Während also in Berlin die ersten Arbeiten an dem Video Fahrt aufnahmen, saß Marti im Zug, auf dem Weg nach Süddeutschland, und grübelte. Er würde ein paar Stunden unterwegs sein, zweimal umsteigen müssen und erst am späten Nachmittag in der Kleinstadt ankommen, in der Jakos Eltern zu Hause waren. Er hatte also viel Zeit zum Nachdenken.
Ob er ein Sub wäre, hatte Jako ihn gefragt. Ein knie rutschender Waschlappen.
Scheiße.
Mal abgesehen, dass es einfach eine Unverschämtheit von seinem Mann war, einen Sub so zu verunglimpfen, nein, Marti war kein Sub.
Ganz im Gegenteil.
Ja, Marti hatte sich in den letzten Monaten verändert. Er hatte Dinge in sich gespürt, Bedürfnisse, die er vorher nicht gekannt hatte. Den Drang nach Dominanz. Den Wunsch, dass Jako, sein Partner, sich ihm unterwerfen würde ...
Er hatte mit Jako nicht darüber geredet, weil er sich selber erst sicher sein wollte, und als diese Bedürfnisse in ihm stärker geworden waren, war er zu seinem Hausarzt gegangen und hatte sich testen lassen. Und nun stand es fest:
Er, Marti, hatte das Virus. Und bei dem, was in ihm vorging, stand es völlig außer Zweifel: Er war ein Dom.
Sie waren nicht das erste Paar, das vor dieser schwierigen Lage stand. Diese Konstellation, dass nur ein Partner Sub oder Dom war und der andere nicht, machte das Alltagsleben nicht gerade unkompliziert. Doch viele Paare, die bereits vor dem Ausbruch des Kanazé- Virus zusammengelebt hatten, erlebten plötzlich diese Situation. Es hatte einen Anstieg der Scheidungen gegeben, keine Frage, andererseits hatten viele einen Weg gefunden, damit umzugehen, sehr unterschiedlich und ganz individuell.
Marti war bereit, zurückzustecken. Natürlich wäre es schön, wenn Jako, der nach wie vor durch und durch Vanilla war, ihm entgegen kommen könnte, und man hin und wieder ein klein wenig spielen könnte, ganz harmlos und ganz zurückhaltend. Das wäre immerhin etwas, und Marti käme nie auf die Idee, ihr Alltagsleben zu verändern. Er würde seine einseitigen Bedürfnisse eben einfach nicht ausleben – na gut, einfach wäre das sicher nicht. Aber egal. Er liebte Jako und das war ihm wichtiger.
Er hatte es bisher immer wieder aufgeschoben, mit Jako darüber zu sprechen. Weil, nun weil solche Gespräche eben nie einfach sind, und die Konsequenzen, die sich daraus ergeben, für beide Partner nicht einfach sind, je nachdem, wie der andere reagiert; und wie es aussah, würde Jako wohl alles andere als erfreut reagieren, das war ja nun klar; zwar hatte er hauptsächlich über Subs so abfällig geredet, aber das würde sicher keinen Unterschied machen, Herrgott... Himmel, Arsch und Zwirn.
Was für eine verfahrene Kiste.
Marti konnte nicht verstehen, warum Jako so drauf war. Es gab doch keinen Grund, sich so verständnislos und intolerant zu zeigen. Als schwules Ehepaar hatten sie beide doch selber in der Vergangenheit schon unter den Engstirnigkeit anderer Leute zu leiden gehabt... Warum also? Er begriff es nicht.
Nun, er würde mit Jako reinen Tisch machen.
Er würde ihm von der Veränderung erzählen, ihm Vorschläge machen, wie ihr Zusammenleben trotzdem funktioniere könnte. Wenn es so sein sollte, würde er seine Bedürfnisse sogar vollständig zurückstellen. Jako war ihm wichtiger. Er liebte seinen Mann aus ganzem Herzen.
