidiger Ton hätte es nur schlimmer gemacht. Aus der Zigarettenpackung fischte er die Letzte heraus, steckte sie hinter das Ohr und zerknüllte die leere Schachtel.
„Ach nix. Der Alte war der Meinung, ich hätt sein Bier geklaut.“
„Hast du denn?“
Er sah mich entgeistert an.
„Tut doch nix zur Sache. Er is einfach 'n dummer Wixxer.“
Ich verschränkte die Arme hinter den Kopf und zog eine Schnute.
„Schade. Dann hätten wir jetzt zumindest was zu Trinken.“
Ein schiefes Lächeln legte sich über seine Lippen.
„Was biste nur für'n kleines Miststück?!“, sagte er und wollte mir in den Bauch kneifen.
Mit einer geschickten Bewegung wehrte ich seinen Angriff ab und stürzte mich auf ihn, um in die weiche Stelle zwischen Hüfte und Brust zu zwicken. Ein paar Treffer konnte ich landen, bis er mich abwarf, auf den Boden drückte und mich hart in den Seiten kitzelte. Mein Gekreische war weit über die Felder zu hören.
„Na, wer is der Boss?! Wer is der Boss?!“
Ich bekam kaum Luft vor lauter Lachen.
„Du...haha... Du...“
Er kniff weiter in die sensiblen Zonen.
„Was ich?!“
„Du bist der Boss!!!“, prustete ich und endlich ließ von mir ab.
Seine Augen pulsierten vor Euphorie. Triumphierend packte er mein Kinn zwischen Zeigefinger und Daumen, öffnete mir die Lippen und küsste seine Beute.