Es war nun schon ein paar Tage her, seit Kai und Suna die Klan- Gemeinschaft verlassen hatten und Katola wurde auf einmal von einer tiefen Besorgnis ergriffen. Sie wollte darum heute nicht nur die neue Welt erkunden, sondern auch eine neue Baumhöhle anfertigen, vielleicht konnte sie dadurch etwas über das Schicksal des verbannten Liebespaares erfahren. Hoffentlich fand sie überhaupt einen Baum dafür.
Sie verwandelte sich in einen wunderschönen Gold- Specht, mit braungoldenem, schwarz gebändertem Deck- Gefieder und braunschwarzen, an der Unterseite leuchtend gelben Schwanz- und Flugfedern. Ihr goldbraunes Bauchgefieder war schwarz getupft. Sie besass ausserdem ein halbmondförmiges, schwarzes Brustabzeichen und einen schmucken, feuerroten Nackenfleck.
(https://de.wikipedia.org/wiki/Goldspecht oder auch https://www.pinterest.com/pin/338262622001281401/)
Mit einen lauten, durchdringenden Ruf, flog sie los!
Tatsächlich war das neue Land schon viel grösser geworden. Die vernichtenden Wasser, wichen immer mehr zurück und einige Pflanzen und Gräser, begannen bereits wieder zu spriessen.
In der Ferne erblickte Katola einige schroffe Berggipfel. An ihren, nach unten abflachenden Hängen, konnte sie sogar einige zerzauste Bäume ausmachen, welche der grossen Flut getrotzt hatten. Es handelte sich dabei um ein paar mächtige Tannen. Voller Freude flog Katola darauf zu und landete auf einem der rauen Stämme. Durch ihre speziell für das auf- und ab klettern an Bäumen konzipierten, zwei- paarig gestellten Krallen, fand sie guten Halt an der Rinde. Sie lauschte in den Baum hinein, um festzustellen, wo die beste Position für die geplante Höhle war. Schon bald wurde sie fündig und begann mit ihrer Arbeit. Mit kräftigen Hieben ihres Meisselschnabels, drang sie immer tiefer und tiefer in das Holz vor. Als sie dachte, die Höhle sei gross genug, hüpfte sie ganz nahe an deren Rand heran und schaute in die dahinterliegende Finsternis, ihre Gedanken fest auf Kangi und Suna ausgerichtet. Eine Weile geschah nichts, doch dann auf einmal geriet die Dunkelheit in Bewegung, waberte hin und her und schliesslich erschien ein verstörendes Bild! Sie sah Kangi und Suna, welche vor mehreren Schlangen, darunter auch Braunhaut, flohen. Auf dem Kamm einiger schroffen Klippen, die steil in ein tosendes Meer abfielen, trieben die Reptilien sie in die Enge. Voller Entsetzen beobachtete Katola, wie Braunhaut mehrmals vorschnellte und Kangi qualvoll zu Tode biss. Ein entsetzter Schrei, der in ihrer Specht Gestalt eher wie ein panisches Keckern klang, entrang sich ihrer Brust. Sie musste handeln. Aber…, wenn das alles bereits geschehen war? Bei den Baumhöhlen wusste man nie, ob sie Szenen aus der Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft zeigten. Es hätte auch einfach eine Vision sein können. Wenn es ein Bild aus der Zukunft war, dann konnte Katola dieses schreckliche Ereignis aber vielleicht noch verhindern. Ohne noch länger zu zögern, erhob sie sich wieder in die Lüfte und machte sich auf die Suche nach den mächtigen Meeresklippen, welche sie in ihrer Vision erblickt hatte. Dafür schraubte sie sich hoch hinauf in den Himmel. Einige Aufwinde halfen ihr, dabei nicht allzu viel Kraft zu verlieren. Von hier oben hatte sie einen guten Blick über die ganze Umgebung der neuen Welt. Diese war bereits nach allen Seiten stark gewachsen. Aber wo waren diese dunklen Klippen?
Ihre scharfen, schwarzen Augen blickten sich um und schliesslich wurde sie fündig! Wie ein Pfeil schoss sie wieder in niedrigere Luft- Schichten hinab und flog auf eine gezackte, schwarze Linie zu, welche an der Küste, nicht weit östlich ihres ursprünglichen Ausgangspunktes, entfernt lag. Wie die Zähne eines mächtigen Ungeheuers ragten die Klippen in den Himmel. An ihrem Fusse, brachen sich schäumend die hohen Wellen. Katola welche ein fotografisches Gedächtnis besass, hatte die Stelle, an der Braunhaut Kangi getötet hatte, schnell gefunden. Kai war nach dessen tödlichen Bissen die Klippen hinabgestürzt.
Katola flog hinab zur Brandung. Dabei hoffte sie innbrünstig, dass sie noch nicht zu spät war. Doch ihre Hoffnung wurde sogleich zerschlagen, als sie auf einem Felsen, der aus dem schäumenden Meer ragte, eine grosse Blutlache erblickte.
„Beim grossen Geist!“ dachte sie. „Es… ist bereits zu spät!“ Sie landete ausser Reichweite der gierigen, bedrohlich wirkenden Wellen und dabei fiel ihr eine Blutspur auf, welche von der rotglänzenden Lacht fortführte. Es sah beinahe so aus, als habe jemand Kais toten Körper noch ein Stück weit ins Landesinnere geschleift. Katola folgte, mit heftig klopfendem Herzen und trockener Kehle der blutigen Schleifspur und schliesslich gelangte sie zu einem, aus Steinen und Sand aufgeschichteten Hügel. Dieser sah aus… wie ein Grabhügel! Sie hüpfte näher… Langsam, vorsichtig, als könnte sie selbst jeden Augenblick von einer Schlange angegriffen werden. Mit ihrem Schnabel entfernte sie etwas von dem Sand und einige kleinere Steine und… tatsächlich tauchte schliesslich ein menschlicher Handrücken auf, der bereits die ersten Spuren der Verwesung trug. „Oh nein!“ dachte sie bei sich und taumelte zurück. Ihr wurde auf einmal schlecht und sie musste aufpassen, sich nicht zu übergeben. Zum Glück war sie noch immer ein Vogel.
