„Du warst das... du hast mich aus der Hütte entführt“, flüsterte Danielle mit zitternder Stimme.
Er lehnte sich zurück und grinste zynisch.
„Kluges Mädchen.“
Sie starrte ihn an und versuchte unter Aufbietung ihrer ganzen Kraft tief und möglichst ruhig zu atmen, damit er ihr die Angst, die ihre Kehle zuschnürte, nicht anmerkte.
„Was willst du?“
Er lächelte überlegen, griff nach einer ihrer langen, braunen Locken und wickelte diese spielerisch um seinen Finger.
„Erinnerst du dich an unser kleines Gespräch neulich am Strand? Ich hatte dir einen Vorschlag gemacht“, erwiderte er in einem zunächst harmlos scheinenden Plauderton. „Du konntest dich nicht entscheiden, Liebes, deshalb habe ich für dich entschieden. Ich habe bereits Flüge nach Europa für uns beide gebucht. Wo willst du zuerst hin? Paris, Rom, Madrid… Ich werde dir jeden Wunsch erfüllen.“
„Das muss ein Alptraum sein.“ Danielle konnte ihr Zittern nicht länger unterdrücken, während sie verzweifelt versuchte, das eben Gehörte zu ordnen. Langsam wurde ihr Kopf wieder klarer, begann aber gleichzeitig ziemlich zu schmerzen. In einem ersten Reflex versuchte sie aufzuspringen, aber sie war noch viel zu schwach und benommen, als dass sie eine Chance gehabt hätte.
Mason reagierte kaum, er streckte nur lässig einen Arm aus, hielt sie mit einer Hand fest und zwang sie mühelos zurück in die Kissen.
„Ich muss schon sagen, Schätzchen, mit ein paar Drogen im Blut bist du ein völlig anderer Mensch. So wunderbar kooperativ!“
Sie drehte den Kopf und sah eine Spritze auf dem Nachtisch liegen, daneben eine Flasche mit irgendeinem Serum.
„Du Bastard“, stöhnte sie. „Was zum Teufel hast du mir gegeben?“
Wieder dieses eiskalte Grinsen, das sie fast um den Verstand brachte.
„Was glaubst du wohl?“
„Mason, du bist verrückt, wenn du denkst, dass du damit durchkommst“, fauchte sie. „Matt wird nach mir suchen und dann Gnade dir Gott!“
Jetzt lachte er. Kalt, emotionslos, überlegen.
„Der gute Matt. Er wird garantiert nicht nach dir suchen. Er wird nämlich ganz einfach glauben, dass du davongelaufen bist, weil du nicht ertragen konntest, was er dir während eures niedlichen kleinen Picknicks am See erzählt hat.“
„Woher weißt du…“, begann Danielle, doch im selben Augenblick begriff sie. „Du hast uns da draußen beobachtet, die ganze Zeit! Ich konnte es fühlen, doch Matt hat mir nicht geglaubt!“ Verzweifelt schüttelte sie den Kopf. „Mason, warum tust du das? Kannst du uns nicht einfach in Ruhe lassen?“
„Er betrügt dich, Dani“, erwiderte er ernst. „Marina braucht nur mit dem kleinen Finger zu schnippen, und schon hat sie ihn wieder! Sie ist seine große Liebe. Das wird sich nie ändern, glaub mir.“ Erneut dieses gefühllose Lachen. „Ich muss schon sagen, die beiden haben mir wirklich einen Riesengefallen getan. Sieh den Tatsachen ins Auge, Baby, ich bin der Mann, der dich liebt, nicht Matt! Für ihn warst du nur ein Ersatz für seine Ex.“
Er strich mit den Fingerspitzen sacht über ihre Wange, doch sie schlug seine Hand weg, wie schon vor ein paar Tagen am Strand.
