Sven Schneider überlegte fieberhaft, was er tun sollte.
Er konnte verstehen, dass die jungen Leute sich trotz seiner Warnung der Polizei gestellt hatten, jedenfalls einige von ihnen. Sie wollten für ihre Sache einstehen, und er musste zugeben, dass er ihren Mut und ihre Standhaftigkeit bewunderte.
Sie waren voneinander getrennt worden und in verschiedene Verhörräume geführt worden. Er selber hatte erste Aussagen aufgenommen. Nun ja, jedenfalls theoretisch. Praktisch war es so, dass Krüger der einzige war, der mit ihm sprach. Er hatte Mundt, seinem Sub, verboten, etwas anderes als seinen Namen und seine Adresse zu nennen und Dombrowski hatte sich dem offenbar einfach angeschlossen.
Krüger selber sagte auch nicht viel, außer, dass sie nichts ungesetzliches getan hätten. Nun, bezüglich des Polizeiberichtes verweigerte er die Aussage.
Wie auch immer. Was Schneider nun über das Diensttelefon mitgehört hatte, ging definitiv zu weit. Die drei Männer dem amerikanischen Geheimdienst übergeben?
Was auch immer hier los war, betraf doch nun weder amerikanisches noch internationales Recht. Er traute dem Frieden nicht. Und er fand ein solches Vorgehen absolut nicht in Ordnung.
Er stand mit seinem Gewissen dafür ein, dass in diesem Land eine rechtsstaatliche Demokratie herrschte, aber das, was sich hier unter seinen Augen abspielte ... nein, da wollte er nicht mehr mitmachen.
Was also sollte er tun?
Solange die drei in Polizeigewahrsam waren, hier auf seinem Revier, konnte er sie schützen. Konnte dafür sorgen, dass ihnen nichts geschah. Aber er kannte Schmidtke, und wusste, dass dieser Mann ein Kriecher war. Der war nicht auf den Posten des Amtsleiters gekommen, weil er so großartige Arbeit leiste. Sicher, Schmidtke war nicht unbedingt ein schlechter Polizist. Er hatte viele Dienstjahre auf dem Buckel und hatte dabei beachtliches geleistet. Das wollte Schneider gar nicht bestreiten.
Aber er war anderseits auch der typische Typ „Fahrradfahrer“: nach oben buckeln und nach unten treten. Und wenn es um seine eigene Haut ginge, würde er sich nicht um Gerechtigkeit oder Demokratie scheren.
Schneider scherte sich durchaus, und daher beschloss er in diesem Augenblick, zu handeln.
Die Tür von Schmidtkes Büro öffnete sich. Bleich und wankend kam der Mann aus seinem Raum und wandte sich in Richtung der Toiletten.
Kaum war er darin verschwunden, klingelte auf seinem Schreibtisch das Telefon.
Schneider schluckte. Einen winzigen Sekundenbruchteil nur zögerte er, dann schritt er selbstbewusst, als wäre er dazu berechtigt, in Schmidtkes Büro und nahm den Hörer ab.
„Ja?“
„Schneider sind Sie das? Hier spricht Meier vom Empfang. Ich hab hier ein paar offiziell aussehende Herrn, die zu Schmidtke wollen.“
Schneider schluckte wieder.
„Gut. Bringen Sie sie rauf. In Besucherraum vier. Schmidtke wird jeden Augenblick für die Herren da sein, er ist nur eben ... einen Moment unpässlich. Die viele Arbeit, wissen Sie?“
Meier schnaubte amüsiert. Er wusste ebenso wie Schneider, dass Schmidtke sich nicht überarbeitete.
„Alles klar“, sagte er dann und legte auf.
Schneider atmete durch.
Okay. Jetzt war es soweit. An der Zeit, Farbe zu bekennen.
Er drehte sich um und lief zu Verhörraum eins.
„Herr Krüger?“
Krüger sah ihn misstrauisch an.
„Herr Krüger, kommen Sie. Sie sind in Gefahr. Unten stehen Leute vom amerikanischen Geheimdienst und wollen Sie mitnehmen, und der Himmel weiß, was dann mit Ihnen geschieht. Lassen Sie uns die anderen beiden holen und dann bringe ich Sie hier raus.“
„Und warum sollte ich Ihnen trauen?“
„Weil Sie keine Wahl haben. Und weil ich Sie ... schon einmal gewarnt habe.“
Also war es tatsächlich Schneider gewesen, der ihn angerufen hatte.
„Gut“, sagte Max. „Wie es aussieht, habe ich tatsächlich keine Wahl.“
Er wollte Flo schützen, das war ihm am allerwichtigsten. Und daher blieb ihm wohl nichts anders übrig. Und erstaunlicherweise traute er dem Kriminalhauptkommissar Sven Schneider tatsächlich.
„Kommen Sie“, sagte Schneider. „Laufen Sie ganz unauffällig vor mir her.“
Sie betraten gemeinsam den Flur. Am Verhörraum zwei öffnete Schneider die Tür.
„Herr Mundt? Mitkommen!“
Flo trat ebenfalls auf den Flur, und Max bedeutet ihm mit einer Geste, zu schwiegen. Flo sah mit großen fragenden Augen zu, wie Schneider nun auch noch Olli holte. Gemeinsam führte er die drei Männer zu einem Personalaufzug am anderen Ende des Korridors. Der Aufzug kam, sie traten ein, die Türen schlossen sich zischend.
Keinen Moment zu früh, denn gerade, als die Türen geschlossen waren, betraten am anderen Ende durch die offizielle Besuchertür drei sehr ernsthafte Herren in dunklen Anzügen den Korridor und wurde von Herrn Meier, der sie begleitet hatte, in den Besucherraum vier geführt.
Im Fahrstuhl wandte sich Schneider an die drei Freunde.
„Wir fahren bis nach ganz unten, in die Tiefgarage. Dort steht mein Auto. Damit verschwinden wir erst einmal.“
Er schnaufte.
„Sie haben Glück. Ich bin heute mit dem Auto eines Freundes da, da mein eigenes in der Werkstatt ist. Sollte man also eine Fahndung nach meinem Privatwagen rausgeben, findet man uns nicht ohne weiteres.“
„Kann mir mal einer erklären, was hier los ist?“, fragte Olli aufgebracht, während Flos Augen weit aufgerissen und ängstlich dreinschauten.
„Wir haben uns doch nicht gestellt, um jetzt wie geständige Verbrecher die Flucht zu ergreifen!“
„Lassen Sie uns jetzt erst mal abhauen“, sagte Schneider. „Am besten sprechen wir so wenig wie möglich!“
Die Fahrstuhltür zum Autodeck öffnete sich. Sie traten in die gut ausgeleuchtete Tiefgarage hinaus. Ein wenig schummrigeres Licht wäre Max jetzt deutlich lieber gewesen.
Olli schien weiter diskutieren zu wollen, und so zischte Max ihm zu:
„Später, Olli, erst mal weg hier!“
Also hielt Olli den Mund und vertraute darauf, das Max wusste , worauf er sich einließ.
Als Schmidtke nach etwa zehn Minuten aus dem Toilettenraum trat, teilte man ihm die Ankunft der Herrn vom Geheimdienst mit.
Er nahm sie zu sich ins Büro, wo sie ihre Forderung anbrachten, die Gefangenen mitzunehmen.
Schmidt wollte dem nachkommen, doch die Verhörräume waren leer. Es herrschte erst einmal ein kleines Durcheinander. Und bis man feststellte, was geschehen war, hatten Schneider und die drei Männer das Gebäude längst verlassen und waren in dem Auto des Freundes auf dem Weg aus Berlin heraus.