Sie standen sich gegenüber und starrten einander fassungslos an.
„Danielle?“, fragte Matt ungläubig.
Sie schluckte.
„Mister Shelton... Matt… Was tun Sie denn hier?“
Im Grunde ihres Herzens wusste sie genau, weshalb er hier war, und die Frage erschien ihr absolut töricht, aber ihr fiel beim besten Willen nichts anderes ein, zumal ihr Herzschlag sofort eine Frequenz annahm, die sich jenseits jeglicher Normalität bewegte.
Er lächelte, als hätte er ihre Gedanken erraten.
„Ich wollte zu Mitch. Ehrlich gesagt hatte ich nicht erwartet, dass Sie…“
„Ich, ähm… ich wohne hier.“, erwiderte sie hastig.
Sein Lächeln wich offensichtlichem Erstaunen, dicht gefolgt von unverhohlener Enttäuschung.
„Hier? Oh, ich verstehe, dann sind Sie und Mitch…“
„Nein!“, unterbrach sie ihn erschrocken. „Wir sind kein Paar, wenn es das ist, was Sie denken. Mitch und ich sind nur gute Freunde. Wir wohnen alle zusammen hier, auch Dean und Chelsea, meine beiden Kollegen aus dem Flugzeug. Mitch hatte in seiner Wohngemeinschaft noch Zimmer frei, und da wir seit gestern durch den Konkurs unserer Fluggesellschaft keinen Job mehr haben, sind wir seiner Einladung gefolgt.“
„So ist das also.“ Matt nickte sichtlich erleichtert. „Deshalb meinte dieser alte Gauner, er könne mir sagen, wo ich Sie finde.“
Sie sah ihn überrascht an, und eine zarte Röte stieg ihr in die Wangen.
„Sie haben nach mir gesucht?“
„Nun ja…“ Er lehnte sich an den Türrahmen und erwiderte lächelnd ihren Blick. „Ich fand es sehr schade, dass ich nach der Landung keine Gelegenheit mehr hatte, mich von Ihnen zu verabschieden.“
„Wir hatten einen Notfall an Bord.“
„Ja, Ihre Kollegin sagte es mir, als ich sie nach Ihnen fragte. Aber wie dem auch sei, ich finde es schön, dass wir uns nun auf so wundersame Weise wiedertreffen.“
Er streckte ihr seine Hand entgegen und schaute sie aus seinen nachtblauen Augen derart entwaffnend an, dass ihr ganz schwindelig wurde.
Sie ergriff seine Hand und schenkte ihm nun ihrerseits ein Lächeln, etwas zögernd, fragend und zugleich so bezaubernd, dass er den Blick einfach nicht abwenden konnte. Wie sie so dastand, wirkte sie fast noch jünger als in seiner Erinnerung, denn dieses Mal trug sie ihr Haar offen. In weichen Wellen fiel es über ihre Schultern und rahmte ihr hübsches Gesicht ein, während ihre ausdrucksvollen Augen im Licht der untergehenden Sonne strahlten.
Irgendwann wurde ihm klar, dass er ihre Hand noch immer hielt. Nur widerstrebend ließ er sie los.
„Und… was haben Sie heute noch vor?“, fragte er etwas hastig, um einen leichten Anflug von Verlegenheit zu verbergen.
Sie deutete auf den Korb mit den Broten, der neben der Tür auf der Treppe stand.
„Wir machen ein Picknick am Strand. Mitch und die anderen sind vorausgegangen und sammeln Holz für ein Lagerfeuer. Kommen Sie doch mit, das wird sicher lustig. Bei der Gelegenheit können Sie mir gleich zeigen, wo genau die Strandhöhlen sind, von denen Mitch gesprochen hat. Dort wollen wir uns nämlich alle treffen.“
„Gerne“, stimmte er spontan zu und nahm ihr den Korb ab. „Ich kann mich gar nicht erinnern, wann ich das letzte Mal an einem Lagerfeuer gesessen habe. Das muss wohl bei den Pfadfindern gewesen sein.“
Danielle schloss die Haustür und folgte ihm lachend.
„Bei uns in Oklahoma gibt es zu jedem Erntedankfest ein großes Feuer“, erzählte sie ihm, während sie nebeneinander hergingen und die Promenade in Richtung Strand verließen. „Nach der langen, harten Erntezeit sind die Menschen froh, einfach wieder einmal entspannt beisammen zu sein. Alle treffen sich, es wird die ganze Nacht lang getanzt, gesungen und gelacht.“
„Sie kommen aus Oklahoma?“, fragte Matt interessiert.
Sie nickte.
„Aus Crawford. Meine Eltern betreiben dort eine kleine Farm.“
„Und gehen Sie nach Ihrer Auszeit wieder dahin zurück?“
„Nein“, sagte sie leise, aber bestimmt und für einen Augenblick zog ein Schatten der Traurigkeit über ihr Gesicht. Matt bemerkte es und fragte sich insgeheim, was wohl der Grund dafür sein könnte. War es Heimweh oder verband sie mit ihrer Heimat gerade keine guten Erinnerungen? Er beschloss jedoch nicht weiter nachzufragen, da ihr das Thema anscheinend unangenehm zu sein schien.
Sie zogen ihre Schuhe aus, um im weichen Sand besser laufen zu können. Seite an Seite schlenderten sie am Meer entlang. Hin und wieder betrachtete Matt seine Begleiterin verstohlen von der Seite, als könne er kaum glauben, dass er sie wiedergefunden hatte und sie hier neben ihm den Strand entlanglief.
„Mitch hat wirklich nicht übertrieben, als er von Sunset City erzählte. Es ist wunderschön hier“, meinte Danielle nach einer Weile und wies auf den Horizont, der in kräftigen, fantasievollen Pastellfarben um den inzwischen fast schon im Meer verschwundenen, glutroten Sonnenball erstrahlte und sich in den glitzernden Wogen des Wassers widerspiegelte. „Ich liebe Sonnenuntergänge.“
Sie blieben beide stehen und Danielle betrachtete versonnen dieses faszinierende Farbenspiel der Natur. Matt dagegen hatte nur Augen für sie. Sein bewundernder Blick glitt über ihre schlanke Gestalt in den gut sitzenden Jeans und der blaukarierten Bluse, die sie offen über einem Shirt trug. Ihr legeres Outfit ließ sie noch zierlicher wirken als gestern in ihrer Flugbegleiter-Uniform. Der leichte Abendwind spielte mit ihrem Haar und auf ihren Lippen lag ein verklärtes Lächeln. Zu gern hätte Matt diese herrlichen dunklen Locken berührt, die ihr weich und seidig schimmernd über die Schultern fielen.
