Erschrocken fuhr Stefano aus dem Schlaf hoch und packte Claudias Handgelenk.
„Autsch! Lass los, du tust mir weh!“
Mit einem entschiedenen Ruck befreite sie sich aus seinem Griff und wich sicherheitshalber einen Schritt zurück.
Stefano fuhr sich schlaftrunken mit der Hand über die Augen. Er brauchte einen Augenblick, um seine Gedanken zu ordnen. Eben hatte er noch von ihr geträumt, und nun stand sie plötzlich mitten in der Nacht vor seinem Bett.
„Claudia.... Was tust du hier?“
Sie rieb sich verlegen ihr Handgelenk.
„Unten ist ein Freund von dir, der dringend deine Hilfe braucht. Ich wollte nicht das ganze Haus aufwecken, deshalb bin ich heraufgekommen. Ich habe angeklopft, aber du scheinst ziemlich fest geschlafen zu haben. Hattest du einen Albtraum?“
´Im Gegenteil´, dachte Stefano, während er die Decke zurückschlug und sich auf die Bettkante setzte.
„Nein, ich habe nichts geträumt“, log er hastig.
Verstohlen betrachtete Claudia seinen nackten, muskulösen Oberkörper, wandte sich jedoch erschrocken ab, als ihre Augen gleich darauf denen Stefanos begegneten.
„Wer zum Teufel kann denn das sein, mitten in der Nacht?“, murmelte er, mehr zu sich selbst, während er seinen Blick kaum von seiner Schwägerin abwenden konnte. Sie trug einen dünnen Morgenmantel über ihrem Sleepshirt und ihr langes schwarzes Haar fiel ihr wie ein seidiger Vorhang über die Schultern. Selbst im fahlen Mondlicht, das nur spärlich durch das geöffnete Fenster ins Zimmer drang, übte sie diesen gewissen Zauber auf ihn aus, der ihm jedes Mal, wenn er sie sah, ein Kribbeln unter der Haut verursachte.
„Mitch“, erwiderte Claudia eilig und riss ihn damit aus seinen Gedanken. „Er ist sehr aufgeregt. Du solltest mitkommen und dir anhören, was er zu sagen hat.“
„Mitch?“ Erstaunt sprang Stefano auf. „Also dann muss es wirklich wichtig sein.“
Claudia nickte und wandte sich verlegen ab, als er hastig seine Jeans von der Stuhllehne angelte und über seine Shorts zog.
„Gehen wir“, sagte er leise und folgte ihr nach unten.
*
Los Angeles
George Freeman starrte fassungslos auf den Hörer in seiner Hand.
Jin Kiyoshi – der Mann, dem er vertraut hatte wie einem Sohn – ein gemeiner Betrüger?
Das konnte doch unmöglich wahr sein!
George hatte zwar sein ganzes bisheriges Leben lang den Ruf eines ehrgeizigen und hartgesottenen Geschäftsmannes genossen, aber in seinem Inneren war er gutmütig und gerecht, und auf eine wichtige Eigenschaft hatte er sich bisher stets verlassen können: auf seine hervorragende Menschenkenntnis. Und die sagte ihm, dass er sich keinesfalls so grundlegend in Jin getäuscht haben konnte.
Wenn der Junge in Tokio wirklich derart eiskalt auf sein Geld und seine Firmenanteile spekuliert hätte, wie er ihn eben am Telefon hatte glauben lassen, warum zum Teufel sollte er ihn dann deswegen auch noch anrufen? Es wäre doch viel sicherer für ihn, sich mit dem Geld auf und davon zu machen!
Nein, George war überzeugt davon, dass hier irgendetwas nicht stimmte. Kurzentschlossen griff er erneut zum Telefon und wählte die Nummer seines Anwaltes und engsten Vertrauten Roger Miles. Während er wartete, dass Roger sich meldete, kramte er aus seiner Schreibtischlade ein Päckchen seiner starken Herztabletten hervor. In seiner Brust hatte sich in den letzten Minuten seit dem Telefonat mit Jin ein dumpfer Schmerz bemerkbar gemacht, ein deutliches Warnzeichen seines Körpers für die innere Aufregung.
„Bleib ruhig, alter Junge! Was es auch ist, wir werden es klären“, murmelte er und nahm das Medikament mit einem kräftigen Schluck Wasser, als sich Miles auch schon am anderen Ende der Leitung meldete.
