Klaus von Joikos Fingerknöchel waren weiß, so sehr klammerte er sich an das Lenkrad seines Autos. Er raste mit deutlich überhöhter Geschwindigkeit und waghalsigen Überholmanövern die Straße entlang. Er war sich darüber im klaren, dass er sich unvernünftig verhielt, dass es richtiger gewesen wäre, sich zu beherrschen ... aber er schaffte es nicht.
Wilde Gedanken schwirrten ihm durch den Kopf.
Das dufte doch wohl alles nicht wahr sein!
Natürlich konnte er nicht wissen, was sich tatsächlich auf diesem Datenstick befand. Es konnte alles mögliche sein, vielleicht sogar etwas, was mit der gegenwärtigen Angelegenheit nichts zu tun hatte ... nein, das war doch wohl eher unwahrscheinlich.
Es gab keinerlei Beweise dafür, dass es sich dabei um den so schmerzlich gesuchten Polizeibericht handelte. Das war ja eigentlich sogar eine ziemlich wilde Vermutung.
Andererseits hatten sein Sohn Jakob und sein Schwiegersohn Marti ja engen Kontakt zu dem ursprünglichen Initiator des Videos Florian Mundt und dessen Komplizen gehabt ... möglich war es also schon.
Ach verdammt.
Abenteuerlich schnitt er eine Kurve und hätte beinahe eine entgegenkommenden Wagen gestreift.
Er kam ins Schlingern, schaffte es aber gerade noch, den Wagen wieder in die Spur zu lenken. Er musste besser aufpassen! Es war der Sache ja nicht gedient, wenn er sich mit seinem Auto um irgendeinen Baum wickelte!
Also drosselte er seine Geschwindigkeit ein wenig und versuchte, sich besser auf die Straße und den Verkehr zu konzentrieren.
Es fiel ihm schwer.
Er erreichte den Ortsrand. Vor ihm erstreckte sich der Wald, die Straße ging nun bergan.
Er schaute auf die Uhr.
Es war fünfzehn Uhr dreißig. Gestern um die Zeit war das Paket, das den Corpus delicti enthielt, schon längst in seinem Haus gewesen.
Vor über vierundzwanzig Stunden.
Er durfte gar nicht darüber nachdenken.
„Verflucht, verflucht, verflucht!“, schimpfte er und schlug mit einer Mischung aus Wut und Verzweiflung mit der Faust auf das Lenkrad.
Was sollte er nur tun? Konnte er die beiden jungen von Joikos überzeugen, sich still zu verhalten, und brisante Daten, die sich auf dem Stick befinden mögen, sei es nun der Polizeibericht oder etwas anderes, nicht zu veröffentlichen?
Nun, er kannte seinen Sohn. Seinen Adoptivsohn, um genau zu sein, aber das hatte schon lange keine Rolle mehr gespielt und darüber war Jakob auch nicht im Bilde.
Jedenfalls war es wenig wahrscheinlich, dass der Junge sich von ihm von irgendeinem Vorhaben würde abbringen lassen, das ihm wichtig wahr.
Und Marti war nicht weniger stur.
Die Straße stieg weiter an und kurz darauf zweigte der Waldweg ab. Klaus bog rasant ab und Staub wirbelte von dem durch die langanhaltende sommerliche Hitze und Trockenheit völlig ausgedörrten Weg. Nun, wenigstens war es hier durch die hohen Fichten schattig. Dennoch war es glutheiß und Klaus schwitzte nach wie vor. Seine rechte Hand glitt zu seinem Nacken, und er kratzte sich. Verdammt, das juckte! Hoffentlich bekam er nun zu allem Überfluss nicht auch noch einen Ausschlag!
Der Wagen rumpelte auf dem unebenen Waldweg. Nur noch ein paar Minuten, dann würde er die Hütte erreicht haben. Und dann?
Es war jetzt fünfzehn Uhr fünfundvierzig.