Er war so in seine Beobachtungen versunken, dass er fast erschrak, als sich
Danielle Sekunden später abrupt nach ihm umdrehte.
„Alles in Ordnung?“, fragte er erstaunt, worauf sie etwas verlegen lachte.
„Ähm…Ich wollte nur sichergehen, dass Sie nicht plötzlich wieder zusammen mit der Sonne verschwunden sind“, meinte sie in Anspielung auf den Vorfall im Flugzeug und fügte schelmisch hinzu: „... und mit Ihnen die Sandwiches!“
Er lächelte entschuldigend.
„Keine Sorge, Danielle, dieses Mal werde ich ganz bestimmt nicht wieder weggehen.“
Ihre Blicke tauchten erneut ineinander und ließen sich nicht los.
`...dass der erste Mensch, der einem draußen am Ende des Piers begegnet, für einen bestimmt ist...`, hörte Danielle in Gedanken Mitchs Worte von vorhin.
Nur mit Mühe unterbrach sie den intensiven Blickkontakt und räusperte sich etwas verlegen.
„Ist das hier nun eigentlich der Anfang oder das Ende des Piers?“ fragte sie in Anlehnung an ihre Gedanken und wies auf den nur wenige Meter entfernten Treppenaufgang zur Seebrücke. Matt lächelte wissend. Anscheinend war ihm die Legende von Sunset City nicht unbekannt. Wieso auch…
„Das kommt darauf an, von welcher Seite man den Pier betrachtet. Glauben Sie an Legenden?“
Sie zögerte kurz.
„Doch… Manchmal schon. Und Sie?“
Dieses leichte Lächeln, dass ihr weiche Knie bescherte, wenn er sie ansah, umspielte seine Lippen, während er ihre Worte wiederholte.
„Doch, manchmal schon.“
`Reiß dich zusammen, Belling!`, befahl sie sich in Gedanken und straffte die Schultern, während sie rasch einen Schritt zurück trat, als wolle sie sich und ihre Gefühle in letzter Sekunde in Sicherheit bringen. Dabei wusste sie nur zu gut, dass es dazu bereits zu spät war.
„Ist es noch weit bis zu den Strandhöhlen?“, fragte sie etwas hastig und blickte sich suchend um.
„Dort hinten bei den Felsen“, erwiderte er und wies in nördliche Richtung, wo man bei genauerem Hinsehen bereits ein großes Lagerfeuer erkennen konnte.
„Oh ja, dort sind sie!“, rief Danielle begeistert. „Kommen Sie, Matt!“
Eilig lief sie los, so dass er Mühe hatte, ihr zu folgen. Abermals musste er lächeln. Ihre Spontanität gefiel ihm, und er fühlte sich frei und beschwingt wie schon lange nicht mehr.
*
Um das Lagerfeuer herum herrschte eine gemütliche und ausgelassene Stimmung. Die Sandwiches waren längst aufgegessen, alle scherzten und lachten und waren bester Laune. Inzwischen war es bereits dunkel, das lodernde Feuer, das Rauschen der Wellen und der endlos weite Sternenhimmel über ihnen schafften eine romantische Atmosphäre.
Luke hatte seine Gitarre dabei und spielte alte Songs von Elvis, Bruce Springsteen, Roy Orbison und den Beach Boys.
Angelockt vom Feuer und den eingängigen Gitarrenklängen gesellten sich immer mehr junge Leute, die am Strand oder auf der Promenade unterwegs waren, zu ihnen. Sie setzten sich dazu, lauschten der Musik und dem Gesang und die meisten stimmten mit ein.
Mitch hielt sich hartnäckig an Sukis Seite, doch die junge Ärztin achtete zu seinem Leidwesen nach wie vor strikt auf den nötigen Sicherheitsabstand.
Randy hatte seine neue Freundin Kim mitgebracht, ein noch ziemlich jung wirkendes Mädchen mit langem, weizenblondem Haar und einem kleinen Hund namens Scout, der zufrieden dicht neben ihr am Feuer saß, nachdem er erfolgreich von allen Anwesenden diverse Kostproben der Sandwichbeläge geschnurrt hatte.
Dean und Chelsea lieferten sich ab und zu lustige Wortgefechte, und man konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die beiden einen Heidenspaß dabei empfanden, einander zu necken.
Danielle saß an Matts Seite und genoss das wunderbare Gefühl, seit einer Ewigkeit wieder einmal Schmetterlinge im Bauch zu haben. Hin und wieder warf sie einen vorsichtigen Blick auf den faszinierenden Mann neben sich, der ganz sicher nicht nach ihr gesucht hatte, um sich nur von ihr zu verabschieden.
Mitch warf ein paar Scheite Holz ins knisternde Feuer und goss Wein in die mitgebrachten Becher, die er an seine Freunde verteilte.
„Auf eine unvergessliche Zeit mit euch in Sun City!“, rief er fröhlich. „Möge euch unser Paradies verzaubern und nie wieder fortlassen!“
„Auf Mitch“, ließen ihn seine alten und neuen Mitbewohner einstimmig hochleben.
„Wie gefällt dir eigentlich die Überraschung, die Luke und Randy für dich vorbereitet hatten?“, erkundigte sich Matt schmunzelnd.
„Du meinst das frischgestrichene Haus? Oh ja, das war eine echt gute Idee, ein wenig Farbe auf die alten grauen Mauern zu bringen. Aber die schönste Überraschung hat mich bei meiner Ankunft an der Haustür erwartet“, erwiderte Mitch und blinzelte Suki vielsagend zu.
Die strich sich verlegen das lange schwarzglänzende Haar zurück und entgegnete lächelnd:
„Dabei wollte ich ihn zuerst gar nicht einlassen, weil ich dachte, er sei irgend ein Landstreicher.“
„Genau“, erinnerte sich Mitch. „Sie hatte eine Kette vor der Tür, mit der hätte man einen neunköpfigen Drachen anbinden können! Aber...“ Er warf sich übertrieben in die Brust, „Für mich und meinen unwiderstehlichen Charme überhaupt kein Problem.“
„So ein Angeber!“, protestierte Suki lachend.