„George, was gibt es denn?“
„Kannst du sofort zu mir herüberkommen?“, bat ihn der Elektronik-Mogul ohne große Vorrede. „Bitte beeil dich, Roger, es ist wirklich sehr wichtig. Es geht wieder einmal um Tokio.“
Nach dem anschließenden, vertraulichen Gespräch mit Roger Miles griff George Freeman abermals zum Telefon.
Mit grimmiger Miene schlug er eine geheime Akte auf, die sonst gut verborgen in seinem persönlichen Safe lag. Entschlossen wählte er die darin befindliche Telefonnummer.
Binnen Sekunden kam die Verbindung zustande.
Das folgende Gespräch war kurz, aber präzise.
Nachdenklich legte George wieder auf und wechselte mit Roger einen vielsagenden Blick.
„Die notwendigen Schritte sind eingeleitet.“ sagte er ernst. „Jetzt gibt es kein Zurück mehr!“
*
Zu dritt saßen sie in der kleinen Küche, nachdem Claudia einen starken Kaffee für sie alle gekocht hatte.
„Offiziell kann ich nach so kurzer Zeit noch keine Fahndung einleiten“, sagte Stefano bedauernd, als Mitch ihm berichtet hatte, was er wusste. „Suki ist eine erwachsene Frau und kann auch mal ein paar Stunden wegbleiben, ohne sich abzumelden.“
Mitch fuhr sich nervös durch sein widerspenstiges blondes Haar.
„Das weiß ich schon von deinen Kollegen auf dem Revier, verdammt“, meinte er leicht gereizt. „Deshalb bin ich ja auch nicht offiziell hier, sondern als dein Freund, der dringend deine Hilfe braucht.“ Er beugte sich vor und sah Stefano mit ernstem Blick an. „Glaub mir, da stimmt etwas nicht. Das passt nicht zu Suki, einfach ihr Auto am anderen Ende der Stadt abzustellen und dann spurlos zu verschwinden. Noch dazu in einer unsicheren, verlassenen Gegend. Sie hätte sich längst gemeldet, wenn alles in Ordnung wäre.“
Stefano maß ihn mit nachdenklichem Blick.
„Vor einigen Tagen hat Matt fast genau dasselbe zu mir gesagt, als er in mein Büro gestürmt kam und nach Danielle suchte. Und er hatte leider Recht.“ Mit einem bitteren Lächeln auf den Lippen nickte er, und Claudia spürte deutlich, dass ihm die Sache noch immer zusetzte. „Ich habe ihm nicht geglaubt und viel zu lange gezögert, obwohl ich ihn gut genug kenne, um zu wissen, dass er nicht umsonst so reagiert. Danielle hätte meinen blöden Fehler fast mit ihrem Leben bezahlt.“ Er nickte wie zur Bestätigung und stand auf. „Das passiert mir nicht noch einmal.“
„Was hast du vor?“, fragte Claudia erstaunt.
„Ich bin gleich zurück“, erwiderte Stefano. „Ich muss nur schnell ein paar Anrufe erledigen. Vielleicht wissen wir danach etwas mehr.“
Während Mitch und Claudia einander fragend ansahen, verschwand Stefano im Nebenzimmer. Eine ganze Weile hörten sie ihn eifrig mit jemandem diskutieren, dann war es still. Irgendwann nach weiteren endlos scheinenden Minuten führte er noch ein Gespräch. Kurz darauf kam er zurück.
„Du hattest Recht, Mitch“, sagte er ernst. „Es ist wirklich etwas nicht in Ordnung.“
Mitch sprang auf.
„Was ist passiert? Sag schon…“
„Ich habe einen Informanten beim FBI. Die haben da gerade eine etwas größere Sache am Laufen. Das Sunset City Police Departement ist nicht informiert worden, damit sich niemand einmischt, zumindest nicht offiziell.“
„Was heißt das?“
„Das heißt, dass ich weiß, wo sich Suki vermutlich befindet. Wir nehmen meinen Wagen. Schließlich bin ich ja nicht im Dienst.“
„Moment mal“, rief Claudia und lief ihnen bis zur Tür nach. „Und wohin wollt ihr beide jetzt?“
„Nach Santa Monica.”
*
Santa Monica
„Nehmen Sie mir doch wenigstens die Augenbinde ab“, bat Suki mit eindringlicher Stimme, als sie hörte, wie ihr Entführer den Raum wieder betrat, in dem sie sich seit unbestimmter Zeit befand. Die Schritte kamen näher, und die junge Ärztin verkrampfte sich unwillkürlich, da sie nicht wusste, was sie zu erwarten hatte.