„Ich hasse dich, Mason! Fass mich bloß nicht an!“
Einen Augenblick lang zögerte er, doch dann packte er blitzschnell ihre Handgelenke mit eisernem Griff und zwang sie erneut zurück in die Kissen. Langsam beugte er sich hinunter und küsste sie: besitzergreifend, fordernd, rücksichtslos. Verzweifelt versuchte sie sich zu wehren, hatte jedoch gegen ihn keine Chance.
Als er nach einigen Sekunden, die ihr wie eine Ewigkeit erschienen, endlich wieder von ihr abließ, blickte er kalt lächelnd auf sie herab.
„Ich liebe dich“, sagte er, jede einzelne Silbe betonend. „Besser, du gewöhnst dich daran.“
Er ließ sie abrupt los, nahm die Spritze und das Serum vom Nachtisch und ging zur Tür.
Mühsam rappelte sie sich hoch.
„Mason… Warte!“
Langsam drehte er sich um.
„Noch einen Kuss, Süße?“
„Was hast du vorhin gemeint, als du sagtest, ich sei… kooperativ gewesen?“, fragte sie vorsichtig, mit zitternder Stimme.
Er hob bedeutungsvoll die Augenbrauen.
„Was glaubst du wohl?“
„Oh nein, so gemein kannst du nicht sein!“
„Keine Sorge, Schätzchen. Das, was heute hier geschehen ist, wird Matt nie erfahren. Es sei denn, ich will, dass er es erfährt.“
„Du verdammter Mistkerl!“
„Ich hole dir etwas zu essen“, sagte er freundlich, aber bestimmt. „Es wäre gut für dich, wenn du brav liegen bleibst. Ansonsten müsste ich dich leider wieder ruhigstellen.“ Er zwinkerte ihr spöttisch zu, winkte kurz, aber sehr bedeutungsvoll mit der Spritze und ging hinaus.
Danielle hörte, wie sich der Schlüssel von außen im Schloss drehte, dann war es still im Zimmer. Unheimlich still...
*
Verzweifelt sah sich Danielle um, während sie, immer noch halb benommen von der Spritze, die Mason ihr gegeben hatte, durchs Zimmer wankte. Sie wusste selbst nicht genau, wonach sie suchte. Irgendetwas, das sie zur Flucht benutzen könnte, oder womit sie vielleicht sogar Mason außer Gefecht zu setzen vermochte…
Aber die Schränke waren alle leer, selbst im angrenzenden Badezimmer fand sie nichts Brauchbares. Das Fenster war verriegelt, der Riegel abmontiert. Außerdem führte es nach hinten in den verwilderten Garten mit angrenzender Garagenmauer, von wo aus sie sowieso keiner sehen konnte.
Resigniert ließ sich Danielle wieder aufs Bett fallen. Sie saß in der Falle, ihr Entführer schien an alles gedacht zu haben. Sie fröstelte und erst jetzt fiel ihr auf, dass sie nur ihre dünne Unterwäsche trug. Irritiert rappelte sie sich erneut hoch und sah sich panisch um. Auf dem Hocker neben dem Bett entdeckte sie ihre Jeans und den weißen Rollkragenpullover, den sie in der Hütte getragen hatte. Mason hatte ihr die Sachen ausgezogen, soviel war klar.
Aber was war danach hier geschehen? Hatte er wirklich…
Sie stöhnte schmerzlich auf und schüttelte verzweifelt den Kopf. Ihr überreiztes und von Drogen umnebeltes Gehirn weigerte sich, den furchtbaren Gedanken zu Ende zu bringen. Zitternd griff sie nach ihren Sachen und schlüpfte, so schnell sie konnte, hinein. Danach blieb sie völlig erschöpft auf der Bettkante sitzen.
Während sie noch saß und grübelte, was sie tun könnte, um sich aus dieser schier ausweglosen Situation zu befreien, betrat Mason erneut das Zimmer, in der Hand einen Teller mit belegten Broten.
