Müde und mit hängenden Schultern, als trüge er die Last der Welt auf den Schultern, schritt Klaus die hölzernen Stufen vor der Hütte hinab.
Die oberste Stufe knarrte leise, als er seinen Fuß darauf setzte. Kein Wunder, das Holz war einige Jahre alt, und ungeachtet der Tatsache, dass er es immer gut gepflegt hatte, blieb es nicht aus, dass es irgendwann einmal seine Geschmeidigkeit verlor und trocken und ein wenig brüchig wurde. Immerhin war es Wind und Wetter ausgesetzt, Schnee und Eis im Winter, Regenfluten im Herbst, Hitze im Sommer, so wie gerade jetzt.
Die Hitze des späten Nachmittags lastete auf ihm. Klaus fiel es schwer, zu atmen, nun ja, und sicher war nicht nur die brütend heiße Luft daran Schuld.
Er stockte und atmete bewusst ein. Es duftete nach Sommer, nach Kiefernharz und trockenen Nadeln.
Das Licht der Sonne flimmerte durch die Zweige der umstehenden hohen Bäume, das Gras auf dem Vorplatz der Hütte war braun und ausgetrocknet, selbst hier oben im Walde.
Wieder knarzte das Holz unter seinen Füßen.
Seine Gedanken drückten ihn nieder.
Ähnlich wie die alten, so oft benutzten Stufen war wohl auch sein Leben dabei, alt und abgenutzt zu werden.
Beinahe kam es ihm zum Lachen vor, dass sein Gehirn solche Metaphern nutze. Nun, beinahe. In Wahrheit war ihm natürlich keineswegs zum Lachen zu Mute.
Er hatte alles verloren. Da gab es nichts zu beschönigen.
Seine Karriere, seine Machtposition war dahin. All die Fäden, die er so lange Jahre in den Händen gehalten hatte, schienen ihm zerrissen zu sein. Und das alles nur, weil er sich als unfähig erwiesen hatte, die aktuelle Krise in gewohnt souveräner Manier zu bewältigen.
Er musste zugeben, dass er einer krassen Fehleinschätzung unterlegen war. Er hätte schon viel eher handeln müssen, lange bevor diese Berliner Jungs an die Öffentlichkeit getreten waren mit ihrem vermaledeiten Video.
Er hatte geglaubt, es könne alles vor sich hin laufen, ohne dass man viel investieren müsse. Vereinzeltes Aufbegehren würde man schon bewältigen. Er hatte einfach nicht vorhergesehen, dass das allgemeine Totschweigen sich als der größte Fehler überhaupt erweisen sollte.
Hätte er doch besser schon vor Jahren entschieden, das Ganze viel restriktiver anzugehen, und eine allzu freie Beschäftigung mit dem Kanazé- Virus und seinen Folgen unter Strafe zu stellen. Und es damit in die Illegalität abzudrängen. So hätte man es mit den entsprechenden Maßnahmen viel besser unter Kontrolle halten können.
Oder aber, er hätte den gegenteiligen Weg einschlagen können und veranlassen müssen, die Subs und Doms anzuerkennen und ihre Bedürfnisse auf die politische Agenda des Landes zu schreiben. Dann wären sie heute nicht in der Situation, für ihre Rechte eintreten und diese Rebellion vom Zaune brechen zu müssen.
Möglicherweise wäre man dabei mit Amerika und anderen Staaten über Kreuz geraten, doch nun gut; Deutschland war wer in der Welt; Deutschland war nicht abhängig und politische Verbündete fanden sich auch anderswo.
Statt dessen hatte er den allgemein abgenickten Weg des nichts Tuns und nichts Sagens erwählt.
Und der hatte ihn, wie man so schön sagt, nun in den Hintern gebissen.
Seine Gedanken rasten, als er, während seine Füße nun die dritte und letzte Stufe berührten, über sein privates Leben nachdachte.
Nun, davon könne er sich wohl auch verabschieden.
Sein Sohn ... tja der hatte seine Position gerade klar gemacht. Nicht unbedingt mit Worten, dazu war er zu entsetzt gewesen. Aber Klaus hatte in Jakobs Augen Entsetzen und Abscheu gesehen.
Abscheu. Oh Gott, sein Sohn, der Junge, den er wie sein eigen Fleisch und Blut lieb hatte, verabscheute ihn.
Und Marita?
Nun, sobald die erfuhr, wer er war; was er getan hatte; dass er sie damals eigentlich nur zu Tarnungszwecken geheiratet hatte; dass er sie all die Jahre belogen und getäuscht hatte, wenn gleich das natürlich zu ihrem Schutz ... ach wem machte er was vor.
Sie würde ihn eben so verachten wie Jakob. Ihn möglicherweise sogar hassen.
Scheiße.
Was sollte er nun tun?
Er hatte ehrlicherweise keine Ahnung. Sollte er weiter versuchen... ach was, er konnte nichts mehr tun. Egal was, es war zu spät. Und diejenigen, für die er gearbeitet hatte, für die er immer wieder die Kastanien aus dem sprichwörtliche Feuer geholt hatte, würden ihn nun fallen lassen wie eine heiße Kartoffel.
Der veröffentlichte Polizeibericht war sein Todesstoß.
Und, auch darüber war er sich im klaren, es war durchaus möglich, dass „Todesstoß“ nicht nur metaphorisch gemeint war.
Er wusste darum; er selber hatte nie etwas dergleichen angeordnet, hatte nie einen Mord befohlen. Doch er wusste, dass in manchen Fällen das Versagen eines Mitarbeiters in einem überraschenden Todesfall geendet hatte ...
Und auch das war ein Grund, weshalb Marita und auch Jakob für ihn verloren waren.
Er würde sie in Gefahr bringen, wenn er bei ihnen blieb.
Er konnte nicht einfach seine geheime Tätigkeit an den Nagel hängen und sich nur noch dem Job widmen, den er zur Tarnung innehatte.
Man würde das nicht zulassen, und er wiederum würde nicht zulassen, dass eine Frau Gefahr lief in Mitleidenschaft gezogen zu werden. Und auch nicht sein Sohn, oder Marti.
Sein Fuß berührte den sandigen Boden vor der Hütte und er schritt auf sein Auto zu. Erneut nahm er den charakteristischen Duft nach in der Hitze stöhnendem Wald wahr.
Doch er bemerkte noch etwas anderes ... ganz leicht ... fern ...
es roch nach heißem Metall und Öl ...
ganz dezent.
Er wandte den Kopf.
Etwas stimmte nicht mit seinem Auto.
Scheiße.
Scheiße!
Jahrelang trainiert, waren seine Reaktionen immer noch vom feinsten.
Er warf sich zurück, die Stufen wieder hinauf, gegen die Tür, die aufflog.
In diesem Augen blick knallte es ohrenbetäubend.
Die Explosion war gewaltig. Die Druckwelle warf ihn in die Hütte hinein und riss die Tür aus den Angeln, Feuerfetzen und Metall flogen umher, glühende Stücken, die bis eben noch Teile seines Autos gewesen waren, das jetzt in Flammen stand. Schwarzer Rauch quoll auf.
„Marti, Jakob, bleibt wo ihr seid!“, schrie er heiser und rappelte sich mühsam auf.
Sein Auto war ein qualmender Trümmerhaufen, aber er selber fühlte sich bis auf sein paar Abschürfungen erstaunlicherweise unverletzt.
Heilige Scheiße.