Sie erschrak zutiefst, als sie Sekunden später eine flüsternde Stimme unmittelbar an ihrem Ohr hörte.
„Sie würden mein Gesicht sehen und mich später wiedererkennen, Prinzessin, und dann müsste ich Sie töten. Und das wollen wir doch beide nicht, oder?“
Suki schluckte die aufsteigenden Tränen hinunter und schüttelte den Kopf. Nein, sie würde nicht weinen, auf gar keinen Fall, diese Genugtuung wollte sie diesem Mistkerl nicht geben. Es war lediglich diese lähmende Ungewissheit, die sie verunsicherte und ihr unbändige Angst einjagte.
Vor kurzem hatte der Unbekannte ihr ein Telefon ans Ohr gehalten und sie gezwungen, sich zu melden. Am anderen Ende der Leitung war Jin Kiyoshi gewesen, ihr Ex-Verlobter. Soweit sie wusste, hielt sich Jin nach wie vor in Tokio auf, wo er in einer leitenden Position für eine Elektronik-Firma tätig war. Seine Stimme hatte ungewöhnlich geklungen, aufgeregt und voller Sorge um sie…
„Was ist mit Jin? Sagen Sie mir doch endlich, was Sie vorhaben, Mister“, bat sie eindringlich.
„Eins nach dem anderen, Schätzchen“, erwiderte der Unbekannte gleichgültig. „Wir warten jetzt in aller Ruhe auf den nächsten Anruf.“
Sie hörte, wie er sich entfernte.
„Halt, warten Sie!“, rief sie hastig.
Die Schritte verstummten. Er schien stehengeblieben zu sein.
Suki atmete tief durch.
„Bitte... ich muss dringend zur Toilette!“
Ein unterdrückter Fluch folgte.
„Verdammt nochmal… auch das noch!“
Sie wurde grob am Arm gepackt und gewaltsam auf die Füße gezogen. Eine Hand legte sich wie eine Schraubzwinge mit festem Griff um ihren Oberarm. Der Unbekannte stieß sie rücksichtslos vorwärts.
„Na los, Bewegung!“
Unsicher stolperte sie neben ihm her und hörte, wie sich eine Tür öffnete.
„So, hier ist das Badezimmer.“
„Bitte lassen Sie mich einen Moment allein“, flehte Suki. „Und binden Sie meine Hände los, ich verspreche, ich werde nicht versuchen zu fliehen! Sie können ja vor der Tür stehenbleiben…“
„Zum Teufel, ich hasse diesen Job“, knurrte der Unbekannte, während er umständlich ihre Handfesseln löste. Diese Situation schien ihn allem Anschein nach ziemlich zu überfordern. „Also gut, ich warte draußen. Aber ich warne Sie, Lady, keine dummen Tricks! Und lassen Sie in ihrem eigenen Interesse die Augenbinde dran!“
„Aber dann kann ich doch nicht…“, versuchte Suki einzuwenden, doch er schnitt ihr genervt das Wort ab.
„Dran lassen, habe ich gesagt! Wenn ich Sie ohne das Ding erwische, werde ich Sie ohne zu zögern erschießen, kapiert?“
Sie nickte heftig und rieb sich die von den Fesseln schmerzenden Handgelenke. Unsanft schob er sie vorwärts, dann klappte eine Türe hinter ihr zu, und der Schlüssel drehte sich im Schloss.
Sie war allein.
*
„Kannst du nicht etwas schneller fahren?“
Nervös rutschte Mitch auf dem Beifahrersitz herum. Stefano warf ihm einen warnenden Blick zu.
„Hey, ich bin nicht im Dienst, also muss ich mich an die Vorschriften halten.“
„Ich pfeife auf die verdammten Vorschriften“, knurrte Mitch, und Stefano dachte sofort wieder an Matt.
Würde sich am Ende alles wiederholen?
Nein, nur das nicht...
Unwillkürlich trat er das Gaspedal bis zum Anschlag durch. Der Wagen jaulte auf und schoss über den Highway One in Richtung Santa Monica.
*
Santa Monica
Mit einer kräftigen Bewegung schob Suki das Tuch von ihren Augen und blinzelte. Sobald sie sich einigermaßen an das Licht gewöhnt hatte, sah sie sich um.