In diesem Augenblick schlug ihr Beeper an, was bedeutete, dass ihr sofortiger Rückruf im Sunset Memorial erwartet wurde. Schnell zog sie ihr Handy hervor und entfernte sich ein paar Schritte von den anderen, um ungestört telefonieren zu können.
Kurz darauf kam sie mit ernstem Gesicht zurück.
„Es tut mir leid, aber ich muss sofort los. Ein dringender Notfall in der Klinik!“
Enttäuscht nahmen die anderen es zur Kenntnis. Eine Ärztin hatte eben niemals wirklich Feierabend...
Mitch sprang auf.
„Warte, ich begleite dich!“
„Das ist wirklich nicht nötig“, versuchte sie abzuwehren, aber er ließ sich nicht beirren.
„Wir sehen uns später“, rief er den anderen zu und verschwand eilig hinter Suki in der vom fahlen Mondlicht nur spärlich durchwirkten Dunkelheit des nächtlichen Strandes.
Matt reichte Danielle den Becher, den Randy soeben nachgefüllt hatte. Wieder berührten sich ihre Fingerspitzen, was bei ihr die gleiche Reaktion hervorrief wie bereits im Flugzeug.
„Ihre Hände sind ja eiskalt!“, stellte Matt erschrocken fest. Ohne lange nachzudenken zog er seine Lederjacke aus und legte sie fürsorglich um ihre Schultern.
„Danke.“ Die Jacke war fühlte sich wunderbar warm an, duftete nach After Shave und nach - ihm. Sie kuschelte sich hinein und seufzte wohlig lächelnd. Er erwiderte ihr Lächeln und hob seinen Becher.
„Auf unser Wiedersehen“, sagte er leise und bedeutungsvoll.
Das Feuer war fast heruntergebrannt, als Luke schließlich die Gitarre zur Seite legte und sich erhob.
„So Leute, wir sollten langsam daran denken, die gemütliche Feier zu beenden, sonst geraten wir noch in die „Sperrstunde“ und werden als Obdachlose, Landstreicher oder Strandschläfer verhaftet.“
Alle lachten, außer Kim. Sie schien es plötzlich ziemlich eilig zu haben. Hastig verabschiedete sie sich, rief Scout herbei und nahm ihren Rucksack. Bevor jemand etwas sagen konnte, war sie auch schon in der Dunkelheit verschwunden.
„Wo wohnt sie eigentlich?“, erkundigte sich Dean nachdenklich bei Randy.
„Keine Ahnung. Ich kenne sie noch nicht lange. Sie ist erst seit ein paar Tagen in der Stadt.“
„Und wie hast du sie kennengelernt?“
„Sie war ein paar Mal im Internetcafé und wir haben uns unterhalten. Ich mag sie.“
Dean nickte mit einem etwas skeptischen Blick.
„Klar ist sie nett, aber auch noch ziemlich jung.“
Randy hob die Schultern.
„Wenn sie allein durch die Gegend zieht, dann wird sie wohl volljährig sein, denke ich.“
Gemeinsam mit Luke löschte er das Feuer, während die anderen schnell zusammenräumten.
„Was halten Sie davon, wenn wir noch ein Stück am Strand entlanggehen, bevor ich Sie nach Hause bringe?“, fragte Matt leise. „Ich meine...“ Er strich sich mit den Fingern durchs Haar, eine Angewohnheit, die häufig zum Vorschein trat, wenn er etwas verlegen war. „Jetzt, wo ich Sie wiedergefunden habe, möchte ich Sie nicht so schnell wieder gehen lassen.“
Danielles Herz vollführte einen Salto.
„Gerne“, stimmte sie zu und verbarg nur mühsam ein erleichtertes Lächeln, denn auch sie verspürte keine Lust, diesen schönen Abend schon zu beenden.
„Komm nicht so spät heim, Darling“, raunte Chelsea und zwinkerte ihr bedeutungsvoll lächelnd zu.
Die Menge zerstreute sich rasch.
Keinem war der unbekannte Mann aufgefallen, der sich nach Einbruch der Dunkelheit in mitten einer Gruppe Neuankömmlinge in die Nähe des Feuers gesetzt und sich die ganze Zeit über diskret im Hintergrund gehalten hatte.
Auch jetzt fiel er niemandem auf.
Er stand abseits und beobachtete, wie sich der Platz um die Feuerstelle langsam leerte. Erst als alle gegangen waren, löste er sich wie ein Schatten aus den Umrissen der nachtschwarzen Felsen und schlenderte gemächlich in entgegengesetzter Richtung davon.
*
Als Suki in der Klinik eintraf, wurde Sophia Hamilton soeben für eine Notoperation vorbereitet. Sie war inzwischen zwar wieder bei Bewusstsein, aber Dr. Arthur Mendes, der leitende Oberarzt, hatte ihr bereits eine Beruhigungsspritze verabreicht und den Anästhesisten herbeigerufen.
Suki zog sich eilig um, während zwei Schwestern Sophia in den OP brachten.
Edward und Caroline standen kreidebleich am Empfang, wo Tilly, die diensthabende Schwester, vergeblich versuchte, die beiden etwas zu beruhigen.
„Alles weist darauf hin, dass Ihre Frau innere Blutungen hat. Wir müssen sofort operieren, um die Ursache dieser Verletzungen zu finden und die Blutung zu stoppen.“, erklärte Dr. Mendes den beiden kurz.
„Doktor...“ Edward hatte noch so viele Fragen, und was noch schlimmer war, er hatte Angst, wahnsinnige Angst um seine Frau. Ein Gefühl, das ihm den Atem nahm und ihm erbarmungslos die Kehle zuschnürte.
„Bitte warten Sie hier, Mr. Edwards!“, hielt Suki ihn zurück, als er ihr in den OP-Trakt folgen wollte. „Wir tun alles was möglich ist, um Mrs. Edwards zu helfen.“
Er stöhnte schmerzlich auf und vergrub sein Gesicht in beiden Händen.
Caroline legte ihm ihre Hand auf die Schulter.
