Nathalie erhob sich nun in die Lüfte, um das Boot schneller zu erreichen. Es war ein unglaubliches Gefühl! Jetzt da Nathalie selbst ein Vogel war und nicht nur eine Trittbrettfahrerin, wie damals bei dem Adler oder der Krähe, war dieses noch viel intensiver. Zwar war sie als Schwan etwas schwerfälliger als z.B. ein Alder, dennoch war sie wie verzaubert, von all den Eindrücken, die auf sie einwirkten. Unter ihr glitt, das im Abendlicht funkelnde Wasser dahin und sie hielt nun, von ihrem erhöhten Standpunkt aus, weiter nach dem kleinen Schlauchboot Ausschau. Zwar waren ihre Augen in dieser Gestalt nicht sonderlich gut und auch sonst schienen all ihre Sinne etwas gedämpfter. Dafür spürte sie eine ganz neue Verbindung zu Mutter Erde und vor allem dem Wasser unter sich. Ein Gefühl von Heimat und Geborgenheit erfasste sie und sie verlor sich beinahe in ihren Träumereien, als ihr erneut mit schrecklicher Deutlichkeit bewusst wurde, wie weit das kleine Schlauchboot schon abgetrieben war und wie dieses immer mehr Luft verlor.
Sie verschnellerte ihr Tempo nochmals und setzte, als sie das Boot schliesslich erreicht hatte, zum Sinkflug an. Die beiden Mädchen riefen nun noch lauter um Hilfe. Der Boden des Bootes war nun ganz ohne Luft und nur sein Rand war noch stabil, was es jedoch in eine ziemliche Schieflage brachte. Aus diesem Grund konnten die Mädchen auch nicht mehr richtig rudern.
„Haltet euch gut fest!“ rief Nathalie. Doch Elli und Sally verstanden sie wohl nicht, denn nur ein lautes Quaken, drang aus Nathalies Kehle. Klar! Sie war ja jetzt ein Schwan! Sie landete neben dem Boot und packte den Strick, der an seinem Bug befestigt war mit ihrem orangen Schnabel. Dann zog sie dieses, mit aller Kraft, hinter sich her. Die beiden Mädchen erkannten scheinbar, dass der Schwan ihnen helfen wollte und versuchten, während sie sich an den Überresten des Schlauchbootes festhielten, etwas mitzupaddeln, auch wenn dies nur sehr wenig brachte.
Das Boot in seinem beschädigten Zustand zu ziehen, war gar nicht so einfach für Nathalie. Sie konnte als Schwan zwar sehr gut schwimmen, aber sie hatte nun auch weniger Kraft als ein Mensch. Das Ufer kam zwar immer näher, aber in ihr machte sich nun immer mehr eine schreckliche Erschöpfung breit. Als… unter ihnen auf einmal ein mächtiger Schatten erschien!
Als die beiden Mädchen diesen erblickten, kreischten sie laut und deuteten darauf. Auch Nathalie erschrak anfangs zu Tode, quakte und schnatterte ängstlich. Was um alles in der Welt war das? So grosse Fische bekam man doch sonst im Bodensee nie zu Gesicht und sie waren normalerweise auch nicht gefährlich. Nun gut… zumindest nicht gefährlich für Menschen, aber für Schwäne vielleicht doch? Tatsächlich schien es dieser schwimmende Gigant auf sie abgesehen zu haben, denn er kam immer näher. Sie wollte schon zum Angriff übergehen, als der Fisch, es war ein gewaltiger Wels, sich auf einmal unter das kleine Boot schob und dieses leicht anhob. Auf einmal kam Nathalie ein Gedanke und sie wollte etwas rufen. Doch wieder drang nur ein Quaken aus ihrer Kehle. Jedenfalls war der Fisch offensichtlich da um zu helfen und zusammen, kamen sie nun viel schneller vorwärts.