Das Auto fuhr so schnell es auf dem welligen Untergrund nur ging.
Da war der Hochsitz ... jetzt die Biegung nach links ... die Kiefernschonung ... die kleine Lichtung.
Genau um sechzehn Uhr zwei fuhr Klaus von Joiko, Der Mann, der Leader auf dem Vorplatz der Hütte vor.
Er stürzte aus dem Fahrzeug und rannte die hölzernen Stufen hinauf. Er riss die Tür auf und stolperte beinahe in den Vorraum der Hütte, stürmte dann in das Wohnzimmer.
Blitzschnell ließ er seinen Blick um sich schweifen und erfasste sofort die Situation.
Jakob saß auf dem Stuhl vor dem Tisch, auf dem das Laptop stand.
Marti stand neben ihm, hatte sich zu ihm hinab gebeugt. Beide starrten sie auf den Bildschirm, hoben jedoch den Blick, als Klaus polternd den Raum betrat. Sie sahen ihn erschrocken und erstaunt zu gleich an.
„Papa?“, fragte Jakob und zog die Stirn kraus. „Ist alles in Ordnung?“
Klaus schnappte nach Luft. Er merkte, dass er außer Atem war, vermutlich hatte er die Luft angehalten, ohne sich dessen selber bewusst zu sein.
„Sag du es mir, Junge!“, schnauzte er seinen Sohn an.
Jetzt stand Marti auf und stellte sich vor Jakob, Herrgott, der Bengel musste doch nicht ausgerechnet jetzt den Dom und Beschützer rauskehren ...
„Klaus, was ist hier los?“, fragte er und Klaus schnaufte verärgert.
„Hört zu, ihr beiden. Marita hat mir von einem Datenstick erzählt und ich will wissen, was es damit auf sich hat!“
Er war laut geworden. Das war nicht seine Art, wenn es sich vermeiden ließ, aber er war zu erregt um sich zurückzuhalten.
Marti verschränkte die Arme.
„Sei mir nicht böse, aber das ist unserer Sache.“
„Verdammt, das ist es nicht! Ihr sagt mir jetzt sofort, was auf dem Stick ist und noch wichtiger, wo ihr das Ding habt!“
Marti warf Jakob einen Blick zu, und Klaus fühlte sich bemüßigt, seinen Sohn direkt anzusprechen.
„Jakob, hör mir zu ...“
„Stop!“, schrie Marti. „Klaus, mir reicht es jetzt! Ich weiß nicht, warum du sich so aufführst, aber du wirst mich ansprechen! Jako ist mein Sub, und wenn du ihn so anschreist, haben wir beide ganz schnell ein Problem!“
Scheiße. Dieser sture Kerl. Klaus war völlig genervt, doch Marti funkelte ihn geradezu kampfeslustig an, und Klaus begriff, dass Marti nicht zulassen würde, dass er mit Jakob – seinem eigenen Sohn!- redete.
„Marti“, brüllte er wütend, „ich will wissen, was auf diesem Stick ist!“
Marti schien vor Ärger zu kochen.
„Es geht dich zwar nichts an, wenn du so ... mit uns umspringst, aber das ist ein Polizeibericht zu der ganzen Lage im Land, bezüglich der Sub Dom Problematik.“
Klaus schwankte.
Er spürte wie ihm die Knie wegsackten und ließ sich zu Boden gleiten. Dort kam er zum Sitzen und atmete tief ein ein aus, um sich wieder ein bisschen einzukriegen.
Er konnte es nicht fassen.
Da war also der Polizeibericht, den er und seine Leute und alle verfügbaren Kräfte seit Tagen suchten, für mehr als vierundzwanzig Stunden in seinem eigenen Haus gewesen, sozusagen direkt unter seiner Nase, und er hatte nichts davon gewusst.
Das, darüber war er sich klar, war auf beruflicher Ebene sein Todesurteil.
Und wenn er ganz viel Pech hatte, nicht nur dort.