„Komm Daddy, setzen wir uns dort hinüber, und dann erzählst du mir erst einmal, wie das alles überhaupt passieren konnte.“ Als er noch zögerte, zog sie ihn energisch mit sich fort. „Nun komm schon, wir können hier sowieso nichts tun, außer zu warten! Du wirst sehen, es wird alles wieder gut.“
*
Schweigend liefen sie den nächtlichen Strand entlang. Allmählich gewöhnten sich ihre Augen an die Dunkelheit, trotzdem erschrak Danielle, als sie über ein Stück Treibholz stolperte und fast gestürzt wäre, hätte Matt sie nicht geistesgegenwärtig gehalten.
Plötzlich waren sie einander sehr nah. Sie standen sich gegenüber und sahen sich einen magischen Augenblick lang schweigend an.
Sekunden später wandte Danielle verlegen lachend den Blick ab.
„Entschuldigung, das war ungeschickt von mir...“, meinte sie und strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn.
„Kommen Sie, so ist es sicherer.“ Er griff nach ihrer Hand, als sie schließlich weitergingen, und sie ließ es nur zu gerne geschehen.
In stummem Einverständnis bogen sie zum Pier ab, stiegen die Stufen hinauf und bummelten im Schein der Laternen gemächlich bis ganz zum Ende, wo sie sich auf einer der Bänke niederließen. Schweigend blickten sie hinaus auf die Wellen, in denen sich silbern das Licht des Mondes brach. Um diese Zeit waren kaum noch Leute unterwegs und der Pier lag menschenleer hinter ihnen.
Matt streckte die Beine aus und atmete tief durch.
„Und wie war Ihr erster Tag in Süd-Kalifornien?“, fragte er und sah sie lächelnd an.
„Sehr schön.“, erwiderte Danielle und lachte. „Obwohl ich fast die Hälfte davon glatt verschlafen habe. Aber der Rest war ganz okay. Ich habe ein Zimmer mit Meerblick und kann sogar den Pier von meinem Fenster aus sehen.“
„Sun City wird Ihnen gefallen“, sagte er zuversichtlich.
„Sind Sie hier geboren?“
„Nein, ich komme aus Cambridge in England. Vor neun Jahren hat es mich hierher verschlagen.“
„Also auch ein Neubeginn?“, hakte sie gespannt nach.
Er lachte leise.
„Gewissermaßen ja. Es sollte, ähnlich wie bei Ihnen, eigentlich nur ein Urlaub sein, eine Art Auszeit von meinem bisherigen Leben. Aber wie Sie sehen hat mich Kalifornien bislang nicht wieder losgelassen.“
Sie seufzte leise.
„Es ist wunderschön hier, das Meer, der endlose Strand...“ Da er nicht antwortete, fasste sie sich ein Herz und stellte ihm die Frage, die ihr schon lange auf der Seele brannte. „Matt… Warum sind Sie einfach verschwunden, als wir bei Mitch im Cockpit waren?“
Im fahlen Schein der Laternen, die den Pier zu nächtlicher Stunde nur spärlich beleuchteten, konnte sie erkennen, wie seine Miene sich verdüsterte.
„Die Wahrheit?“
„Ja bitte! Ich hasse Lügen.“
Er atmete tief durch.
„Ich hatte Angst.“
Sie hielt die Luft an.
„Und… wovor?“
„Davor, meinem Gefühl zu vertrauen. Das habe ich schon einmal getan und musste dafür bitter bezahlen. Allerdings habe ich diese dumme Reaktion bereits kurz danach bereut. Es war mir klar, dass es ein Fehler war, einfach davonzulaufen. Aber da war es leider schon zu spät.“
„Zu spät – wofür?“
Er sah sie wortlos an und ihre Blicke tauchten erneut ineinander.
„Zu spät, Ihnen zu sagen, wie bezaubernd ich Sie finde“, erwiderte er schließlich mit rauer Stimme.
Danielle wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte. Ihr Herz klopfte bis zum Hals und schien in ihren Ohren widerzuhallen. Das, was er eben gesagt hatte, das war – eine glatte Liebeserklärung!
„Enttäuschungen gehören nun einmal zum Leben.“, nahm sie den Faden des Gespräches unvermittelt wieder auf. „Sie machen uns stark.“
Er löste erstaunt über ihre Worte den intensiven Blickkontakt und musterte sie nun seinerseits mit einem belustigten Lächeln.
„Sind Sie nicht ein wenig zu jung für diese Lebensweisheit?“
„Meine Mutter hat das irgendwann einmal zu mir gesagt, und ich versuche es mir seit einiger Zeit immer wieder aufs Neue zu bestätigen.“
Er horchte auf.
„Haben Sie Heimweh?“
Sie zögerte kurz und nickte dann.
„Vielleicht ein bisschen. Nach meiner Familie und nach der Farm. Ich war schon so lange nicht dort.“
„Und sonst ist da niemand, den Sie vermissen?“, forschte er weiter.
Sie schüttelte entschieden den Kopf.
„Außer meiner Familie habe ich in Crawford nichts zurückgelassen, das mir noch etwas bedeuten würde.“
„Also wirklich ein ganz neuer Anfang?“
„Ja, ich glaube schon. Wäre ich geblieben, wäre ich heute eine unglücklich verheiratete Frau.“ Sie bemerkte seinen erstaunten, fragenden Blick und verspürte plötzlich den dringenden Wunsch, ihm zu erzählen, was ihr auf der Seele brannte. „Heute vor genau zehn Monaten wäre mein Hochzeitstag gewesen. Brendon und ich kannten uns schon ewig. Wir gingen zusammen zur High-School. Ich glaubte, ihn zu lieben und habe ihm lange Zeit blind vertraut... Viel zu blind.“
„Was ist passiert?“, fragte Matt gespannt.
„Oh, eigentlich nichts Besonderes. Nur, dass ich ausgerechnet am Tag unserer Hochzeit feststellen musste, wie wenig ich ihn wirklich kannte.“ Sie fuhr sich mit der Hand über die Stirn, als wolle sie die Erinnerung an jenen bitteren Tag in ihrem Leben ein für alle Mal wegwischen. „Ich bemerkte, dass er die Trauringe nicht eingepackt hatte, denn sie lagen noch in meinem Zimmer. Also fuhr ich am Morgen vor der Trauung noch einmal zu ihm um sie ihm bringen. Tja, was soll ich sagen…“ Sie atmete tief durch, bevor sie weitersprach. „Mein zukünftiger Ehemann war gerade dabei, seine ganz persönliche Junggesellenparty zu feiern – im Bett mit einer meiner besten Freundinnen! Die beiden waren derart miteinander beschäftigt, dass sie mich nicht einmal bemerkten.“
Matt lehnte sich zurück und starrte zunächst schweigend und sichtlich frustriert aufs Meer hinaus.
