Als Matt aus dem Ort zurückkam, war im Haus nach wie vor alles still. Wahrscheinlich schlief Danielle noch. Also begann er zunächst damit, die eingekauften Lebensmittel in die Küche zu tragen.
Plötzlich stutzte er.
Die Tür zum angrenzenden Schlafraum stand einen Spalt breit offen, was bedeutete, dass Danielle wohl in der Zwischenzeit aufgestanden war.
Leise ging er hinüber und spähte ins Zimmer.
Das Bett war leer.
„Danielle?“ Vorsichtig, um sie nicht unnötig zu erschrecken, klopfte er an die Badezimmertür, bevor er eintrat.
Sie war nicht da.
Mit einem Mal ergriff ihn Panik, er stürzte zum Schrank und riss ihn auf.
Ihre Sachen waren allesamt weg.
Verzweifelt starrte er auf den leeren Schrank und ließ sich fassungslos auf dem Bettrand nieder, doch bereits nach ein paar Sekunden sprang er wie von der Tarantel gestochen wieder auf.
Wenn sie ihn wirklich verlassen hatte, wie war sie dann von hier weggekommen? Sie besaß weder einen Wagen, noch gab es hier ein Taxi, und von ihren Freunden aus Sunset City hätte sie in so kurzer Zeit auch keiner abholen können!
Was, wenn sie einfach losgelaufen wäre?
Nein, Danielle hatte zwar sehr emotional auf sein Geständnis reagiert, aber sie war nicht lebensmüde. Sie kannte diese Gegend nicht, und bis zur Gebirgsstraße, auf der sie gekommen waren, war es ein beschwerlicher Fußmarsch von über einer Stunde, noch dazu mit ihrem gesamten Gepäck! Außerdem hatte er ihr erzählt, dass hier höchst selten ein Auto entlangfuhr.
Trotzdem rannte er nach draußen, sprang in seinen Wagen und fuhr kurzentschlossen den schmalen Weg bis zur Straße, aber von Danielle war weit und breit keine Spur zu sehen.
Matt überlegte fieberhaft, während er zurück zur Hütte fuhr.
Es passte einfach nicht zu ihr, dass sie ihn trotz aller Enttäuschung einfach ohne ein Wort des Abschieds hier sitzen ließ.
Kein Zettel, kein Brief… aber vielleicht hatte er ja etwas übersehen?
Er eilte wieder ins Haus und sah sich um. In der Küche lag nichts, und auch im Schlafzimmer war nichts zu entdecken, was nach einer Nachricht aussah. Dafür fiel ihm dieser eigentümlich strenge Geruch auf, den er vorhin zwar wahrgenommen aber nicht weiter beachtet hatte. Irgendwie roch es im Schlafraum nach Krankenhaus.
Während er sich weiter nach einem Anhaltspunkt für Danielles Verschwinden umsah, entdeckte er ein zerknautschtes Tuch, das zwischen den Kissen lag.
War das ein Halstuch, das sie vergessen hatte?
Matt griff danach und betrachtete es, als ihm ein beißender Geruch in die Nase stieg – Chloroform!
Schlagartig wurde ihm klar, dass Danielle ihn gar nicht verlassen hatte…
Sie war entführt worden!
Diese Erkenntnis in ihrer ganzen Tragweite traf ihn so unerwartet, dass seine Knie nachgaben und er sich erst einmal setzen musste.
Wer zum Teufel…
Es war, als ob in seinem Kopf eine rote Lampe aufleuchtete.
Nur einem einzigen Menschen traute er so eine Aktion zu. Nur einer konnte herausgefunden haben, wohin er mit Danielle gefahren war, und nur einer setzte alles daran, ihm von je her das Liebste zu nehmen, was er besaß, skrupellos und gemein, ohne Rücksicht auf Verluste - sein Zwillingsbruder Mason.
*
Stefano wollte soeben das Revier verlassen, als Matt hereingestürmt kam.
„Du musst mir helfen“, rief er ohne große Vorrede und schob seinen ehemaligen Schwager kurzerhand wieder zurück in dessen Büro.