Sie befand sich in einem winzig kleinen Waschraum mit Toilette, Waschbecken und Dusche. Die Deckenbeleuchtung war eingeschaltet, denn hier gab es kein Fenster.
Enttäuscht lehnte sie sich gegen die kühle Wand, doch Sekunden später siegte ihr Kampfgeist und sie sah sich in fieberhafter Eile suchend um.
Da... in der Ecke stand ein Besen mit einem dicken Metallgriff.
„Besser als gar nichts“, murmelte sie und untersuchte das Teil kurz, bevor sie es mit beiden Händen wie eine Waffe umklammerte.
Ja, sie musste es versuchen! Auf keinen Fall würde sie kampflos aufgeben!
„Fertig da drin?“, ließ die Stimme vor der Tür sie Sekunden später erneut zusammenfahren.
Sie schluckte den dicken Kloß, der in ihrer Kehle zu stecken schien, hinunter.
„Einen Moment noch, ich bin gleich soweit.“
Die Stimme ihres Entführers kam ihr schon die ganze Zeit über merkwürdig bekannt vor, sie war ziemlich sicher, sie schon irgendwo gehört zu haben.
Aber wo?
Egal, sie musste jetzt handeln.
Inzwischen war sie überzeugt davon, dass jemand versuchte, Jin mit dieser kriminellen Aktion zu erpressen. Sie hatte keine Ahnung, um was genau es dabei ging, sie wusste nur, dass er seit einiger Zeit diese Elektronik-Firma in Tokio leitete, die einem mächtigen Konzern angehörte und sozusagen dessen Zentrum war.
Obwohl sie ihren Jugendfreund und Dauerverlobten nach wie vor sehr gerne mochte und genau wusste, dass er sie immer noch liebte, hatte sie sich vor ein paar Monaten von ihm getrennt. Dieser Schritt war der erste gewesen auf Sukis Weg in ein selbstständiges Leben. Sehr zum Bedauern ihrer Eltern, die sich seit Jahren schon darauf verlassen hatten, dass ihre einzige Tochter den Sohn des Geschäftspartners ihres Vaters heiraten würde. Das hatten sie Suki auch deutlich spüren lassen, und seitdem diese in Sunset City lebte, war der Kontakt zu ihrer Familie und auch der zu Jin fast gänzlich abgebrochen.
Und nun das...
Sukis Hände umfassten fest entschlossen den metallenen Besenstil. Sie würde nicht zulassen, dass irgendwer Jin schadete.
Nicht, wenn sie es verhindern konnte!
*
Tokio
Wes fühlte sich sicher und kostete seinen Erfolg voll aus. Jin hatte die Verträge widerstandslos unterzeichnet, die er ihm vorgelegt hatte. Somit war Wes Parker der neue Eigentümer eines nicht unbeträchtlichen Aktienpaketes der Firma FREEMAN ELECTRONICS.
Er grinste siegessicher und musterte den jungen Japaner, der abwartend vor dem großen Panoramafenster stand, von wo aus er einen herrlichen Blick über die japanische Millionenstadt hatte.
„Sie müssen Ihre Ex immer noch ziemlich gerne haben, Mr. Kiyoshi“, bemerkte er mit einem gewissen Hohn in der Stimme. „Wo Sie doch so kompromisslos bereit sind, alles für sie aufzugeben.“
Jin Kiyoshi drehte sich langsam zu ihm um und sein Gesicht verriet mit keinem Zug, was er in dieser Sekunde dachte.
„Das werden Sie niemals verstehen, Mr. Parker, denn solche Gefühle sind Menschen wie Ihnen fremd“, erwiderte er ruhig. „Kann ich jetzt bitte mit Suki sprechen?“
„Nein!“, bellte Wes wütend, denn die Bemerkung hatte ihn wider Willen verärgert. „Zuerst werde ich eine Vorstandssitzung einberufen, damit Sie mich den Mitgliedern der Firmenleitung offiziell vorstellen und ihnen gleichzeitig verkünden, dass es diese Zweigfirma nicht mehr gibt und somit ihre Tätigkeit bei FREEMAN ELECTRONICS mit dem heutigen Tag beendet ist. Es sei denn...“ Er grinste bösartig „...die Herrschaften möchten ab sofort gern für mich arbeiten.“
Jin atmete tief durch, um die Gefühle, die in ihm tobten, unter Kontrolle zu behalten.