„Was haben Sie daraufhin getan?“, fragte er einige Augenblicke später.
Danielle erhob sich und trat an das hölzerne Geländer, das den Pier umsäumte.
„Ich fuhr zurück nach Hause und warf den Koffer, den ich für die Hochzeitsreise gepackt hatte, in das kleine Cabrio, das wir extra für diesen Tag gemietet hatten. Pünktlich zur verabredeten Zeit bin ich dann an der Kirche vorgefahren, habe meiner sogenannten Freundin den Brautstrauß vor die Füße geworfen und Brendon mit der ganzen, versammelten Hochzeitsgesellschaft einfach stehen gelassen. Diese Blamage war das Mindeste, was ich ihm schuldig war.“
Matt war ihr gefolgt, lehnte sich an das Geländer neben ihr und betrachtete sie erstaunt.
„Alle Achtung, dass Sie das so durchgezogen haben. Ich glaube, an Ihrer Stelle hätte ich den Kerl umgebracht!“
Sie zog halb belustigt die Augenbrauen hoch.
„Glauben Sie bloß nicht, ich hätte nicht mit dem Gedanken gespielt.“
Er lachte und sie stimmte schließlich mit ein, innerlich wie befreit von einer zentnerschweren Last, die sie schon viel zu lange mit sich herumgetragen hatte.
„Und“, fragte er schließlich zögernd „Sind Sie inzwischen darüber hinweg?“
„Nun ja, die dumme Gans hat ein paar Federn gelassen, aber...“ Sie überlegte kurz, als müsse sie erst in sich hineinhorchen und nickte dann voller Überzeugung. „Ja, ich denke, ich bin fertig mit der Sache.“
„Und Brendon? Hat er danach nie versucht, Sie zu erreichen?“
„Oh doch, anfangs schon. Aber dank meines Jobs bei BLUE SKY war ich ständig unterwegs und daher für ihn so gut wie unerreichbar.“
„Und Ihre Familie?“
„Meine Mutter und mein Vater sind unerwartet locker mit der Sache umgegangen, obwohl es in Wahrheit bestimmt sehr schwer für sie war, zumal meine geplatzte Hochzeit in unserem kleinen Ort wochenlang für Gesprächsstoff sorgte. Für meine jüngere Schwester bin ich eine Heldin, sie konnte Brendon ohnehin nie leiden. So ein Ereignis gab es nicht mehr, seitdem die Ehefrau unseres Nachbarn vor ein paar Jahren ausgerechnet zu Thanksgiving mit einer anderen Frau durchgebrannt ist.“ Sie lächelte verhalten. „Hoffentlich langweile ich Sie nicht mit meinen Geschichten.“
Er sah sie mit diesem Blick an, der ihr von ihrer ersten Begegnung mit ihm im Flieger in lebhafter Erinnerung war und ihr Herz sofort schneller schlagen ließ.
„Langweilen? Auf keinen Fall, Danielle. Im Gegenteil, ich finde es bewundernswert, wie Sie Ihr Leben meistern.“
Ihre schönen braunen Augen, in denen sich das Mondlicht in winzig kleinen Fünkchen fing, waren wie geheimnisvolle Spiegel ihrer Seele. Noch wusste er nicht viel von ihr, doch die wenigen Dinge, die sie preisgegeben hatte, bewirkten bereits, dass er sich ihr unerwartet nahe fühlte. In diesem Augenblick spürte er die wilde Entschlossenheit, sie zu beschützen und nie wieder loszulassen.
Er hob die Hand und berührte mit seinen Fingerspitzen zärtlich ihre Wange.
„Der Kerl muss ein kompletter Idiot sein, ein Mädchen wie dich aufzugeben“, sagte er leise, beugte sich vor und küsste sanft ihre Lippen.
Es war zunächst nur wie ein Hauch, vorsichtig, lockend und behutsam, dennoch hatte sie das Gefühl, als erbebte ihr Körper unter einem Stromschlag, der sie taumeln ließ.
Matt spürte ihre Reaktion, denn er zog sie enger zu sich heran und sein Kuss wurde zusehends leidenschaftlicher.
Danielle fühlte sich von einer Sekunde zur anderen plötzlich wie schwerelos in seinen Armen. So intensiv hatte sie noch nie zuvor empfunden. Ohne nachzudenken schlang sie ihre Arme um seinen Hals und erwiderte seine Zärtlichkeit. Ihre weichen Lippen öffneten sich ihm wie von selbst vor Verlangen, und er nahm diese Einladung nur zu gerne an. Die Wärme, die ihr Körper in seinen Armen ausstrahlte, der zarte Duft ihres Parfüms und nicht zuletzt ihre unerwartet leidenschaftliche Erwiderung seiner Liebkosung machten ihn atemlos und berauschten ihn wie eine lang entbehrte Droge. Er hätte in diesem Moment nicht zu sagen vermocht, wann er zum letzten Mal eine Frau so geküsst hatte. Himmel und Erde, das Meer, der Strand und der Pier existierten nicht mehr, wichtig war nur dieser besondere Augenblick, das Hier und Jetzt.
Diese außergewöhnliche Anziehungskraft, die starken Gefühle füreinander, die sie beide von der ersten Sekunde ihres Zusammentreffens gespürt hatten, entluden sich wie ein Feuerwerk in diesem ersten, unvergleichlich sinnlichen Kuss.
*
„Mister Hamilton?“
Edward, der seit drei Stunden stumm und zusammengesunken auf der Bank im Wartebereich saß, das Gesicht in beiden Händen vergraben, schreckte hoch. Die Ärztin, Dr. Suki Yamada, stand mit ernstem Gesicht vor ihm.
Sofort war er auf den Beinen.
„Doktor.. wie geht es meiner Frau?“
„Mister Hamilton, es tut mir leid, Ihnen sagen zu müssen...“
Edward hatte das Gefühl, als würde sein Blut in den Adern zu Eis gefrieren.
