Lootie ist ein gutes Kindermädchen. Sie spricht nicht viel, sie passt gut auf. Seit dem schrecklichen Vorfall damals waren alle froh, dass das Mädchen überhaupt noch zu irgendeiner Aufgabe tauglich war. Lootie war das einzige überlebende Kind einer großen Tragödie und was auch immer sie damals sah, setzte ihr so sehr zu, dass sie nie wieder ein Wort sprach und auch sonst mehr mit Gespenstern Blickkontakt hielt, als sich den Lebenden zu widmen. Nach ihrer Ausbildung verließ sie die Heimat und ließ sich als Lottie an einem guten Hof anstellen. Die Dame des Hauses war gerade der verstorben - wie es so oft der Fall ist bei Märchen - und nun war niemand da, der sich um das Kindelein kümmern konnte. Vergessen wir mal den Vater, der anscheinend anderweitig sehr viel zu tun hatte. Wen interessiert es an dieser Stelle, wir wollten uns ja um Lottie kümmern. Wie ein braver Collie folgte sie dem kleinen Mädchen, welches Ayrin hieß und passte gut auf es auf.
Die kleine Prinzessin spielte immer mit dem Sohn des Steigers Kurtie. Der war ein fleißiger und braver kleiner Kerl, der eines Tages sicher auch ein guter Kumpel werden würde. Schon jetzt begleitete er seinen Vater emsig und fuhr mit in den Stollen ein. Er liebte den Berg, er liebte die Miene, er liebte den Stein, die Brocken, das Hämmern, den Staub. Er würde eines Tages sterben wie sein Großvater und sein Onkel, weil eben dieser geliebte Staub seine Lunge aufgerieben haben würden. Doch noch war es nicht so weit. Noch spielte er den halben Tag mit Ayrin. Und an einem dieser Tage, so steht es geschrieben, da passte die gute Lottie nicht auf. Sie war nur für einen Sekundenbruchteil abgelenkt, holte den Tee und die Kekse oder fing den Ball wieder ein, der unter das Gebüsch gerollt war und als sie zurückkam, waren beide Kinder verschwunden. Doch Lottie wäre nicht Lottie gewesen, wenn sie das nicht vorausgeahnt hätte, sie wusste genau, dass sie die beiden entweder am Bach finden würde, wo sie eine kleine Wassermühle gebaut hatten, oder am Stollenrand, weil Ayrin nichts lieber sehen wollte, als die funkelnden Quarzadern, die Edelsteine und das Wummern des Pulses vom Herzschlag des Berges - weil Kurtie ihr von all diesen Dingen erzählt hatte. Schlimmer, er hatte ihr von den Goblins erzählt. Und jetzt wollte die Kleine unbedingt den Prinzen unter dem Berg kennenlernen, dessen Reich die Bergleute betreten hatten und der ab und an, wenn sie seinen Schatzkammern zu nah kamen, die Stollen einstürzen ließ.
Ayrin kannte keine Angst.
Lottie schon.
Lottie fürchtete nichts so sehr wie Harelip, den Prinzen der Goblins. Mit der roten Mütze, gefärbt mit dem Blut der Unschuldigen. Mit den steinernen Pantoffeln seiner Mutter der Königin, welche die imperialen Zehen schützten, denn Goblins verabscheuen nichts so sehr wie „auf die Füße getreten zu werden“. - Glaubt ihr nicht? Oh, Lottie glaubte es auch nicht. Lottie wusste es.
Denn ihre beiden süßen Schwestern: Lizzie und Laurie hatten sich dereinst mit Harelip angelegt. Da war der Goblinprinz noch nicht einmal so groß gewesen wie eine Spitzhacke lang. Und er hatte, wie es für seine Freunde üblich war, die seltenen, edlen, süßen und berauschenden Früchte aus dem Reich unter dem Berg an das Tageslicht gebracht und sie verkauft. Darauf stand wohl eine hohe Strafe, denn diese Drogen waren sehr tödlich und machten schnell süchtig, schon ein einziger Tropfes des Saftes, vom "Schlummertrunk" reichte und gerade Kinder waren auf alle Zeit verdorben. Das ist auch übrigens dasselbe Zeug, dass die Goblins illegal auf dem Schwarzmarkt (na ja also bei ihnen ist ja nicht der Schwarzmarkt, bei ihnen ist das ja der einzige Markt) an die Alben verticken, womit die dann wiederum ihre Tische reich eindecken, wenn sich dann mal ein dummer Menschling in einen Pilzkreis verirrt - kennt ihr, oder? - Ah zurück zu Lottie, Ayrin und Kurtie.
Um diese Anekdote schnell zu Ende zu bringen: Lottie spürte die beiden auf, packte sie jeder am Ohr und zog daran, dass sie aufschrien und auf den Knien um Verzeihung baten, für’s Abhauen. Das war wirklich eine milde Strafe in Anbetracht dessen, dass sie dort unten zweifellos zu Tode gekommen wären, Goblins hin, Steinstaub her. Als Lottie die beiden umdrehte und ihnen einen kleinen Schubs gab und ihnen eine leckere Limonade versprach, wenn sie sich doch lieber für das ungefährlichere Abenteuer: Burgen aus Tischen, Stühlen und Decken bauen, entschieden, keckerte es hinter hier am Eingang des Bergwerkes. Und aus dem Halbdunkeln schälte sich eine Gestalt, dessen Beinkleid schmutzig war. Den Oberkörper trug er frei und wie damals, war er der hübscheste Mann, den Lottie je gesehen hatte. Auch wegen dieser eigentümlichen Augen, die aus dem ganzen Dreck im Gesicht hervorstachen wie die Goldader im Gestein. Er warf ihr einen Kussmund zu und sie erinnerte sich gut daran, dass dieser Mund, trotz der grässlich wirkenden Entstellung durch die Lippenspalte, einer der süßesten Verführungen gewesen war, die sie je gekannt hatte.
Und doch, war er der Grund weshalb Lizzie und Laurie gestorben waren. Was wollte der verdammte Goblin hier?
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inspiriert von u.a.
The Princess and the Goblin, George MacDonald, 1872
Goblin Market, Christina Rosetti, 1862
https://dantisamor.files.wordpress.com/2014/02/tumblr_m4p224yfzj1r5pmqlo1_12801.jpg
gehört thematisch zu meinen Märchenflips - wird bei der Überarbeitung evtl dort zu finden sein