„Ah, es geht dir besser“, stellte er fest und betrachtete sie zufrieden. „Das ist gut so, denn wir fahren in spätestens einer halben Stunde hier los.“
„Ich werde nirgendwo hin mit dir fahren“, fuhr Danielle ihn verzweifelt an.
„Oh doch, das wirst du, meine Liebe“, erwiderte er mit jenem überlegenen Lächeln, das sie schaudern ließ. „Du hast gar keine andere Wahl.“ Er zog einen Briefumschlag aus seiner Jackentasche und hielt ihn mit einem bedeutungsvollen Blick hoch.
„Was ist das?“, fragte sie misstrauisch.
„Meine schriftliche Zeugenaussage, dass Randy Walker unschuldig ist. Sozusagen sein Fahrschein in die Freiheit. Glaub mir, Dani, ohne diesen Brief wandert der arme Junge direkt hinter Gitter. Oder vielleicht sogar in die Todeszelle, wer weiß.“ Er musterte sie mit zusammengekniffenen Augen. „Na, wie gefällt dir das? Sie richten ihn hin - und du wärst daran schuld.“ Sichtlich zufrieden registrierte er ihren entsetzten Blick. „Überleg doch mal, Schätzchen… Was hast du zu verlieren, wenn du mit mir kommst? Matt glaubt ohnehin, dass du ihn aufgrund seines kleinen Geständnisses verlassen hast, und vielleicht ist ihm das sogar recht, dann kann er sich nämlich ohne Gewissensbisse wieder seiner Exfrau zuwenden.“
Danielle presste verzweifelt die Lippen zusammen, um nicht laut loszuschreien.
„Bastard“, fauchte sie und drehte demonstrativ den Kopf zur Seite, als er sich erneut neben ihr auf der Bettkante niederließ.
Er packte ihr Kinn und zwang sie, ihn wieder anzusehen.
„Mach es uns doch nicht so schwer“, bat er mit dieser samtweichen, gefährlich leisen Stimme, die ihr eine Heidenangst einjagte. „Glaub mir, wir werden viel Spaß in Europa miteinander haben. Ich lege dir die Welt zu Füßen! Wir beide gehören einfach zusammen, du und ich. Spürst du das denn nicht?“
„Nein!“
Erfolglos versuchte sie ihr Zittern zu unterdrücken. Mason ließ sie los und stand auf.
„Wie dem auch sei… du solltest jetzt etwas essen, damit du schnell wieder zu Kräften kommst. Dort drüben auf dem Sessel liegen die Sachen für dich, die du auf der Reise tragen wirst. Ich habe alles andere zusammengepackt. In etwa einer halben Stunde fahren wir los. Ich gehe davon aus, dass du dich so verhalten wirst, wie ich es von dir erwarte“, sagte er kalt und wandte sich ab.
Danielle überlegte fieberhaft, was sie noch tun könnte, um das Blatt zu wenden.
„Mason, warte!“, rief sie schnell.
Erwartungsvoll drehte er sich um.
„Ich kann nicht mit dir nach Europa gehen, ich habe meinen Pass gar nicht dabei.“
Er lächelte.
„Dein Pass lautet auf den Namen Mrs. Diane Shelton. Hat mich eine ganze Stange Geld gekostet, aber du bist es mir wert.“
Danielle schloss für eine Sekunde die Augen. Dieser Mann war wirklich unberechenbar. Sosehr sie sich auch vor ihm fürchtete, sie musste die Sache anders angehen, wenn sie noch irgendetwas erreichen wollte. Tapfer versuchte sie die Angst zu bezwingen, die ihr beharrlich die Kehle zuschnürte.
„Okay… ich werde dir keine Schwierigkeiten machen“, beeilte sie sich zu sagen. „Aber ich will deine Zeugenaussage vorher lesen... Bitte“, fügte sie schnell hinzu, als sie sah, dass er sie überrascht musterte.