„Was ist mit meiner Frau? Was soll das heißen, ist sie etwa...“
„Aber nein“, beschwichtigte ihn Suki. „Es geht Ihrer Frau den Umständen entsprechend gut. Wir konnten die inneren Blutungen stoppen und ihren Kreislauf stabilisieren. Sie hat eine leichte Gehirnerschütterung und noch einige Blutergüsse. Insofern hat sie großes Glück gehabt, dass nichts gebrochen ist. Allerdings...“ Sie machte eine bedeutungsvolle Pause, bevor sie weitersprach. „Für das Baby kam jede Hilfe zu spät. Ihre Frau hat das Kind leider verloren.“
Edward starrte die junge Ärztin an, als hätte er nicht verstanden, was sie eben gesagt hatte.
„Was?“, fragte er fassungslos und hielt sich krampfhaft an einer der Stuhllehnen fest. „Wollen Sie damit sagen, meine Frau war...“
„Schwanger. Ja Mr. Hamilton, im dritten Monat. Haben Sie das nicht gewusst?“
Sein Gesicht war aschfahl, und er ließ sich mit einem gequälten Seufzer auf eine der Besucherbänke sinken.
„Nein“, flüsterte er kaum hörbar. „Das wusste ich nicht.“
Caroline kam mit zwei gefüllten Kaffeebechern um die Ecke. Voller dunkler Vorahnungen wanderte ihr Blick zwischen ihrem Vater und der jungen Ärztin hin und her.
„Was ist denn los? Daddy? Dr. Yamada, was ist mit meiner Mutter?“
„Es geht ihr gut, sie braucht nur jetzt viel Ruhe. Und vor allem braucht sie Ihre Liebe und Fürsorge, dann wird sie den Verlust schneller überwinden. Ich werde gleich noch einmal nach ihr sehen, und wenn sie aufwacht, dürfen Sie sofort zu ihr.“, erwiderte Suki und nickte ihr aufmunternd zu, bevor sie davoneilte.
Caroline stellte den Kaffee ab und beugte sich zu ihrem Vater hinunter.
„Daddy? Was ist mit dir? Was hat Dr. Yamada dir gesagt? Welchen Verlust muss Mum verkraften?“, fragte sie atemlos und musste erschrocken erkennen, dass Edward Tränen übers Gesicht liefen. Noch nie hatte sie ihren Vater weinen sehen. Er war, seit sie denken konnte, immer der Starke, Unerschütterliche, ihr Fels in der Brandung...
„Daddy!“ Angst schnürte ihr die Kehle zu. „Was ist denn passiert?“
Er hob langsam den Kopf und sah seine Tochter an. Tiefer Schmerz zeichnete sein Gesicht.
„Deine Mutter... Sie war... schwanger!“
„Was?“ Caroline musste sich setzen, so unverhofft traf sie diese Nachricht.
Edward warf ihr einen prüfenden Blick zu.
„Hast du es gewusst?“
„Nein! Ich hatte keine Ahnung!“
Er nickte resigniert.
„Sie hat das Kind verloren.“
„Oh mein Gott...“ Caroline legte ihren Arm um Edwards Schultern. „Daddy, es tut mir so leid!“
Er presste die Lippen aufeinander.
„Sie hat es mir nicht gesagt, hat es verheimlicht, als ginge es mich nichts an. Und als ich heute Abend nach Hause kam, wollte sie mich verlassen.“ Er starrte seine Tochter hilflos an. „Cary, warum tut sie so etwas? Ich liebe sie doch...“
Seine Stimme versagte.
„Ich weiß, Daddy, ich weiß“, versuchte Caroline ihn zu beruhigen, obwohl sie selbst alles andere als ruhig war und das eben Gehörte erst einmal verkraften musste. „Du musst ihr vielleicht nur hin und wieder zeigen, dass du sie liebst. Vor allem jetzt!“
Er nickte abwesend und stand auf.
„Wo willst du hin?“, fragte Caroline verwirrt.
„Ich muss eine Weile allein sein“, antwortete er müde. „Ich komme später wieder.“
Er ging davon, langsam und mutlos, und Caroline schien es, als sei er in diesen letzten Minuten um Jahre gealtert.
*
Matt und Danielle bummelten eng umschlungen zurück zum Strand. Am Ende des Piers blieben sie stehen und sahen schweigend hinaus aufs Meer. Danielle hatte ihren Kopf an Matts Schulter gelegt und fühlte sich so glücklich wie schon lange nicht mehr.
„Eigentlich müsste ich Brendon für sein mieses Verhalten dankbar sein, sonst hätte ich dich nie kennengelernt und du wärst jetzt eine verheiratete Frau.“, sinnierte Matt nach einer Weile nachdenklich.
„Ja, vielleicht war es wirklich gut, wie alles gekommen ist“, erwiderte Danielle und seufzte leise. „Irgendwie hat es mir damals ein wenig Angst gemacht, wie vorprogrammiert mein Leben war. Im Grunde war alles bereits festgelegt.“ Sie hob den Kopf und sah ihn mit großen Augen an. „Ich habe kurz vor der Hochzeit versucht, mit meiner Mutter über diese Gefühle zu reden. Sie meinte, ich würde ganz sicher zufrieden sein mit meinem zukünftigen Leben. Aber ist Zufriedenheit wirklich alles?“
Er packte die Ärmel seiner Lederjacke, die sie noch immer um die Schultern trug und zog sie damit dicht zu sich heran.
„Nein Danielle, glaub mir, das ist noch längst nicht alle. Das Leben hat so unendlich viel mehr zu bieten.“, flüsterte er und küsste sie sacht. „Probier es aus, diese Stadt ist der geeignete Ort dafür.“
Arm in Arm verließen sie den Pier und gingen hinunter zum Strand, der im fahlen Mondlicht einsam vor ihnen lag.
„Matt?“, fragte Danielle leise. „Glaubst du an das Schicksal?“
Er lächelte bedeutungsvoll. „Ehrlich gesagt habe ich noch nie richtig darüber nachgedacht. Aber so, wie wir beide uns heute wiederbegegnet sind, muss wohl etwas dran sein an dieser alten Legende von Sunset City.“
Sie nickte versonnen.
„Ja, eine wunderschöne Legende.“
Wieder fanden sich ihre Lippen, zärtlich und fordernd zugleich, während ein frischer Nachtwind sie umfing und ihre heißen Wangen kühlte.