Das hier war tatsächlich Kangi! Er war… bereits tot.
Nach der ersten Übelkeit, ergriff Katola schreckliche Trauer. Der Mann, den sie schon so lange liebte, hatte auf so furchtbare Weise den Tod gefunden und sie… hatte ihm nicht mehr helfen können. In solchen Augenblicken verfluchte sie ihre, eigentlich viel zu schwache Sehergabe.
Auf einmal durchzuckte sie ein schrecklicher Gedanke. Scharf wie ein Messer bohrte er sich in ihre Seele: Wenn Kai von den Schlangen umgebracht worden war, wo war dann eigentlich Suna? Hatte sie vielleicht diesen Grabhügel für Kangi errichtet? Aber dann lebte sie vielleicht noch! Katola erhob sich erneut in die Lüfte und suchte ihm Tiefflug nochmals alles genauestens ab. Aber sie fand keine Spur von Suna. Als sie jedoch etwas weiter ins Landesinnere flog, vernahm sie auf einmal zischelnde Stimmen unter sich. „Das müssen die Schlange sein! Diese niederträchtigen Biester! Ich werde dafür sorgen, dass sie ihrer gerechten Strafe zugeführt werden!“ ging es ihr durch den Kopf, dann setzte sie zu einem leisen Sinkflug an…
Auf einer Felsnase, von der aus sie einen guten Blick, auf die unter ihr versammelten Schlangen hatte, landete sie.
Braunhaut sprach gerade mit hasserfüllter Stimme: „Endlich haben wir uns an Kai gerächt! Dumm nur, dass wir das Mädchen verloren haben.“ Zustimmendes Zischeln, von Seiten der anderen Schlangen, ertönte. Eine von ihnen, welche braunschwarz gefleckt war, sprach: „Irgendwann werden wir sie bestimmt finden. Sie kann ja nicht weit sein.“
„Was aber, wenn sie uns beim Rat anschwärzt?“ gab eine rotbraune Schlange zu bedenken.
Doch Braunhaut meinte höhnisch. „Wohl kaum! Sie und Kangi sind Verbannte. Sie wird es nicht wagen, zurückzukehren.“
„Denkst du?“
„Bestimmt. Ausserdem ist sie sich nicht an das Überleben in dieser unwirtlichen Gegend gewöhnt. Sternenkinder sind viel zerbrechlicher und anspruchsvoller, als wir. Kleine Nager, wie Mäuse oder auch einige Insekten und Würmer, die wir fressen, lassen sich leicht finden. Ausserdem brauchen unsere Körper viel weniger Nahrung, als die der Menschen. Wir werden vielleicht schon bald die vorherrschende Spezies hier sein!“
„Also ich weiss nicht so recht. Der Rat ist immer noch mächtig,“ gab eine olivgrüne Schlange zu bedenken.
„Fragt sich nur noch, wie lange,“ sprach Braunhaut. „Die Klan- Gemeinschaft ist bereits gespalten. Stellt euch nur mal vor, wie es erst sein wird, wenn die grossen Fleischfresser zu wenig Nahrung finden! Früher oder später werden sich alle gegenseitig zerfleischen.“
„Aber die neue Welt wird grösser und grösser. Bald wird es für alle wieder genug zu fressen geben.“
„So schnell geht das nun auch wieder nicht,“ meinte Braunhaut mit einem boshaften Funkeln in den Augen. „Darum müssen wir schon bald zuschlagen!“
Katola zuckte zusammen und wäre vor Schreck beinahe von der Felsnase gefallen, auf der sie sass. „Was um alles in der Welt, hat diese verfluchte Schlange vor?“ dachte sie bei sich.
Braunhaut fuhr mit selbstgefälliger Stimme fort: „Jetzt, da alle Klans noch körperlich und moralisch geschwächt sind, ist die perfekte Gelegenheit für uns, Rache zu nehmen. Vor allem an den… verfluchten Sternenkindern!“
Als das Wort Sternenkinder ertönte, zischten die anderen Schlangen hasserfüllt und wieder erhoben sich zustimmende Rufe. „Ja, wir sollten sie alle töten! Nieder mit diesen widerlichen Zweibeinern!“
Braunhaut wiegte seinen Kopf hin und her, als würde er zu einer Melodie tanzen. Dann sprach er: „Ihr sprecht mir aus dem Herzen meine treuen Brüder und Schwestern. Wollt ihr mit mir zusammen diesen Weg gehen und die Klan Gemeinschaft, aber vor allem die arroganten Sternkinder, das Fürchten lehren?“
„Ja, das wollen wir!“ riefen alle Schlangen einstimmig. „Dann lasst mich euch mein Vorhaben also genauer erläutern…!“
Katola hörte mit Schrecken, den düsteren Plänen der verräterischen Schlangen zu. Schliesslich hatte sie genug gehört. Mit rasend klopfendem Herzen, erhob sie sich wieder in die Lüfte und flog in Windeseile zurück um die anderen Klan- Mitglieder und den Rat der Ältesten, vor dem drohenden Unheil zu warnen.