„Also gut.“ Nach kurzem Zögern reichte er ihr den Umschlag. „Damit du siehst, dass ich nicht bluffe. Sobald wir am Flughafen eingecheckt und die Zollkontrolle passiert haben, schicke ich den Brief an die Staatsanwaltschaft von Sunset City ab. Und noch etwas, süße Dani…" Er machte eine Pause und sah sie eindringlich an. „Falls du vorhast, mich hereinzulegen, vergiss es! Die Spritze mit dem Beruhigungsmittel befindet sich in meiner Jackentasche. Ich habe sicherheitshalber ein paar Einheiten mehr aufgezogen, und glaub mir, ich werde sie benutzen, wenn du mich dazu zwingst, und zwar so schnell, dass es garantiert niemand mitbekommt oder verhindern kann. Und es wäre doch jammerschade, wenn meine arme, kleine Frau plötzlich ohne Grund zusammenbricht und kein Arzt der Welt ihr dann noch zu helfen vermag!“
*
Als Danielle wieder allein war, öffnete sie mit zitternden Fingern den Umschlag und las die handgeschriebenen Zeilen. Überrascht stellte sie fest, dass Mason sein Wort gehalten hatte. Tatsächlich würde seine Aussage Randy in sämtlichen Anklagepunkten entlasten. Falls er vorhatte, den Brief wirklich abzuschicken, woran sie berechtigte Zweifel hegte.
Vorsichtig kletterte Danielle erneut aus dem Bett, ignorierte ihre immer noch weichen Knie und begann, die Schubladen ein weiteres Mal systematisch zu durchsuchen. Irgendwo hatte sie doch vorhin… Ah ja, da war es, ein Blatt mit einer Bauanleitung darauf, das wohl versehentlich vergessen worden war.
„Na also!“ Sie faltete das Blatt mit der unbeschrifteten weißen Seite nach außen und steckte es in den Umschlag, den sie anschließend gut sichtbar auf den Nachtisch legte. Masons Schreiben schob sie sorgfältig tief unter die Matratze des Bettes und hoffte inständig, dass ihr Entführer in der Eile nichts von dem Austausch merken würde. Mehr konnte sie im Augenblick nicht tun, aber sie vertraute darauf, dass sich ihr später während der Fahrt oder am Flughafen vielleicht doch noch eine Gelegenheit zur Flucht bieten würde.
Als sie kurz darauf Masons Schritte auf der Treppe hörte, legte sie sich schnell wieder aufs Bett und tat so, als sei sie erneut von ihrer Müdigkeit übermannt worden.
In diesem Augenblick begann es unten an der Haustür zu läuten.
*
Chelsea kam langsam wieder zu sich. Allmählich, Stück für Stück erinnerte sie sich, was geschehen war, und ihre missliche Lage wurde ihr nach und nach voll bewusst. Panisch blickte sie sich in dem dunklen, stickigen Raum um. Es gab nur ein winziges, rundes Bodenfenster, das notdürftig mit irgendeinem Stoffrest verhängt war. Es roch muffig nach alten, eingestaubten Sachen.
Mühsam versuchte sie sich aufzurichten. Ihre Fesseln hinderten sie daran, größere Bewegungen zu machen. Trotzdem versuchte sie von der Liege aufzustehen, doch sie verlor das Gleichgewicht und fiel der Länge nach auf die Dielen.
„Mmmmh... mmh….“
Ein stechender Schmerz im Ellenbogen nahm ihr fast die Luft. Sie blieb einen Augenblick lang liegen und versuchte, ruhig durch die Nase zu atmen, bis der Schmerz etwas abgeklungen war.
Noch während sie überlegte, was sie tun könnte, um sich von den Fesseln zu befreien, hörte sie plötzlich ganz deutlich das Läuten unten an der Tür…
*
Dean schaute sich unruhig um. Wo blieb Stefano nur so lange? Und warum kam Chelsea nicht wieder? Was zum Teufel machte sie so ewig lange dort drin bei diesem Kerl, der vielleicht schon Danielle in seiner Gewalt hatte!