Eng umschlungen standen sie am Strand und sahen schweigend zu, wie die vom Mondlicht glitzernde Brandung an die Holzblanken des Piers schlug und sich Welle um Welle schäumend aufbäumte.
Als sie schließlich den Heimweg antraten, hatte Danielle das Gefühl zu schweben. Wohlig kuschelte sie sich in Matts Arm und wünschte sich von ganzem Herzen, dieses Gefühl möge niemals aufhören.
Während sie zur Strandpromenade abbogen, kam ihnen plötzlich Scout, Kims kleiner Hund, aus der Dunkelheit entgegengerannt. Laut bellend sprang er zuerst an Matt hoch, bevor er beide aufgeregt umkreiste. Von Kim selbst war weit und breit nichts zu sehen.
„Hey, wo kommst du denn her?“ Danielle beugte sich hinunter, nahm Scout in den Arm und stellte fest, dass das arme Tier am ganzen Leibe zitterte.
„Er ist völlig außer sich! Hoffentlich ist Kim nichts passiert!“
„Wir sollten ihm folgen“, schlug Matt vor. „Bestimmt führt er uns zu ihr.“
Danielle setzte den Hund zurück auf den Boden.
„Lauf los! Bring uns zu Kim!“
Tatsächlich jagte Scout davon, so schnell ihn seine kurzen Beinchen zu tragen vermochten. Matt und Danielle hatten Mühe, ihm in der Dunkelheit zu folgen.
Am Wachturm der Rettungsschwimmer entdeckten sie plötzlich drei Gestalten im fahlen Mondlicht.
Als sie näher kamen, erkannten sie Kim, die sich verzweifelt gegen zwei Männer wehrte, die sie in eindeutiger Weise zu bedrängen versuchten.
„Lasst mich in Ruhe, verdammt...“, rief sie und schlug mit dem Rucksack nach dem einen, der einen blitzenden Gegenstand, vermutlich ein Messer, in der Hand hielt und sie damit bedrohte, während sich der andere von hinten an sie heranschlich.
„Bleib zurück, Danielle“, rief Matt, bevor er ohne zu zögern losrannte, um Kim zu helfen.
Scout umkreiste die Gruppe knurrend und bellend. Einer der beiden Männer trat nach ihm und verfehlte ihn nur knapp.
„Scout, komm her!“, rief Danielle, die ein paar Meter entfernt stehen geblieben war und die Szene mit angehaltenem Atem beobachtete. Überraschenderweise reagierte der Hund sofort auf ihren Zuruf. Schnell nahm sie ihn auf den Arm und presste das zitternde Tier schützend an sich.
Matt nutzte den Überraschungseffekt seines Angriffs und versetzte dem Kerl, der sich Kim von hinten näherte, einen kräftigen Tritt. Während sein Gegner sich stolpernd und benommen umdrehte, ließ er noch einen gut platzierten Kinnhaken folgen, worauf der recht kräftig aussehende Mann mit einem unterdrückten Stöhnen wie ein nasser Sack zu Boden fiel.
„Lauf!“, rief Matt Kim zu und stellte sich seinerseits dem Angreifer, der das Messer in der Hand hielt.
Die beiden Männer umkreisten sich lauernd.
Danielle nahm kaum wahr, als Kim keuchend neben ihr auftauchte. Die Angst um Matt schnürte ihr die Kehle zu.
Zu ihrer Erleichterung erwies dieser sich als äußerst versierter Kämpfer. Geschickt sprang er zur Seite, als sein Gegner mit dem Messer zustieß. Im gleichen Augenblick packte er den Angreifer am Handgelenk und drehte ihm blitzschnell den Arm um, worauf der Mann wütend aufheulte und augenblicklich das Messer fallen ließ. Matt fasste nach seiner Schulter, zog ihn kraftvoll zu sich herum und rammte ihm seine Faust in den Magen. Darauf ließ er noch einen gezielten Aufwärtshaken folgen. Der Mann taumelte, ging röchelnd in die Knie, rappelte sich jedoch sogleich mühsam wieder auf und suchte stolpernd und hustend das Weite. Auch sein Kumpan hatte es inzwischen irgendwie geschafft, wieder auf die Beine zu kommen. Benommen von Matts Schlägen schleppte er sich davon und verschwand, ohne sich noch einmal umzusehen, zwischen den nahen Dünen in der Dunkelheit.
Danielle reichte Kim den zitternden Hund und eilte zu Matt hinüber.
„Alles in Ordnung mit dir?“, fragte sie aufgeregt. Er atmete tief durch und nickte, während er sich nach dem Messer bückte, dass der Kerl hatte fallen lassen. Nachdenklich betrachtete er es von allen Seiten, klappte dann die Klinge ein und ließ das Teil in seiner Hosentasche verschwinden.
Dann blickte er sich nach Danielle um.
„Ist Kim verletzt?“
„Nein.“, erwiderte sie und er hörte die Erleichterung in ihrer Stimme. „Dank deiner Hilfe ist ihr nichts passiert.“ Sie legte bewundernd ihre Hand auf seinen Arm. „Du warst großartig, Matt.“
„Das war doch nichts. Das hätte jeder getan.“, wehrte er bescheiden ab.
„Wo hast du gelernt so zu kämpfen?“
„Ich trainiere ab und zu ein wenig. Man weiß ja nie, wann man sich vielleicht einmal seiner Haut wehren muss.“
Er legte den Arm um ihre Schultern, als sei nichts geschehen. Gemeinsam gingen sie zu Kim hinüber, die ziemlich benommen dastand und Scout an sich drückte.
„Hey, bist du okay?“, erkundigte sich Matt besorgt.
Sie nickte und wischte sich verstohlen über die Augen.
„Danke, Mr. Shelton...“
„Matt“, verbesserte er und blickte sie streng an. „Du hast verdammtes Glück gehabt, dass wir gerade hier vorbeigekommen sind! Was machst du um diese Zeit noch allein am Strand?“
Sie senkte beschämt den Kopf.
„Ich... ich hab einen Platz zum Schlafen gesucht.“
„Was?“, fragte Danielle entsetzt. „Willst du damit sagen, du hast keine Unterkunft? Du schläfst am Strand?“
Kim nickte stumm.
