Die Nachtbar war wie fast jeden Abend brechend voll. Ein schwerer Duft von Alkohol, Schweiß und Parfüm, gemischt mit einem Hauch wilder Exotik hing in der von lauter Discomusik, Stimmengewirr und nimmermüden Lichtreflexen durchwirkten flirrenden Luft.
Auf der kleinen Bühne, die von schonungslos grellem Neonlicht angestrahlt wurde, rekelte sich unter den johlenden Zurufen zahlreicher männlicher Besucher eine schlanke, halbnackte Tänzerin und wand ihren biegsamen Körper aufreizend um die glänzende Poledance Stange.
Die anheizenden Zurufe der Männer rund um die Bühne schwollen zu animalischem Gebrüll, als die trotz ihrer großzügig aufgetragenen Schminke noch sehr jugendlich wirkende Blondine mit einer blitzschnellen Bewegung ihren knappen BH abstreifte und geschickt in die Menge warf.
„Die Braut ist der Hammer!“, rief ein schwammiger Glatzkopf Ende Fünfzig, der schwitzend und in deutlich angetrunkenem Zustand an der Bar stand und die Show begeistert verfolgte. Er stieß den schlanken, dunkelhaarigen Mann, der neben ihm am Tresen stand, vertraulich mit dem Ellenbogen an. „Würde mich interessieren, ob diese Mega-Titten wirklich echt sind! Was meinst du?“
Mit seinem Glas in der Hand starrte der Fremde zur Bühne hinauf und reagierte in keiner Weise auf diese plumpe Vertraulichkeit.
„Sind sie“, ließ sich der Barkeeper stattdessen mit Kennerblick vernehmen. „An der ist noch alles echt.“
„Hast du das gehört?“, rief der Glatzkopf seinem Nachbarn wollüstig zu, wobei er ihm erneut den Ellenbogen in die Seite rammte. „Mann oh Mann! Ob sich da was arrangieren lässt?“
„Hör auf zu sabbern, du blöder Wichser“, warnte der junge Mann in Jeans und schwarzer Lederjacke mit undurchdringlicher Miene, ohne seinen Blick von dem Mädchen auf der Bühne abzuwenden. „Die spielt nicht in deiner Liga. Such dir gefälligst eine in deiner Preisklasse.“
Der Dicke stutzte und starrte sein Gegenüber dümmlich an. Offensichtlich brauchte sein alkoholvernebeltes Gehirn ein paar Sekunden, um die Bedeutung der eben gehörten Worte zu verarbeiten.
„Wie war das?“, kreischte er kurz darauf zutiefst empört und beäugte seinen ihm körperlich weit überlegenen Nebenmann angriffslustig. „Pass bloß auf, was du sagst, Bürschchen, du kriegst gleich eins in die Fresse!“
„He, ich will hier keinen Ärger“, warnte der Barkeeper eindringlich und schielte vorsorglich zur Security an der Eingangstür.
Der Angesprochene schien jedoch ohnehin keinerlei Notiz von seinem halb besoffenen, lästigen Nachbarn zu nehmen. Er lehnte nach wie vor lässig an der Bar, nippte an seinem Drink und starrte geistesabwesend zur Bühne hinüber, ohne sich um den keifenden Glatzkopf zu kümmern.
Das Mädchen hatte mittlerweile auch sein knappes Höschen fallen gelassen und tanzte, nur noch mit einem knallroten Tanga bekleidet, in aufreizenden Posen um die Stange.
Der dunkelhaarige Fremde schaute ihr scheinbar interessiert zu, aber in Wahrheit nahm er überhaupt nichts von ihrer erotischen Bühnenshow wahr. Das beklemmende unheilvolle Gefühl in seiner Brust signalisierte ihm bereits den ganzen Tag über, dass etwas nicht in Ordnung war, doch jetzt wurde es geradezu bedrohlich, eine übermächtige, zerstörerische Kraft, die aufzuhalten fast unmöglich schien. Sie war immer da, das konnte er deutlich spüren, und sie lauerte tief in seinem Inneren nur auf den richtigen Zeitpunkt zum Angriff. Seine Finger schlossen sich wie Schraubzwingen um das noch halbvolle Glas in seiner Hand.
Die Bestie setzte zum Sprung an…
Er stürzte den Drink in einem Zug hinunter und schob dem Barkeeper wortlos einen Schein über den Tresen.
Die Tänzerin hatte ihre Darbietung beendet und sammelte mit flinken Fingern die Geldscheine ein, die ihr die Männer unter Geschrei, Gejohle und Gewinsel um eine Zugabe auf die Bühne geworfen hatten, bevor sie hinter dem schweren Samtvorhang verschwand.
Mühsam einen neuen Anflug von Panik unterdrückend verließ der Unbekannte ebenfalls eilig die vollbesetzte Bar, die er in der festen Absicht besucht hatte, den Abend und vor allem die darauffolgende Nacht keinesfalls allein zu verbringen. Das hatte er schon des Öfteren getan, und dank seines guten Aussehens und seines charmanten und sehr selbstbewussten Auftretens gegenüber den Damen hatte er auch immer wieder Erfolg. Die meisten Frauen mochten Männer, die wussten, was sie wollten.
Allerdings musste er sich eingestehen, dass ihm ein Date oder vielmehr ein One-Night-Stand kaum noch die Befriedigung verschaffte, die er sich erhoffte. Er war sich auch im Klaren darüber, warum das so war:
Daran war allein sie schuld!
Sie war weg, hatte ihn verlassen, und ihm fehlte ganz einfach die Genugtuung, sie betrügen und demütigen zu können, zu sehen, wie sie litt, wenn er sich ohne jegliche Reue mit anderen Frauen traf.