Er hoffte nur, dass Jako bereit wäre, ihm überhaupt zuzuhören.
Der Zug hielt schließlich in Stuttgart und Marti musste umsteigen.
Der Anschlusszug war erstaunlicherweise mal pünktlich, der nächste, ein kleiner Bummelzug, dann auch und so verließ er gegen halb fünf den winzigen Bahnhof der Kleinstadt. Er überquerte die Straße und lief die baumbewachsene Allee entlang, die in Richtung Vorstadt führte. Schließlich kam er an einen kleinen Park, den er durchqueren musste. Am Ententeich blieb er einen Augenblick stehen.
Er streckte sich, die lange Zugfahrerei war doch anstrengend gewesen, und blickte auf das kleine Gewässer. Wieder verlor er sich in Gedanken.
Was, wenn Jako ihn nun nicht mehr wollte?
Wenn er sich weigerte, mit einem Dom zusammen zu leben?
Was, wenn er die Scheidung wollte?
Das Herz tat ihm weh bei dem Gedanken. Ihm wurde regelrecht schlecht, wenn er sich vorstellte, den Rest seines Lebens ohne Jako verbringen zu müssen. Aber es half alles nichts. Sie mussten reden, und wenn das nun die Folge war, die daraus entstand, würde er irgendwie damit umgehen müssen.
Er lief weiter. Bog in die Siedlung ein, die sich an den Park anschloss, und gelangte schließlich so an sein Ziel.
Das kleine Einfamilienhaus, in dem Jako seine Kindheit und Jugend verbracht hatte.
In dem er, Marti, inzwischen schon oft zu Besuch gewesen war. Er mochte seine Schwiegereltern. Es waren freundliche, herzliche Leute, und sie hatten ihren Schwiegersohn schnell in die Familie aufgenommen.
Und das, obwohl er nur ein „bürgerlicher“ war. Er musste grinsen bei dem Gedanken.
„Von Joiko“ stand auf dem Klingelschild, und ja, das war auch Jakos Name und seit der Heirat auch seiner, Martis. Er und Jako benutzten das „von“ nie. Aber die Schwiegereltern legten großen Wert darauf. Sie stammten aus einem alten Adelsgeschlecht, es gab da eine erste Erwähnung in irgendeiner Lehenschaftsurkunde aus dem sechzehnten Jahrhundert, und Jakos Eltern waren sehr stolz auf diese Abstammung.
Nicht, dass sie ihnen wirklich etwas nützte. In den Wirren der beiden großen Kriege hatte die Familie alles an Besitz und Ländereien verloren.
Aber der Stolz war ihnen geblieben.
Nichtsdestotrotz hatten sie Marti als einen der ihren aufgenommen.
Er nahm sich zusammen und betätigte die Klingel.
Er hörte Schuhgetrippel im Flur, und dann wurde die Tür geöffnet. Marita, seine Schwiegermutter, stand vor ihm.
„Marti!“, sagte sie und lächelte ihn erfreut an. „Komm rein, ich habe schon fest mit dir gerechnet!“
Sie schien nicht im geringsten überrascht zu sein, ihn zu sehen.
Er betrat den Hausflur.
„Hat Jako gesagt, dass er mich erwartet?“
Sie schüttelte den Kopf.
„Nein. Er ist einfach nur mit finsterer Miene hier aufgetaucht und hat gar nichts gesagt. Aber ich sehe es ihm doch an, wenn ihr Streit hattet.“
Ihr Blick fragte, und Marti nickte.
„Siehst du. Und ich weiß auch, dass du derjenige bist, der das Gespräch sucht. Also war es vorauszusehen, dass du hier her kommst.“
Er hatte seinen Rucksack abgestellt und Marita nahm ihn fest in den Arm.
„Danke“, sagte er, und dann, er wusste selbst nicht, wie es kam, begannen die Tränen zu fließen.