Beim Entrümpeln des alten Hauses fielen zwei Dinge auf. Ururoma Alma hatte nicht viel besessen - gemessen an dem was ihre Ururenkel in ihre winzigen Wohnung stopfen heutzutage. Und Alma hatte nichts weggeworfen. Ihre Tochter und deren Tochter hatten das Haus nach ihr bewohnt mit ihren jeweiligen Ehemännern und auch ohne diese, dafür aber mit den Kindern. Irgendwann, so hatte es sich so als Tradition herausgebildet, kamen doch alle wieder hier her zurück. Spätestens aber jetzt, als die Tradition ein für alle mal vernichtet werden würde. Es war keine böse Absicht. Aber das alte Haus kam schlichtweg weg. Die Familie hatte sich überlegt: wozu diesen alten, baufälligen Kasten renovieren und viel Zeit, Geld und Nerven dabei lassen, wenn man genauso gut oder besser einfach mal alles platt machen konnte. Dazu musste aber alles raus.
Viele Leute träumten davon mal auf so etwas zu stoßen. Man schlug eine Wand auf und fand einen uralten Safe mit einem Vermögen. Man riss den Teppich raus und fand einen römisch-antiken gefliesten Badeanstalt. Und schließlich, das Kronjuwel: die versteckten Geheimgänge zwischen zwei Häusern, in denen man damals Flüchtlinge und Verfolgte versteckt hatte: eine Sensation.
In Almas Überresten (freilich denen auf dem Dachboden und im Keller, vielleicht sogar ganz hinten in den Einbauschränken, - um die es laut Mutter Isa wirklich schade war), fanden sich andere Schätze. Und Ururenkelin Mine hielt genau so ein Schätzchen jetzt in der Hand: „Was ist das?“
Die anderen kamen näher. Oma Heide und Mutter Ida hielten jeder einen handelsüblichen Klappkorb in der Hand, in dem Sachen lagen, die sie noch behalten wollten. Darunter vor allem die Stücke mit Emotionswert, weniger mit Sammlerwert. Onkel Klaus und seine Frau hatten schon angefangen viele Dinge in den großen Container draußen zu werfen. Darunter Polster, die sicher niemand mehr wollte. Und überhaupt all solch alten Kram, der auch keinen Antikwert mehr hatte. So eine handgehäkelte Zierdecke war ja hübsch, aber da sie schon ganz brüchig war und die Fäden gerissen, wollte auch niemand mehr versuchen die Arbeiten zu flicken. Und diese uralten Gummistiefel, die von lauter Spinnen bezogen waren, die fasste selbst Onkel Klaus nur mit Handschuhen an. Hingegen waren ein paar der alten Bilder an der Wand auf jeden Fall erhaltenswert, die blöden, hässlichen Nippesfiguren wollten hingegen niemand. Und zugegeben: nicht alles hier war auf Ururoma Alma zurückzuführen. Es sammelte sich eben einfach alles an und wenn nie jemand etwas davon ausmistete, sondern höchstens in einen Karton in den Keller verfrachtete, wer sollte denn dann noch unterscheiden können, wer wem was mal hier überlassen hatte.
Was Mine jetzt hielt, war ein Bündel gestapelter Karten. Keine Briefumschläge, keine Absender. Nur gelbes und braunes Papier, nicht alle in einer DIN Norm. Aber mit einer geschwungenen, schönen Handschrift versehen. Mine konnte allerdings nur vereinzelte Buchstaben erkennen. Hundert Jahre reichten, um eine Sprache gänzlich zu verändern, nun ja das Schriftbild eben. Die in Sütterlin geschriebenen Worte hätte wohl nur noch Uroma Friede lesen können. Leider hatte Friede neben den Namen ihrer Kinder auch vergessen wie man las. Oder was auch immer in ihrem grauen Köpfchen vor sich ging.
Mine öffnete die Paketschnur, mit der der Stapel zusammengehalten wurde, was erstaunlich einfach ging nach all den Jahren. Sie hielt hier Papier in der Hand welches über ein Jahrhundert alt war. Und weder zerfallen, noch angefressen oder durch Feuchtigkeit beschädigt. Doch das Band hatte seine Spur in die Seiten gefressen und die einzelnen Kartonstücke so fest aufeinander gepresst, dass sie sich nur schwer trennen ließen. Dennoch versuchte Mine es.