Dieser Mann war unglaublich!
„Tut mir leid, Mr. Parker“, sagte er gespielt gleichmütig. „Aber momentan sind nicht alle Mitarbeiter im Haus. Einige von ihnen sind im Außendienst oder haben...“
„Dann rufen Sie sie an, verdammt!“, brüllte Wes ungehalten dazwischen und schlug mit der Faust auf den Schreibtisch. Dieser asiatische Yuppie mit seiner unerschütterlichen Ruhe brachte ihn allmählich aus der Fassung.
Aber nein, er durfte sich nicht provozieren lassen, schließlich war er ganz kurz vor seinem Ziel.
„Okay“, meinte er, holte tief Luft und würgte das dringende Verlangen, Jin seine Faust mitten ins Gesicht zu schlagen, mühsam hinunter. Stattdessen setzte er wieder dieses verschlagene Grinsen auf.
„Ein paar Leute werden ja wohl da sein, und das sollte reichen. Lassen Sie durch Ihr kleines Vorzimmer-Mäuschen bekannt geben, dass ich alle in einer halben Stunde im Sitzungszimmer zu sehen wünsche.“
Jin griff zum Telefon und begann auf Japanisch mit seiner Sekretärin zu reden. Mit einem Satz war Wes bei ihm und hielt dem jungen Mann eine kleinkalibrige Waffe an die Schläfe.
„In meiner Sprache, wenn ich bitten darf!“
Gehorsam wiederholte Jin das Gewünschte auf Englisch und legte dann auf.
„Gut.“ Wes ließ die Waffe sinken. „Und damit uns bis dahin nicht langweilig wird, werden Sie bitte so nett sein und mir den Safe da drüben öffnen.“
„Nein“, erwiderte Jin entschieden. „Das werde ich nicht tun. Erst will ich mit Suki sprechen, um sicher zu sein, dass es ihr gut geht.“
„Es geht ihr gut“, zischte Wes wütend. „Zumindest so lange, wie Sie tun, was ich Ihnen sage.“
Jin Kiyoshi setzte sich demonstrativ hinter seinen Schreibtisch und straffte die Schultern.
„Ich habe bisher alles getan, was Sie verlangt haben. Den Safe werde ich nicht öffnen, solange ich nicht mit Suki gesprochen habe.“
Wes spürte, wie kalte Wut in ihm hochstieg. Er trat hinter den jungen Japaner und drückte ihm erneut seine Waffe an die Schläfe.
„Öffnen Sie den Safe!“
„Nein!“
Wes entsicherte drohend seine Waffe.
In diesem Moment wurde die Tür mit einem ohrenbetäubenden Knall eingetreten, und ein bis an die Zähne bewaffnetes Sondereinsatzkommando stürmte das Büro. Mehrere vermummte Männer mit Schutzhelmen und schusssicheren Westen gingen sofort in Stellung und zielten auf Wes.
Einer von ihnen brüllte einen Befehl auf Japanisch, und da Wes vor Schreck wie versteinert dastand und sich nicht rührte, erklärte Jin mit gezwungen ruhiger Stimme:
„Er sagt, Sie sollen die Waffe weglegen. Ich an Ihrer Stelle würde es tun, Mr. Parker!“
„Das könnte euch so passen“, erwiderte Wes und drückte Jin die Pistole nur noch fester an den Kopf.
„Geben Sie auf, Mister!“ rief einer der Männer nun auf Englisch. „Wir sind sonst gezwungen zu schießen!“
In Wess Kopf überschlugen sich die Gedanken. Alles hatte er bedacht, doch mit einem Einsatzkommando der Polizei hatte er nicht gerechnet. Anscheinend hatte es Jin, dieser Bastard, irgendwie geschafft, ihn zu verraten!
Nun war es zu spät...
Verdammt, das hier hatte das Geschäft seines Lebens werden sollen!
Nein, er würde nicht ins Gefängnis gehen, nicht hier!
Es war zu Ende...
„Schießt doch, ihr Mistkerle“, provozierte er die bewaffneten Männer, die abwartend ihre Waffen in Anschlag hielten. „Na los!“
Ein letztes Mal zog dieses kalte, diabolische Lächeln über sein Gesicht, während er Jin zwang aufzustehen um ihn wie einen Schutzschild zu benutzen.