Rastlos lief er hin und her, sah immer wieder zum Haus hinüber und vergewisserte sich, dass er selbst von dort aus nicht gesehen werden konnte. Ihm war ganz schlecht bei dem Gedanken, dass Chelsea vielleicht irgendetwas geschah… Er hatte den Ausdruck in Matts Augen gesehen, als der vorhin über seinen Bruder sprach. Matt traute Mason alles zu. Und das machte Dean Angst.
Zum hundertsten Mal seit den letzten fünf Minuten sah er auf die Uhr.
„Ich werde hinübergehen und nachsehen, wo Chelsea so lange bleibt!“ Entschlossen trat er aus seinem Versteck. Genau in diesem Augenblick bog Stefanos Wagen um die Ecke, gefolgt von einer weiteren Zivilstreife, in der zwei seiner Kollegen saßen.
Die beiden Autos hielten ein Stück entfernt von Masons Haus, so dass er sie vom Fenster aus nicht sehen konnte.
Stefano und Matt stiegen aus und winkten Dean zu sich heran.
„Gibt es inzwischen etwas Neues?“, fragte Stefano.
Dean schüttelte aufgeregt den Kopf.
„Höchste Zeit, dass ihr endlich aufkreuzt! Chelsea ist immer noch im Haus und ich habe wirklich Angst, dass ihr etwas passiert!“
„Ganz ruhig, Mann“, meinte Stefano und wandte sich an Matt. „Du bleibst mit Dean hier. Wenn Mason dich sieht, weiß er sofort, was los ist. Ich werde hinübergehen und an der Tür klingeln.“
Während Matt nur sichtlich widerwillig nickte, sah Dean Stefano verständnislos an.
„Sie wollen ganz ohne Verstärkung dort hineingehen?“
Stefano legte ihm die Hand kurz auf die Schulter.
„Ich bin kein Neuling in dem Job, Dean. Außerdem wissen wir noch gar nicht, ob sich unser Verdacht gegen Mason Shelton überhaupt bestätigt. Demzufolge haben wir weder einen Haft- noch einen Durchsuchungsbefehl, der uns das Recht geben würde, das Haus zu stürmen. Deshalb muss ich erst einmal den normalen Weg gehen. Aber ich werde schon mit ihm fertig, falls er mich angreifen sollte. Notfalls können Nolan und Davis mir Deckung geben.“ Er blickte hinüber zu dem anderen Wagen und gab seinen Kollegen ein Zeichen. Dann drehte er sich um und ging eiligen Schrittes auf den Hauseingang zu.
Matt wollte ihm folgen, doch Dean hielt ihn fest.
„Hey, was hast du vor?“
„Bleib du hier“, erwiderte Matt, „Ich habe einen Plan.“
„Ja aber, der Detektiv hat gesagt...“
„Keine Sorge, Dean, ich weiß, was ich tue.“ Ohne eine weitere Antwort abzuwarten, eilte Matt in geduckter Haltung von der Seite her an das Haus heran und ging neben der Haustür an der Wand in Deckung. Von hier aus konnte er genau hören, was gesprochen wurde, falls es überhaupt zu einem Gespräch kam.
Stefano hatte bereits mehrmals den Klingelknopf gedrückt, als er Matt bemerkte.
„Verschwinde!“, zischte er wütend, doch bevor er etwas unternehmen konnte, wurde die Tür bereits geöffnet.
„Mason Shelton?“, fragte Stefano und zückte der Form halber seinen Dienstausweis.
„Detektiv Stefano Cortez, Marinas großer Bruder!“ Mason grinste. „Was verschafft mir denn diese Ehre?“
Stefano musterte ihn aufmerksam.
„Wo warst du heute in den Mittagsstunden, Mason?“
Matts Zwillingsbruder verzog abweisend das Gesicht.