Dieses Mal hatte sie ihre Drohung wahrgemacht, bei Nacht und Nebel ihre Sachen genommen und war aus seinem Leben verschwunden. Wenn er nur daran dachte, packte ihn eiskalte Wut.
Keine Frau verließ ihn einfach so… Keine!
Wie von unsichtbaren Dämonen verfolgt hetzte er zu seinem Wagen, den er unweit der Bar geparkt hatte, jagte erbarmungslos den Motor hoch und fuhr in rasantem Tempo quer durch die Stadt zurück zu seinem Appartement.
Oben angekommen warf er die Tür achtlos hinter sich ins Schloss, ließ die teure Lederjacke auf den Boden fallen und betrat ohne Umschweife das großzügige, verspiegelte Badezimmer.
Der helle Neonstrahler tauchte den Raum in ein gleißendes Licht, dem nichts verborgen blieb. Er trat an den kostbar aussehenden, geschliffenen Kristallspiegel, der über dem Waschbecken angebracht war und blickte angespannt hinein. Aufmerksam, als sehe er den schlanken, hochgewachsenen Mann im makellosen weißen Anzughemd zum ersten Mal, musterte er das Bild, das sich ihm bot, von allen Seiten. Einen Moment lang schien es, als huschte ein winziger Hauch von Erleichterung, eingebettet in ein kaum wahrnehmbares Lächeln, über sein regelmäßig geschnittenes, fast schon aristokratisch wirkendes Gesicht.
Doch plötzlich hielt er mitten in einer Bewegung inne und erstarrte. Sekunden später fuhr er sich nervös mit den Fingern durch sein glänzendes schwarzes Haar und kniff die Augen, die von einem selten intensiven, dunklen Blau waren, misstrauisch zu schmalen Schlitzen zusammen, als könne er nicht glauben, was sein Spiegelbild ihm zeigte.
Rein optisch war alles in bester Ordnung, aber…
"Verdammt!"
Im Bruchteil einer Sekunde verwandelte sich sein attraktives Gesicht voller Abscheu in eine hasserfüllte Grimasse, die seinen bis dahin makellosen Teint aschfahl erscheinen ließ. Sein markantes Kinn spannte sich derart, dass die Wangenknochen hervortraten. Um den eben noch selbstgefällig lächelnden Mund legte sich ein harter, fast schon unbarmherzig anmutender Zug, während seine Augen plötzlich undurchdringlich schwarz und bedrohlich wirkten.
Nein, es gefiel ihm nicht, was er sah, es gefiel ihm ganz und gar nicht.
Er war wieder da…
Jahrelang war es ihm gelungen, ihn aus seinem Leben herauszuhalten, ihn zu bekämpfen und auf Distanz zu halten, aber der verfluchte Bastard fand immer aufs Neue einen Weg, um zu ihm zurückzukehren.
„Verschwinde, verdammt nochmal!“
Ohne dass er Einfluss darauf nehmen konnte, lösten sich die Worte wie ein wilder Schrei von seinen Lippen. Seine geballte Faust schnellte vor und traf das Spiegelbild mit voller Wucht. Es gab ein hässliches berstendes Geräusch, als das Glas in tausend Splitter zersprang, die sich klirrend auf dem hellen Badfußboden verteilten.
Er hielt inne und starrte unbeweglich mit halb erhobener Faust auf die Stelle, wo ihm noch vor einem Augenblick sein Spiegelbild entgegen geschaut hatte. Einer der messerscharfen Splitter hatte sich in seine Hand gebohrt, doch er achtete nicht darauf.
Erst als ihm das Blut am Handgelenk entlang lief und den Ärmel seines blütenweißen Hemdes durchnässte, schien er wieder zu sich zu kommen.
Schlagartig wurde ihm bewusst, was er soeben getan hatte. Mechanisch entfernte er den Glassplitter, langte nach einem Kleenex aus der Box neben dem Waschbecken und presste es auf die Schnittwunde, während sich sein Gesicht etwas entspannte.
Sein Blick richtete sich auf die Scherben am Boden. Achtlos stieß er sie mit der Fußspitze an. Er war zwar nicht abergläubig, doch er kannte die Bedeutung eines zerbrochenen Spiegels:
Sieben Jahre Unglück.
Oder aber… Sieben Jahre Zeit, um das Schicksal erneut in die richtigen Bahnen zu lenken.
Er lachte laut und hämisch.
Sieben Jahre – So lange würde es nicht dauern, auf gar keinen Fall.
Er brauchte keine verdammten sieben Jahre, um den Mann, der zu Unrecht sein Gesicht trug, endlich für immer zum Schweigen zu bringen.
Jeder noch so kleine Sieg über ihn hatte wie eine berauschende Droge gewirkt, sie tat gut, sie beruhigte die Stimme in seinem Kopf, die ihm sagte, was er zu tun hatte, doch die Abstände der Wirkung, die sie ausübte, wurden immer kürzer, je länger man sich ihrer bediente.
Gegen den verhassten Rivalen anzukämpfen, ihm wehzutun, indem er ihm immer wieder genau das wegnahm, was er liebte, und ihm damit das Leben zur Hölle zu machen, reichte nicht mehr aus.
Diesmal würde er sich nicht mit seinen üblichen Spielchen zufriedengeben, denn er wusste, dass die Genugtuung über einen kleinen Sieg längst nicht mehr lange genug anhielt.
Diesmal war es anders. Verheerender, stärker, endgültiger…
Diesmal würde er nicht eher ruhen, bis er seine ganz persönliche Mission erfolgreich beendet hatte – für immer.