´Für dich, Anni...´, dachte er mit einem plötzlichen Anflug von Wehmut. ´Für dich habe ich das alles getan, meine Kleine. Ich habe den Tod von George Freemans Ehefrau inszeniert, und hätte es beinahe geschafft, dass der Alte ihr gefolgt wäre. Um ein Haar hätte ich endlich die Firma bekommen, die ich schon immer haben wollte. Leb wohl, Anni. Auch, wenn du es nicht glaubst, ich habe dich immer geliebt! Bye bye, Cloe, pass gut auf meine Kleine auf, altes Mädchen´
Er holte tief Luft.
„Okay, Gentlemen“, rief er entschlossen und straffte die Schultern. „Ich habe das Spiel verloren. Nun tut mir einen Gefallen - erschießt mich, denn ich will nicht in eurem dreckigen Knast verrotten!“ Er lachte wie irre. „Was denn, ihr wollt nicht, ihr verdammten Feiglinge? Na gut, dann werde ich euch einen Grund liefern!“
Er beugte sich vor, die Waffe immer noch an Jins Schläfe.
„Bye bye Mr. Kiyoshi, es war nett, Geschäfte mit Ihnen zu machen… Wir sehen uns in der Hölle!”
Sein Finger zuckte am Abzug, und ein lauter trockener Knall durchbrach die Stille.
Jin war auf der Stelle tot. Sein letzter Gedanke galt Suki.
Nur Bruchteile von Sekunden später feuerten die Männer der Spezialeinheit zurück. Die Kugeln trafen Wes und schleuderten ihn durch den Raum bis vor das große Panoramafenster mit dem phantastischen Blick auf die Skyline von Tokio.
Er spürte nicht mehr, wie er hart auf dem teuren Parkettboden aufschlug.
*
Los Angeles
In seinem Anwesen in der Nähe von Los Angeles starrte George Freeman nach einem erneuten Telefonanruf mit brennenden Augen betroffen vor sich hin.
Roger Miles trat hinter ihn und legte ihm seine Hand auf die Schulter.
„Komm schon, George, damit konnte doch niemand rechnen! Dich trifft keine Schuld!“
„Das macht die Sache nicht besser“, erwiderte Freeman mit rauer Stimme und schüttelte fassungslos den Kopf, bevor er aufblickte und seinen Anwalt und besten Freund verzweifelt ansah.
„Es erscheint mir nur alles so sinnlos! Ich habe mir meine Firma durch ehrliche Arbeit aufgebaut, sie ist mein Lebenswerk, und nun müssen so geschätzte und loyale Menschen wie Jin Kiyoshi wegen der Habgier skrupelloser Verbrecher dafür sterben!“
Miles nickte mit zusammengepressten Lippen.
„So etwas hat es immer gegeben, George, und das wird es leider auch weiterhin geben. Reichtum und Macht zieht die Schurken an wie Motten das Licht. Keiner weiß das besser als du und ich, mein Freund. Verluste sind dabei vorprogrammiert.“
„Verluste“, schnaufte Freeman verächtlich. „Menschenleben, Roger!“
Er kramte in der Schublade erneut nach seinen Herztabletten und stand schwerfällig auf, um sich ein Glas Wasser zu holen.
„Nimm bitte nicht zu viel von dem Zeug“, mahnte Miles. „Du weißt, was der Doktor gesagt hat.“
„Es ist mir egal, was dieser Quacksalber sagt, Herrgott!“, begehrte Freeman auf, griff sich jedoch sofort wieder schweratmend an die Brust und schluckte schnell die Pillen aus seiner Hand. Dann atmete er tief durch und ließ sich in einen der Sessel am Fenster fallen. Einige Sekunden blickte er gedankenverloren auf die Lichter der Millionenstadt, die in der Ferne blinkten, während sich der Himmel am Horizont bereits heller färbte und den Beginn eines neuen Tages ankündigte.
„Ich glaube, ich sollte mir allmählich einen Nachfolger für mein Imperium suchen, Roger“, murmelte er leise. „Zu schade, dass ich keinen Sohn habe, dem ich alles vererben kann. Vielleicht wäre Jin so ein Anwärter für die Firma gewesen.“ Er seufzte tief, denn die Nachricht von Jin Kiyoshis gewaltsamem Tod hatte ihn wirklich tief getroffen. „Aber ich werde schon jemanden finden, der mein Vertrauen wert ist. Und du wirst mir dabei helfen, alter Junge.“ Er sah Roger Miles bedeutungsvoll an. „Denn eines steht fest: Ich selbst habe bestimmt nicht mehr viel Zeit dazu.“
*
Santa Monica
Sukis Hände, die den Besenstil umklammerten, zitterten, doch als ihr Entführer die Badezimmertür öffnete, zögerte sie keine Sekunde. Mit aller Kraft schlug sie zu.