Während ihr Cousin gerade mit einem Tablett herein kam. Von Porzellanservicen und Zierlöffeln, nebst Zinnborden gab es hier ja genug. Und um sie ein letztes Mal zu benutzen beim Ausräumen hier, waren sie ihrem Bestimmungszweck sicher näher, als ihr Dasein als „das gute Geschirr“ im Schrank zu fristen. „Kaffee ist fertig.“ Sie setzten sich alle um den wuchtigen Esstisch. Den auch niemand mitnehmen wollte: das sperrige Teil wog Tonnen und konnte nirgendwohin bewegt werden, außer man nahm ihn gänzlich auseinander. Die massive Steinplatte hatte auch schon so den ein oder anderen Abschlag erfahren, war aber - wie fast alles im Haus - fast schon zu schade, um entsorgt zu werden. Fast. Man konnte unmöglich all das behalten.
Mine ließ sich einschenken und rührte mit einer Hand Zucker in den Kaffee. Mit der anderen nahm sie die Karten auseinander. Die meisten waren doch sehr verblichen, meistens konnte man nur noch was in der Mitte erkennen von den Bildern. Die Handschrift auf jeder Karte war dieselbe und adressiert war sie immer an Alma.
„Liebesbriefe“, mutmaßte Mutter Ida sofort und verlor das Interesse.
Während es Mines - als ausgemachte Romantikerin nur steigerte. Ihr fiel eine bläulich schimmernde Karte auf. Sie nahm sie heraus und machte große Augen: „Oh.“
„Oh was?“
„Das ist ja unser Haus.“
Was machte denn das Haus, welches sie gerade leerten auf einer Postkarte von Irgendwo vor über hundert Jahren? Es zeigte ein hübsches, kleines Anwesen, mit viel Weidezäunen, dem uralten Stall, den es nicht mehr gab und winzigen Bäumchen, die alle so hoch gewachsen waren inzwischen, dass einige notgedrungen gefällt werden mussten. Es war ein Standbild der Erinnerung. Und ein voller, klarer Mond beschien das kleine Idyll. Mit viel Vorstellungskraft konnte man in der Tür Ururoma Alma sehen, mit der Schürze, dem Tuch überm Haar und der Milchkanne in der Hand, auf dem Weg zur Kuh.
Nachdem die Karte einmal rundherum gereicht worden war, nahm Mine sie wieder und grinste: „Ich wüsste zu gern wer Ri… oder Roch oder Ryrch war.“
Nun, wahrscheinlich war es doch Richard. Manchmal konnte man es sich ja einfach machen.
Onkel Kurt nahm sich die Karte nochmal: „Ich glaube das ist eine ‚Mondscheinkarte’.“
„Oh, dann ist sie vielleicht was wert.“ Kam es von der praktisch veranlagten Ida.
Aber Mine nahm die Karte schnell wieder an sich. „Die behalt ich aber.“ Sie hatte die Karte gefunden, in dem Karton mit den ganzen anderen uralten Heftchen und Schriftstücken. Teilweise Flyern für Theaterbesuchen und Eintrittskarten. Es war eine schöne Erinnerung an einen längst verstorbenen Mann, der Ururoma Alma Briefe geschickt hatte. Vielleicht konnte man einen Übersetzer finden, der Mine vorlas was der Verehrer geschrieben hatte. Auf jeden Fall war das Bild aber wunderschön: „Ich scanne es und vergrößere es, das Bild muss dann in den neuen Eingangsflur. Es gehört schließlich hier her.“
Zustimmendes Nicken.
Mine träumte schon weiter und größer: „Wir könnten auch eine Vitrine aufstellen unten and er neuen Treppe dann. Unser eigenes kleines Familienmuseum.“
„Gelebte Heimatkunde“, frotzelte ihr Cousin und schnappte sich seine Zigaretten, „die Idee gefällt mir.“ Dann verschwand er nach draußen.
Sie hatten mit den Architekten schon ganz genaue Pläne gemacht von dem neuen Mehrfamilienhaus, welches an dieser Stelle entstehen würde. Mit einem Atelier für Mine, einer Einliegerwohnung für ihren Cousin und zwei weiteren großen Wohnungen.
„Das würde Alma sicher gefallen.“