„Was sagt man dazu.“ Matt schüttelte ungläubig den Kopf. „Wie alt bist du eigentlich?“
„Zwanzig!“, erwiderte sie eine Spur zu hastig und wich seinem prüfenden Blick aus.
„Hast du kein Zuhause?“, erkundigte sich Danielle und streichelte Scouts Fell. Der kleine Hund hatte sich beruhigt und legte seinen Kopf müde auf den Arm seiner Besitzerin.
Kim lachte bitter.
„Oh doch, ich habe ein Zuhause. Eines, wo es nichts zu essen gibt, weil meine Mutter schon am Morgen zu betrunken ist, um etwas zu kochen. Dafür gibt es jeden Abend eine gratis Portion Prügel von meinem Stiefvater, wenn er angesäuselt aus irgendeiner Bar kommt.“ Sie blickte zu Boden. „Ich bin vor einem halben Jahr abgehauen, weil ich es nicht mehr ausgehalten habe, und seitdem schlage ich mich halt so durch.“
„Warum hast du denn vorhin nichts gesagt, als wir alle zusammensaßen?“, fragte Danielle mitfühlend.
Kim presste beschämt die Lippen aufeinander.
„Ich bin momentan nicht unbedingt stolz auf mein Leben“, flüsterte sie kaum hörbar.
„Okay.“ Entschlossen nahm Danielle Kim am Arm. „Auf jeden Fall kommst du jetzt erst einmal mit zu Mitch. Dort kannst du heute Nacht auf dem Sofa schlafen. Und morgen früh sehen wir weiter.“
*
Im Haus brannte noch Licht, als Matt und Danielle mit Kim dort ankamen.
Luke, Randy und Mitch saßen auf dem Sofa im Wohnzimmer und unterhielten sich angeregt, verstummten jedoch sofort neugierig, als sich die Tür öffnete.
„Kim!“, rief Randy erstaunt. „Was tust du denn hier?“
Zögernd blieb das junge Mädchen stehen, aber Danielle legte ihr den Arm um die Schultern und nickte ihr aufmunternd zu.
„Wir haben uns am Strand getroffen“, teilte sie den anderen kurz mit. „Es wäre gut, wenn sie heute hier übernachten könnte.“
Randy trat hinzu und nahm Scout auf den Arm.
„Was ist passiert?“, fragte er besorgt, denn seine Freundin wirkte immer noch etwas blass und verstört. Sie setzte sich zu den anderen aufs Sofa und begann schließlich zu erzählen.
„Ich werde mich dann mal verabschieden“, sagte Matt währenddessen leise zu Danielle. „Es ist spät, und ich habe morgen früh einen wichtigen Termin.“
Sie nickte, nicht ohne Bedauern.
„Ich bring dich noch hinaus.“
Draußen vor der Tür zog er sie liebevoll in die Arme.
„Ich danke dir für diesen wundervollen Abend!“
„Es war sehr schön, dich wiederzusehen.“
„Dann sollten wir das so bald wie möglich wiederholen“, schlug er lächelnd vor. „Wie wäre es mit... morgen Abend?“
„Hast du bei all deinen geschäftlichen Verpflichtungen denn überhaupt Zeit, dich mit mir zu treffen?“
„Wie kommst du denn darauf?“
„Nun, ich habe heute Nachmittag dein Bild in der Zeitung gesehen und den Artikel über das Ferienprojekt gelesen. Du bist in Sunset City ein sehr bekannter Mann, Matt Shelton!“
„Für gewöhnlich empfinde ich Publicity als ziemlich lästig. Aber in diesem Falle hatte sie sogar etwas Positives. Wir sehen uns morgen. Gute Nacht, Danielle.“
Er beugte sich vor und küsste sie. Es sollte nur ein harmloser Abschiedskuss sein, aber ihre Gefühle füreinander ließen sie erneut alles um sich herum vergessen.
„Hey…“, stöhnte Matt schließlich atemlos. „Noch so ein Kuss, und ich werde bestimmt nicht gehen!“
Danielles braune Augen blitzten schelmisch.
„Noch so ein Kuss und ich lasse dich nicht gehen!“
Er lachte und strich ihr zärtlich übers Haar.
„Ich rufe dich an. Schlaf gut.“
„Gute Nacht, Matt.“
Mit einem versonnenen Lächeln auf den von seinem Kuss leicht geröteten Lippen sah sie ihm nach, wie er in der Dunkelheit verschwand.
*
Als Matt über die nächtliche Strandpromenade nach Hause ging, hätte er vor lauter Glück singen können. Danielle hatte tatsächlich an nur einem einzigen Abend etwas geschafft, was er selbst nie für möglich gehalten hatte:
Er fühlte sich so herrlich beschwingt und frei wie ein frisch verliebter Teenager. Und was noch viel wichtiger war: Seit ihrer Begegnung an Mitchs Haustür hatte er nicht ein einziges Mal an Marina gedacht.
Marina?
Zum Teufel mit Marina!
Zum Teufel mit den letzten zwei Jahren, in denen er ihr nachgeweint und vergeblich gehofft hatte, sie würde vielleicht wieder zu ihm zurückkommen.
Das würde jetzt endgültig vorbei sein! Es war an der Zeit, wieder zu leben, zu lieben und sich an jedem neuen Tag zu freuen, an jedem Tag mit dieser wunderbaren jungen Frau aus Oklahoma... Danielle.
Was hatte sie gesagt? Sie würde hier gern ein neues Leben anfangen. Auch sie war enttäuscht worden, genau wie er, aber sie gab sich nicht einfach auf.
Vielleicht war sie in dieser Hinsicht viel stärker als er.
`Morgen`, dachte er mit einem Glücksgefühl, das ihm fast den Atem nahm. Morgen würde er sie wiedersehen!
Er bog in den Eingang zu seinem Grundstück ein und suchte in seiner Hosentasche nach dem Schlüssel.
Im Hausflur brannte Licht.
Matt stutzte.
Da standen Koffer und Reisetaschen, mit denen man einen Kleinbus hätte beladen können.
Und dann sah er sie...
Sie saß auf der Treppe vor seiner Tür und blickte ihm erwartungsvoll lächelnd entgegen, so als sei sie nur eben mal kurz fort gewesen... Marina!
„Hallo Matt!”, sagte sie mit dieser Stimme, die ihn monatelang bis in seine Träume hinein verfolgt hatte. „Ich bin wieder zurück.“