„Warum sollte ich dir das sagen? Liegt etwas gegen mich vor?“
„Wir haben einen Hinweis bekommen, dass du jemanden in deinem Haus versteckt hältst“, sagte Stefano ernst. „Und dieser „Jemand“ soll nicht ganz freiwillig hier sein.“
„Ach ja?“ Mason lachte abfällig. „Es ist doch immer wieder erstaunlich, auf was für absurde Ideen die Leute so kommen. Darf ich fragen, wem ich dieses böse Gerücht zu verdanken habe?“
„Falls es sich nur um ein Gerücht handelt, umso besser für dich“, erwiderte Stefano, ohne weiter auf Masons letzte Frage einzugehen. „Dann hast du sicher nichts dagegen, wenn ich einen Augenblick hereinkomme und mich vergewissere, dass es keinen Grund gibt, dir zu misstrauen.“
Mason verschränkte demonstrativ die Arme vor der Brust. Seine dunklen Augen musterten Stefano drohend.
„Ich habe sehr wohl etwas dagegen, dass du hier herumschnüffeln willst, nur weil irgend ein Spinner sich einbildet, er könnte mir etwas anhängen.“
„Ich erledige doch nur meinen Job“, versuchte Stefano einzulenken. „Ich schaue mich kurz um und bin in ein paar Minuten wieder verschwunden.“
Mason schüttelte ungerührt den Kopf.
„Nicht ohne Durchsuchungsbefehl, Detektiv Cortez. Hast du einen vorzuweisen?“
„Noch nicht.“
„Dann komm wieder, wenn du deine Hausaufgaben gemacht hast. Sonst noch etwas?“
„Eine junge Frau ist dabei beobachtet worden, wie sie vor einer halben Stunde dein Haus betreten hat. Chelsea Hobbs.“
Mason grinste ungerührt.
„Chelsea… Das ist doch die süße Chefin aus dem OCEANS, blonde Haare und grüne Augen, wirklich niedlich. Ich glaube, wenn sie hier wäre, hätte ich das ganz sicher bemerkt. Aber leider bin ich wohl nicht ihr Typ, denn sie ist nicht bei mir aufgekreuzt. Jammerschade!“
„Mason, hör auf, mich für dumm zu verkaufen“, warnte Stefano in schneidendem Tonfall.
„Oh Verzeihung, Detektiv!“ Masons Grinsen verschwand schlagartig und er maß sein Gegenüber mit einem giftigen Blick. „Vielleicht solltest du in einem der Nachbarhäuser nachfragen! Die Hütten hier sehen doch alle gleich aus. Bei mir ist sie jedenfalls nicht.“
„Sicher?“
„Ich sag es dir jetzt zum letzten Mal: Bei mir war und ist niemand! Und nun lass mich in Ruhe, Cortez, und jag deine Verbrecher woanders.“
Damit drehte er sich um und knallte die Tür hinter sich zu.
*
„Verdammt!“
Matt sprang aus seinem Versteck, doch es war bereits zu spät, die Tür war verschlossen.
„Gratuliere“, fauchte er Stefano wütend an. „Das war wirklich äußerst professionell!“
„Hey, beruhige dich!“
Stefano zog ihn ein Stück von der Tür weg, so dass Mason, falls er von drinnen lauschte, sie nicht hören konnte. „Was hätte ich denn tun sollen? Ich habe meine Vorschriften, mir sind die Hände gebunden ohne offiziellen Durchsuchungsbefehl.“
„Ich pfeife auf deine Vorschriften! Danielle ist da drin, das sagt mir mein Gefühl, und sie braucht mich! Ich kann förmlich spüren, dass sie in Gefahr ist!“
„Wir werden das Haus bewachen.“
„Vergiss es, Stef!“
*
Mason hörte die Stimme seines Bruders draußen vor der Tür. In diesem Augenblick wurde ihm klar, dass er verspielt hatte. Matt hatte sein perfides Spiel durchschaut, und er hatte bedeutend schneller reagiert als erwartet.