Es war das Überraschungsmoment, welches ihr zu Gute kam.
Sie traf den bislang Unbekannten am Kopf, und während er erschrocken zurücktaumelte, rammte sie ihm den Besenstil mit Wucht in die Magengrube. Mit einem Schmerzensschrei landete er in der Zimmerecke, wo er einen Moment lang zusammengekrümmt liegen blieb. Seine Waffe hatte er fallengelassen, sie schlidderte über den Fußboden und prallte gegen ein Tischbein. Suki bückte sich blitzschnell danach und bekam sie zu fassen. Etwas linkisch drehte sie die Pistole in ihren Händen und richtete sie schließlich auf ihren Entführer, der sich mit schmerzverzerrtem Gesicht den Bauch hielt und dabei langsam den Kopf hob.
´Den kenne ich!´, schoss es Suki durch den Kopf. Das war doch dieser ehemalige Polizist, den sie wegen Korruption und anderer gesetzeswidriger Delikte mit Schimpf und Schande aus dem Dienst entlassen hatten! Sie wusste das von Randy und Luke, ihre Freunde hatten ihr davon erzählt, als sie diesem Kerl irgendwann einmal im OCEANS begegnet waren.
Wie hieß er doch gleich... Hughes? Genau, Bobby Hughes!
„Stehen Sie auf, Mr. Hughes“, sagte sie und versuchte, ihrer Stimme einen festen Klang zu geben. „Na los, wird’s bald!“
Bobby starrte sie einen Moment lang aus glasigen Augen an, doch dann verzog sich sein Gesicht zu einer teuflischen Grimasse.
„Was soll das werden, Frau Doktor?“, höhnte er und rappelte sich stöhnend auf. „Wollen Sie mir mit dem Ding da etwa das Gehirn rauspusten?“ Er wankte und hielt sich den von ihrem Schlag schmerzenden Magen. „Das glaube ich Ihnen nicht, Lady! Dazu haben Sie nicht den Mumm!“
„Ich würde es nicht darauf ankommen lassen“, erwiderte Suki und umklammerte entschlossen die Waffe. „Ich erschieße Sie, wenn Sie noch einen Schritt näher kommen!“
Ein spöttisches Lachen war die Antwort.
„Womit denn, wenn ich fragen darf? Die Pistole da ist doch noch nicht mal entsichert!“
Suki ließ sich nicht beirren.
„Kommen Sie nicht näher!“
Bobby blieb stehen und hielt sich weiterhin den Magen, aber seine Augen verfolgten jede ihrer Bewegungen.
„Na was denn, Ihre kleinen, zarten Händchen zittern ja“, höhnte er grinsend. „So sehr, dass Sie mich noch nicht einmal aus dieser Entfernung treffen.“
„Darauf würde ich nicht wetten!“
Bobby lachte boshaft.
„Und was nun, Miststück?“
Suki wies mit einer Bewegung der Pistole auf die offene Badezimmertür und trat beiseite.
„Gehen Sie da hinein! Langsam, mit erhobenen Händen!“
Er hob ächzend die Hände und setzte sich betont langsam in Bewegung. Suki ließ ihn keine Sekunde aus den Augen.
„Mein Boss wird von dieser Aktion alles andere als begeistert sein“, meinte Bobby in schleppendem Tonfall, während er sich Schritt für Schritt der Tür näherte. „Ich glaube, Sie tun Ihrem Freund in Tokio gerade keinen großen Gefallen...“
Kaum hatte er das letzte Wort gesprochen, als er blitzartig herumfuhr, sich duckte und Suki mit einer unerwartet schnellen Bewegung zu Boden riss. Sie schrie erschrocken auf, und während er sie unter sich begrub, rang sie verzweifelt mit ihm um die Waffe. Bobby war zwar nicht der Hellste, aber er war muskulös und wendig, und Suki spürte bereits nach wenigen Sekunden, wie ihre Kräfte erlahmten. Fast schon hatte er die Pistole in seiner Gewalt, als sich plötzlich ein Schuss löste.
Bruchteile später peitschte ein zweiter Schuss durch den Raum.
Dann trat tödliche Stille ein...