Das kleine Wunder lächelte.
Es war ein merkwürdiges Lächeln, unschuldig und winzig. Keine schrille Lache, die ganze Stadien füllen konnte. Kein verrücktes Grinsen, mit Augenbrauenwackeln, welches als Meme viral ging. Und doch das Atemberaubendste auf der ganzen Welt.
Und was brachte das kleine Wunder zum Lächeln? Ein anderes kleines Wunder. Es war in etwa so groß wie eine 30ml Cremedose. Diese Dose war sehr typisch in diesem Land, von einer sehr intensiven, blauen Farbe, mit weißer Schrift verziert – ein Klassiker. Was aber noch viel schöner war, war das Innere.
Wenn man die kleine Dose links herum aufdrehte, gegen den Uhrzeigersinn, dann war sie überquellend gefüllt mit einer weißen, samtig-sämigen, süßlich-duftenden Creme. Sie war fettig und klebte und man konnte mit ihr hervorragend kleine Wunder wirken. Zum Beispiel konnte man einen Tipps davon auf die Nase klecksen oder einen Klecks mittig auf die Stirn. Dadurch bekam das lächelnde kleine Wunder ganz große, runde Augen und brüllte nicht mehr, sondern staunte. Weil es genau wusste, dass es etwas im Gesicht hatte.
Drehte man jedoch nicht nach links, sondern in die entgegengesetzte Richtung, dann war die Dose leer. Ja, so einfach war das. Der Betrachter sah sich beinah selbst in dem matt spiegelenden Metall innen.
Aber das wäre ja keine Geschichte wert, um erzählt zu werden. Eine Cremedose, die sich öffnen ließ und Creme enthielt, war ziemlich langweilig. Und eine Cremedose, die keine Creme enthielt, hatte nicht einmal eine Pointe.
Das Besondere an der kleinen Wundercremedose war ein ganz anderes kleines Wunder. Aber eines welches nicht lächelte. Wenn es nämlich richtig dicke kam und das lächelende kleine Wunder so gar nicht mehr lächeln wollte und auch der Klecks Creme einfach nicht mehr Wunder wirkte, dann konnte man den Tiegel auch noch auf eine dritte Weise öffnen. Dazu musste man allerdings anklopfen, wie es sich gehörte, in einem bestimmten Rhythmus und den Bewohner des Hauses mit dem Namen ansprechen.
»Yquem.«
Ob es ein Dschinnī oder eine Dschinnīya war, wusste wohl auch nur das kleine Wundercremedosen-Wunderwesen zu sagen. Spielte aber am Ende auch keine Rolle. Denn wenn man es rief und es gerade Lust hatte, ließ sich der Deckel ohne zu drehen abziehen. Er machte dabei ein leises Geräusch und »Yüp« ergoss sich aus der winzigen zauberhaften Cremewunderdose weißer Nebel bis zum Boden. Der dort wie eine Wolke aufstieß und wieder hinauf waberte. Immer mehr und hellerer Nebel floss heraus, hüllte den Boden bald bis zu den Knien ein. Ja, Yquem konnte so groß werden, dass es den ganzen Raum zu füllen vermochte. Wenn es gerade ein wenig verrückt drauf war, dann konnte man das Wesen sogar erkennen im Nebel, wenn es herumwirbelte und spielte. Meistens aber sprach man nur mit den herumgeisternden Tröpfchen. Und wenn man richtig Glück hatte, antwortete das kleine Wunder sogar oder erfüllte einen kleinen Wunsch, bevor es sich wieder versteckte in seinem Döschen, denn besonders bei direkter Lichteinstrahlung, neigte es dazu sich zu lichten.
Das kleine Wunder lächelte und für Yquem war es Lohn genug. Denn dieses Lächeln war das Atemberaubendste auf der ganzen Welt.
Nur Früchte sollte man nicht in einem Raum mit dem Wunder lassen, wenn man es rief, denn die neigten dazu kurz darauf, grau zu werden. Wenn also bei euch mal die Weintrauben eingehen, dann nicht weil sie fälschlicherweise neben der Banane lagen, sondern wohl eher, weil Yquem zum Spielen rausgekommen war.
Nachtrag:
Ich widme diese Geschichte meinem Stiefgroßvater Helmut, der in der Nacht, als ich die Geschichte schrieb (5.Februar 2020), verstorben ist und ein stolzes Alter von 97 Jahren erreichte.
*gehört thematisch zu
https://belletristica.com/de/books/21088-sixty-minutes/chapter/94135-spurlos
https://belletristica.com/de/chapters/104930-lodernde-flammen
https://belletristica.com/de/books/21088-sixty-minutes/chapter/110618-sternschnuppen