Mason kannte seinen Zwilling genau. Er war sicher, wenn Matt einmal wusste, dass Danielle hier drin war, würde er sich nicht aufhalten lassen.
Zum Teufel! Alles, was er so exakt geplant hatte, war damit hinfällig.
Oder vielleicht doch nicht?
Mason überlegte fieberhaft.
Er musste zusehen, dass wenigstens er selbst noch mit heiler Haut davonkam.
Danielle konnte er nicht mitnehmen, so sehr er das auch bedauerte, aber das wäre in dieser prekären Situation zu aufwändig für ihn. Sie würde sich garantiert wehren, wenn sie erst einmal mitbekam, dass Matt und die Polizei vor der Tür standen.
Aber allein hatte er eine Chance. Sein Gepäck war im Wagen, und der Mustang stand startbereit vor dem Hinterausgang.
Plötzlich überzog ein teuflisches Grinsen sein Gesicht.
Ja, er würde Danielle zurücklassen, aber nicht so, wie Matt sich das wünschte.
Sein Bruder sollte sie trotz allem nicht zurückbekommen!
Er griff nach der Spritze und dem Serum in seiner Jackentasche und stieg eilig die Stufen hinauf zum Schlafzimmer.
*
Nachdem Matt ungefähr zwei Minuten lang vor Masons Haustür rastlos auf und abgelaufen war, blieb er plötzlich stehen und starrte Stefano böse an.
„Willst du nicht endlich etwas unternehmen?“
Stefano verdrehte genervt die Augen.
„Nun lass mich doch mal eine Sekunde lang in Ruhe nachdenken“, knurrte er. „Wie bereits gesagt, ich habe meine Vorschriften, und die kann ich nicht einfach ignorieren! Wenn ich irgendwas Unüberlegtes tue, reißt mir Chief Henderson persönlich den Kopf ab.“
„Feigling“, zischte Matt. „Ich pfeife auf deine blöden Vorschriften!“
Er überlegte einen Moment und holte dann tief Luft.
„Tut mir leid, aber du lässt mir keine andere Wahl…“
Noch bevor Stefano wusste, wie ihm geschah, wirbelte Matt herum und versetzte ihm einen wohlgezielten Kinnhaken, der ihn für ein paar Sekunden außer Gefecht setzte.
Dieser Moment reichte aus.
Ehe Nolan und Davis aus ihrer Deckung heraus irgendwie reagieren konnten, hatte Matt Stefanos Waffe aus dessen Halfter gezogen.
„Shelton, machen Sie keinen Blödsinn!“, brüllte Nolan und zog ebenfalls seine Waffe. Geduckt, damit ihn niemand vom Haus aus sehen konnte, kam er herüber zum Eingang gerannt, dicht gefolgt von Officer Davis und Dean.
Doch es war schon zu spät.
Matt entsicherte die Waffe, brachte sie in Anschlag und mit einem ohrenbetäubenden Knall ging der Schuss los…
*
Chelsea hörte deutlich Schritte auf dem Flur. Sie kamen von der Treppe her. Jemand schien es ziemlich eilig zu haben. Kurz darauf hörte sie Masons Stimme und dann… hörte sie plötzlich Danielles verzweifelten Hilferuf.
Sekunden später war alles still.
Chelsea lauschte angespannt und ihr Herz raste vor Aufregung wie wild, so dass jeder einzelne Schlag wie ein Kanonendonner in ihren Ohren widerzuhallen schien.
Eine Tür fiel zu und irgendjemand, wahrscheinlich Mason, eilte die Treppe hinunter. Wieder war alles beängstigend ruhig.
Mit einem Mal krachte ein Schuss ohrenbetäubend durch die Stille. Es klang, als ob in der unteren Etage Holz splitterte und Chelsea vernahm aufgeregte Stimmen.
Von da an begann sie, verzweifelt mit ihren gefesselten Füßen gegen die verschlossene Tür zu treten…
*
Bereits der erste Schuss, den Matt aus Stefanos Dienstwaffe abfeuerte, zerschmetterte das Schloss der Haustür derart, dass ein kräftiger Tritt gegen das ansonsten massive Eichenholz ausreichte, um den Eingang freizumachen.
