Es hatte nicht funktioniert.
Sich niemandem zu öffnen, niemanden zu mögen, niemanden an sich heran zu lassen.
Es hatte nicht funktioniert und nun stand er vor dem Problem, dass das überhaupt nicht zu dem passte, was seine Aufgabe war und was er nun zu tun hatte.
Er hatte von Anfang an versucht, es zu ignorieren. Als er am Freitagabend das Video zuerst gesehen hatte und dann in den Credits gelesen hatte, wer alles an der Veröffentlichung des Videos beteiligt gewesen war, war ihm schlecht und heiß geworden für einen winzigen Augenblick lang. Dann hatte er sich gestrafft und hatte versucht, diese Dinge in den Hintergrund zu drängen und nicht darüber nachzudenken. Inzwischen jedoch hatte er einen Anruf bekommen, einen an der die ganze Sache wirklich kompliziert machte. Er hatte befürchtet, dass es soweit kommen würde, hatte jedoch bis zuletzt gehofft, dass er sich anders aus der Sache herauswinden könnte. Jetzt jedoch war die Lage bitterernst.
Das Telefon hatte geklingelt.
„Ja?“, hatte er geantwortet.
„Ist dort der Leader?“, hatte eine Stimme gesagt ... Eine Stimme mit schwerem, amerikanischem Akzent.
„Ja.“
Der Leader, das war sein Deckname. Um genau zu sein, einer der vielen Decknamen, die er hatte und unter denen man ihn in entsprechenden Kreisen weltweit kannte.
„Also hören Sie“, hatte die Stimme am Telefon gesagt, „das, was bei Ihnen in Deutschland dort geschieht, ist nicht akzeptabel.“
Er hatte geschwiegen; was hätte er auch auch darauf antworten sollen.
„Sehen Sie zu, dass Sie das schnellstmöglich in den Griff bekommen! Es ist schon viel mehr Schaden angerichtet worden, als ursprünglich abzusehen war. Wie gesagt, das ist nicht akzeptabel! Weiterer Schaden muss unbedingt verhindert werden, und es hat sichergestellt zu werden, dass eine bestimmte Tatsache nicht ans Licht der Öffentlichkeit gerät! Ihnen ist sicher klar wovon ich rede!“
Ja natürlich war ihm klar, wovon der andere redete. Und ihm war auch klar, dass man es an ihm anlasten würde, sollte diese Sache an die Öffentlichkeit kommen.
„Das wird nicht geschehen“, sagte er, „meine Leute sind dabei, dafür zu sorgen.“
„Ihre Leute“, sagte der andere und schien ein bösartiges Lachen gerade noch unterdrücken zu können. „Ihre Leute sind doch überhaupt erst Schuld daran, dass es soweit gekommen ist!“
„Ja“, sagte Der Mann, „das ist mir klar, aber wir werden das wieder in Ordnung bringen.“
„Das sollten Sie auch“, sagte der andere, „hier ist man nicht besonders erfreut über die Tatsachen.“
Der Mann seufzte. „Hier“, das war in Übersee, um genau zu sein in den Vereinigten Staaten von Amerika. Dem Mann war klar, dass er mit einem hochrangigen Vertreter der amerikanischen Regierung oder des amerikanischen Geheimdienstes sprach. Natürlich kannte er keinen Namen. Es war schon klischeehaft albern. Er selber war der Leader, sein Gegenüber war Mister Smith. Man könnte fast darüber lachen, aber das Ganze hatte überhaupt keinen James Bond Charme. Das ganze war bitterer Ernst.
Und wie ernst es für ihn, den Mann, tatsächlich war, das konnte sein Gegenüber nicht einmal erahnen.
Die Stimme am Telefon erklang erneut.
„Also werden Sie dafür sorgen, dass jener Polizeibericht, der bei Ihnen durch die Schlampigkeit ihrer Leute abhanden gekommen ist, nicht veröffentlicht wird.“
„Selbstverständlich.“
„Und sie werden“, sagte der andere und seine Stimme klang nun süß und falsch wie die einer Schlange, „ Sie werden die, die dieses unsägliche Video veröffentlicht haben und damit dafür gesorgt haben, dass diese Welle über die ganze Welt herein schwappt, unverzüglich verhaften.“
Diesmal war kein „Selbstverständlich!“ über seine Lippen gekommen. Es war ihm gelungen sich zu einem gekrächzten „Ja!“ durch zu ringen.
„Mit ... mit welcher offiziellen Begründung?“
„Das ist Ihr Problem!! Der Polizeibericht sollte offiziell nicht erwähnt werden. Ihnen wird schon was einfallen. Und wenn diese Leute erst einmal in Haft sind ... es sind schon immer mal wieder Gefangene in Haft umgekommen, wer weiß, vielleicht erwartet ja auch die Drahtzieher hinter dieser Sauerei ein solches Schicksal? Wer kann das schon ahnen?“ Die Stimme des Amerikaners klang nun eiskalt.
Dem Mann blieb der Atem stocken.
„Wir ... wir sind hier nicht im wilden Westen!“, hatte er mit beschlagener Stimme geflüstert.
„Wir sind hier in einem demokratischen Rechtsstaat!“
Welch einen Ironie. Hatte er nicht selber erst vor ein paar Tagen zu sich selber gesagt, dass er bei der Durchsetzung seiner Ziele auf die Demokratie pfeifen würde? Und jetzt, jetzt erschien sie ihm wie ein Rettungsanker.
„Machen Sie, was Sie wollen“, sagte Mr. Smith. „Demokratie ist doch nur dafür da, dass die Lämmer das Gefühl haben, sie könnten mitentscheiden, wann man sie zur Schlachtbank führt.“
„Sie werden von mir hören“, hatte Der Mann gekrächzt und hatte aufgelegt.
Nun saß er hier, immer noch den Kopf auf die Hände gestützt, und wusste nicht, was er tun sollte. Nun, eigentlich wusste er es schon, es blieb ihm keine Wahl, er würde die Verhaftung veranlassen müssen.
Aber ...
Es war ihm nicht gelungen, dafür zu sorgen, dass niemand ihm nahe stand, dass ihm niemand etwas bedeutete. Freunde waren da die er mochte. Nun gut, Freunde zu verraten, das wäre eine Sache die er noch hinbekommen würde.
Aber ... Familie? Die Frau, die er geheiratet hatte und ihr Kind, das er nach all den Jahren, auch wenn es nicht sein leibliches war, als sein Kind empfand.
Es war ihm nicht gelungen.
Ja, er würde die Verhaftungen in Auftrag geben.
Doch es fiel ihm unsagbar schwer.
Denn einer der jungen Männer, die an der Erstellung des Videos beteiligt gewesen waren war ...
... sein Sohn.