Auf halben Wege kam ihnen dann auch noch Jonathan entgegengeschwommen und mit vereinten Kräften schafften sie es schliesslich ans rettende Ufer. Dort angelangt, wurde Nathalie von undendlicher Erschöpfung übermannt und brach noch auf dem steinigen Ufergrund zusammen.
Nachdem sie aus ihrer kurzen Ohnmacht erwachte, erkannte sie, dass sie wieder ein Mensch war. Um sie herum standen Jonathan und die anderen mit besorgten, aber auch bewundernden Blicken.
„Das war unglaublich!“ rief ihr Liebster aus und schloss die schlotternde Nathalie in seine Arme. „Du hast dich das erste Mal in eine Tier verwandelt! Das ist ein ganz besonderes Ereignis!“
„Allerdings,“ erklang nun die ruhige, bewegte Stimme von Wandernder Bär. „Deine Ausbildung zur Animalriderin war also erfolgreich. Du warst vorhin sehr tapfer und heldenhaft.“
Die junge Frau, welche noch selbst nicht recht glauben konnte, was sich da zugetragen hatte, erwiderte: „Ja, das war wirklich der Wahnsinn. Allerdings hätte ich ohne die Hilfe des grossen Fisches, Ellie und Sally vermutlich nicht so reibungslos ans Ufer bringen können.“
Sie musterte ihren Lehrmeister prüfend. „Kann es sein, dass du dieser Fisch warst, Ate?“ Der Angesprochene schmunzelte vielsagend und zwinkerte ihr zu. „Tja, wer weiss, wer weiss…“
„Klar war er es!“ rief Jonathan aus. „Ich habe es selbst gesehen. Ein unglaubliches Schauspiel, dessen ich noch nie zuvor, ansichtig geworden bin. Aber auch deine Verwandlung war äusserst beeindruckend!“ meinte er dann liebevoll an Nathalie gewandt. „Du hast als Schwan eine grossartige Figur gemacht! Wer hätte gedacht, dass meine Legende über den Schwan so viel in dir auslösen würde.“
„Ja, diese Legende hat mich wirklich sehr beeindruckt. Aber vermutlich war es auch die grosse Besorgnis um Ellie und Sally, die mich über mich hat hinauswachsen lassen,“ gab Nathalie zurück. „Die Legende beeinflusste dennoch ziemlich sicher, dass ich zum Schwan wurde. Der Impuls zu dieser Verwandlung hat schlussendlich meine Angst um die Mädchen gegeben.“
„Bestimmt war es ein Zusammenspiel mehrerer Faktoren,“ meinte William. „Jedenfalls bist du tatsächlich über dich selbst hinausgewachsen.“
„Wir hätten niemals so weit rausrudern dürfen,“ meinten die beiden Indianermädchen zerknirscht. „Ihr habt uns ja noch gewarnt.“
„Ach was! Wenn das Boot nicht plötzlich Luft verloren hätte, dann wäre das alles nie so gefährlich geworden,“ erwiderte Nathalie schuldbewusst. „Dabei habe ich das Schlauchboot doch vor kurzem noch selbst benutzt und es auf Schwachstellen untersucht. Irgendetwas muss geschehen sein, durch das es einen Schnitt oder ein Loch bekommen hat.“
„Manchmal wird der Gummi solcher Boote auch spröde mit der Zeit,“ beschwichtigte sie Will. „Du darfst dir deswegen nicht zu viele Vorwürfe machen. Immerhin hast du die Mädchen ja schlussendlich gerettet.“
„Aber auch nur mit deiner Unterstützung,“ gab Nathalie bekümmert zurück. „Ich habe nur einen kleinen Beitrag geleistet. Du hättest das sicher auch ohne mich geschafft.“
„Danke, dass du uns gerettet hast!“ riefen die Mädchen und umarmten Nathalie liebevoll. Diese musste nun doch wieder lächeln und meinte: „Gern geschehen!“