Annikas Herz und Kopf zucken zusammen. Und dann erstarrt sie mit all den anderen Tieren. Düne, der gerade seinen Kopf unter den Stamm geschoben hat, um ihn anzuheben. Popel, der die Hinterpfoten dagegen stemmt, um ebenfalls die Mumpf-Katze zu befreien. Die beiden Grüzzlis, die gerade im Begriff sind einen Baum hinaufzuklettern und all die anderen. Beine beginnen zu zittern, Fell sträubt sich. Der Motor jault.
Und dann heult noch etwas.
Ein Wolf.
Und ein zierliches Triten erklingt.
Zwischen zwei Puscheln (das sind übrigens Büsche mit runden Blättern und watteweichen Blüten) tritt etwas Großes hervor. Silbergrau schimmernd und... stinkend. Sämtliche Tiere in der Nähe weichen zurück. Bauer Rübenstolz muss sich die Nase zuhalten, woraufhin die Kettensäge vorerst knurrend nach unten sinkt.
Wieder tritet es und Annika macht nun doch einen Satz nach vorn. Denn da sitzt Trari im Nackenfell von Kunz. Sie sitzt in seinem Fell und scheint vollkommen unverletzt! Wenn sie diesen furchtbaren Gestank bedenkt... Rockodilkot?! Dann ist Trari nicht geflüchtet, wie Annika dachte. Sie hat Kunz gesucht. Und gefunden! Nachdem Annika daran gescheitert war. Und sie hat ihn offenbar tatsächlich überreden können, sich in einem Haufen... Annika schaudert. Pfui. Aber offenbar erfolgreich. Sein Fell verletzt das Schwarzelefantenmädchen kein bisschen.
Kunz streift an den Puscheln vorbei und nähert sich Bauer Rübenstolz. Dieser scheint darum zu kämpfen, die Hand von der Nase zu nehmen, um seine Säge wieder heben zu können, doch der Gestank des Wolfsfells ist wirklich übelkeiterregend. Immer weiter weichen die Tiere zurück. Popel und Düne bemühen sich wieder, den Stamm anzuheben. (Im Moment ist Popel der ewig Verschnupfte, das glücklichste Tier des Waldes.)
„Geh heim, Mensch“, knurrt Kunz in der Sprache der Menschen. Es klingt nicht wie eine Drohung, mehr wie eine Tatsache. Aber Rübenstolz schüttelt den Kopf.
„Dieser Wald und ihr seid alle elende Diebe. Ihr habt mir alles gestohlen. Meine Feldfrüchte, meine Weiden. Und vor allen Dingen meinen Vater!“
Jetzt werden verwirrte Blicke ausgetauscht. Vater? Wovon redet der Mensch da? Annika hat noch nie etwas von seinem Vater gehört. Auch Kunz wirkt irritiert. Doch als er gerade wieder anfangen will, zu sprechen, reißt Bauer Rübenstolz seine Hand zurück an die Kettensäge und hebt sie hoch. Das rotierende Gerät heult vorfreudig auf, als Rübenstolz auf Kunz zugeht. „Jetzt stehle ich euch, eure Bäume!“
„Stopp!“
Alle drehen sich zu der neuen Stimme um.
Dort, weiter das Seeufer hinunter, wo der Wald einer Sommerwiese weicht, steht der Zeckenpumpf. Direkt unter der Krone des einzigen Baumes dort am südlichen Ende des Sees. Unter einer stinknormalen Eiche. (Was ein deutliches Zeichen dafür ist, dass hier die Grenze des Bumpf-Waldes zur normalen Welt verläuft.)
„Wenn du deinen Vater suchst, bewegst du deinen Hintern lieber hier rüber und stell dieses nervige Gedröhne aus!“, schimpft der wichtelartige Zeckenpumpf und streicht über die Stellen unter dem Ohr, wo sein Bart angeklebt ist. Diesmal scheint er zu halten.
Annika kneift die Augen zusammen. Irgendwie scheint ihr der Tonfall nicht geeignet, um diesen Streit zu beenden. Eher, um den Kampf weiter anzufachen. Der Blick der Tiere huscht zu Rübenstolz, der nun am Zug ist.
Und dann knattert der Motor noch einmal und geht aus. Bauer Rübenstolz brummt eine Reihe von Schimpfworten in seinen Bart (der echt ist) und stapft auf die kleine Gestalt zu.