Matt stürmte in die Wohnung, gefolgt von Dean und Officer Davis, während Nolan seinem Boss half, der sich soeben ächzend wieder aufrappelte.
„Dieser verrückte Spinner“, knurrte Stefano und rieb sich das von Matts Schlag schmerzende Kinn. „Los, Nolan, hinterher! Vielleicht können wir das Schlimmste noch verhindern!“
Matt hatte sich auf der Suche nach Mason als erstes die untere Etage vorgenommen.
Er riss die Küchentür auf, die zum Hinterausgang führte und bemerkte, dass diese Tür sperrangelweit offen stand. Im selben Moment heulte draußen der Motor eines Sportwagens auf. Ohne zu zögern stürmte Matt hinaus in den Garten und konnte gerade noch sehen, wie Masons Mustang mit durchdrehenden Rädern davonraste, eine dicke Staubwolke hinter sich zurücklassend.
„Verdammter Mist“, fluchte er wütend und wies auf die Straße, als Stefano und Nolan hinter ihm auftauchten. „Er ist uns entwischt!“
Dieses Mal zögerte Stefano nicht so lange.
„Das übernehmen wir“, entschied er. „Such nach Danielle. Vielleicht ist sie ja wirklich noch hier im Haus!“ Er drehte sich zu Nolan um. „Ruf Verstärkung! Unsere Leute und außerdem auch die Highway- Polizei! Sag ihnen, wir suchen nach einem schwarzen Mustang, wahrscheinlich ein Mietwagen. Und gib ihnen eine kurze Beschreibung von dem Flüchtigen durch. Sie sollen den Highway und die Küstenstraße in beide Richtungen absperren und ihm den Weg abschneiden. Na los, beeil dich! Ich nehme meinen Wagen und du kommst mit dem anderen nach! Mason darf uns nicht entwischen!“
Davis und Dean waren nach oben gelaufen, von wo sie aus einem Zimmer am Ende des Flures ein immer wiederkehrendes Poltern hörten.
„Vorsicht da drin“, rief Dean und trat mehrmals kräftig gegen die Tür, die schließlich mit einem berstenden Geräusch nachgab.
Chelsea lag auf dem Boden, die gefesselten Beine schützend an den Körper gezogen und starrte ihnen mit angstvoll geweiteten Augen entgegen.
Als sie Dean erkannte, stöhnte sie erleichtert auf. Mit zwei Schritten war er bei ihr.
„Chelsea! Warte, ich helfe dir.“ Vorsichtig löste er das Pflaster von ihrem Mund, und sie schnappte sogleich gierig nach Luft.
„Dean… Gott sei Dank“, brachte sie schließlich heraus. „Ich hatte so furchtbare Angst! Dieser Mistkerl hat mich betäubt! Und als ich aufwachte, habe ich plötzlich einen Schuss gehört…“
Während Davis sein Taschenmesser zückte und begann, ihre Fesseln aufzuschneiden, streichelte Dean beruhigend Chelseas schweißnasses Gesicht.
„Ist ja gut, jetzt kann dir nichts mehr geschehen!“
Sie nickte und lehnte erschöpft ihren Kopf an seine Schulter, doch Sekunden später fuhr sie wieder hoch.
„Danielle! Mason hatte sie im Schlafzimmer eingesperrt. Sie hat geschlafen, als ich sie gesehen habe.“ Sie schluckte und sah Dean ängstlich an. „Vor ein paar Minuten habe ich sie gehört, sie hat um Hilfe gerufen!“
In diesem Augenblick ertönte Matts Schrei vom anderen Ende des Flures.
„Ruft einen Krankenwagen… Wir brauchen einen Notarzt, verdammt nochmal, schnell! Danielle… Liebling… Neeeeeein!“