Dies wäre die ideale Gelegenheit für sämtliche Waldbewohner, sich in Sicherheit zu bringen, aber wenn etwas größer ist als die Furcht, dann ist es Neugier. Und die Bumpf-Wald-Tiere sind samt und sonderes schrecklich neugierig. So kriechen und krabbeln, trappeln, schleichen und wackeln sie vorsichtig hinter Bauer Rübenstolz her, um nichts zu verpassen.
Als er stehenbleibt, ist er noch ein Stück vom Zeckenpumpf entfernt, zuckt mit den Schultern und grollt: „Und, Zwerg? Was jetzt? Vor langer Zeit ging mein Vater in diesen verflixten Wald. Er war schwach und krank und meine Mutter wollte ihn zurückhalten. Doch er schlich sich hinaus. Und kam nie wieder. Dieser Wald hat ihn uns gestohlen! Wo ist er?“
Der Zeckenpumpf verschluckt sich beinahe an der Luft, die er zum Sprechen holt und läuft rot an. („Zwerg“ ist die allerschlimmste Beleidigung für einen Zeckenpumpf! Merkt euch das!) Es dauert einen Moment, in dem den Tieren die angehaltene Luft ausgeht und sie alle nach derselben schnappen müssen, dann fasst sich der Zeckenpumpf. Und tritt einen Schritt zur Seite.
„Hä?“ Sepps Ausruf steht stellvertretend für alle Tiere und Leser.
Bauer Rübenstolz jedoch tritt näher. Die Motorsäge gleitet aus seiner Hand und prallt dumpf auf dem Gras auf.
Was sieht er? Nun, machen wir es nicht spannender, als es ist, zum Beispiel mit unnötig eingeschobenen Sätzen... ähm...
Es ist ein Kreuz. Ein verwittertes, schief stehendes und leidlich kunstfertiges Kreuz aus Zweigen, das vor dem Stamm im Boden steckt. Rübenstolz schluckt. Und immer mehr Fragezeichen bilden sich in den Köpfen der Tiere.
Sepp und Trari haben sich wieder einmal im Nackenfell von Annika eingefunden und tuscheln fragende Worte in ihr Ohr, doch sie schweigt. Weiß selbst keine Antworten.
Eine Windbö streift über die Wiese, scheint Fell, Gras und Menschenhaut streicheln zu wollen. Und alle Vögel, ob aus dem Bumpf-Wald oder aus der Menschenwelt, verstummen.
Die Stimme des Zeckenpumpfes ist das einzige, das zu hören ist und sie ist klar wie Wasser: „Wie du sagst: Er war krank. Er ging in den Wald, um mit mir zu sprechen. Du weißt vermutlich gar nicht, dass dein Vater eine besondere Aufgabe hatte: Er war Miro Rübenstolz, Hüter des Waldes. Und er wusste, wenn er starb würdest du als sein Sohn zum neuen Hüter werden, wenn er vorher keinen anderen fand. Er wusste, dass das das letzte war, was du wolltest. Du konntest den Wald noch nie leiden.“ Es folgt eine Reihe leiser Beschimpfungen, die hier der Stimmung wegen unterschlagen werden.
„Tja und da hat er lieber mich gefragt. Angebettelt hat er mich. Damit du frei sein konntest das zu machen, was du willst.“
Rübenstolz fährt mit einem Mal zum Zeckenpumpf herum. Seine Augen sind rot und glänzen. Seine Schultern heruntergesackt und irgendwie scheint er geschrumpft.
Der Zeckenpumpf kratzt sich am Hintern. „Ich hab's ihm versprochen. Aber leider hat er es nicht zurück nach Hause geschafft. Er ist gestorben, hier in diesem Wald, den er liebte.“ Fahrig deutet er auf das Kreuz. Auf das Grab von Miro, Hüter des Waldes.
Die Tiere wechseln betroffene Blicke. Einige haben Miro gekannt. Andere haben nur die Geschichten gehört. Und keiner wusste etwas davon, dass ausgerechnet Rübenstolz sein Sohn ist.
Bauer Rübenstolz sagt nichts. Er dreht sich einfach um. Er lässt die Motorsäge liegen. Er lässt den Traktor stehen. Er geht nach Hause.
Und der Kampf um den Bumpf-Wald ist vorüber.