„Hey, Moment mal, Matt, was soll denn das! Ich habe gleich einen Termin, du kannst hier nicht einfach…“, protestierte der Detektiv und hob abwehrend seine Hände, doch Matt schloss mit Nachdruck die Tür hinter sich und sah ihn mit ernstem Gesicht an.
„Danielle ist entführt worden!“
„Was?“ Im ersten Augenblick glaubte Stefano sich verhört zu haben, doch Matt räumte mit einem verzweifelten Nicken jeden Zweifel an seinen Worten aus.
„Wir waren seit gestern in meiner Blockhütte oben in den San Bernadino Mountains“, erklärte er unvermittelt. „Ich bin in den Ort hinuntergefahren, um ein paar Lebensmittel einzukaufen. Danielle blieb allein in der Hütte. Als ich zurückkam, war sie weg, und mit ihr all ihre Sachen.“
Stefano schüttelte den Kopf.
„Wer sollte denn so was tun?“, meinte er skeptisch. „Danielle hat doch hier keine Feinde, soweit ich weiß.“ Er setzte sich auf die Schreibtischkante. „Entschuldige, aber das Ganze ist mir etwas weit hergeholt. Kann es nicht vielleicht sein, dass ihr beide einen kleinen Streit hattet und sie dich verlassen hat?“
„Nein“, rief Matt erbost. „Das hätte sie nie getan. Wie denn auch, ohne Auto wäre sie ja gar nicht von dort oben weggekommen! Und außerdem…“ Er zog das immer noch stark nach Chloroform riechende Tuch aus einer Plastiktüte, die er in seiner Tasche verstaut hatte und hielt es Stefano unter die Nase, „Das hier habe ich im Schlafzimmer gefunden.“
Stefano sah Matt etwas zweifelnd an, schnupperte dann an dem Tuch und verzog angewidert das Gesicht.
„Eindeutig Chloroform.“
„Jemand hat sie damit betäubt und entführt“, mutmaßte Matt und wies verbittert auf das Tuch. „Das da beweist ja wohl, dass etwas nicht stimmt!“
Stefano sah ihn nachdenklich an.
„Hast du einen Verdacht, der uns weiterhelfen könnte?“
„Allerdings“, schnaufte Matt. „Danielle mag zwar keine Feinde haben, aber ich habe einen, und dem traue ich alles zu, denn er hasst mich und traktiert mich aus purer Bosheit bereits mein ganzes Leben lang.“
Stefano zog in böser Vorahnung die Augenbrauen zusammen.
„Du meinst deinen Bruder? Du glaubst, Mason hat Danielle entführt?“
„Ich glaube es nicht nur, ich weiß es, Stefano“, erwiderte Matt mit ernster Miene. „Was ich leider nicht weiß, ist, wo sich dieser Mistkerl zurzeit aufhält. Und deshalb bin ich hier. Du musst mir helfen, ihn schnell zu finden, bevor er Danielle etwas antut. Ich könnte es nicht ertragen, wenn ihr etwas passiert!“
Stefano nickte.
„Okay“, meinte er und überlegte angespannt. „Und du hast keine Ahnung, wo er sein könnte?“
Matt schüttelte den Kopf.
„Kurz nachdem Marina ihn verlassen hatte, ist er wieder hier in Sunset City aufgetaucht. Vermutlich hat er in der Nähe eine Wohnung oder gar ein Apartment gemietet, vielleicht sogar ein Haus.“
Stefano nahm den Hörer und drückte eine Taste.
„Nolan? Ist Chief Henderson in seinem Büro?... Okay. Ich brauche so schnell wie möglich ein paar Leute für einen Einsatz. Haltet euch bereit.“
Er legte auf und sah Matt an.
„Ich werde mit meinem Chef reden und hoffe, er gibt seine Zustimmung für einen Such-Einsatz. Am besten fahre ich zuerst hinüber ins OCEANS und du fragst bei Mitch nach, vielleicht weiß einer von ihnen, wo Mason sich aufhält. Nolan und Davis könnten sich derweil bei den umliegenden Vermietern umhören, ob jemand, auf den Masons Beschreibung passt, in der letzten Zeit eine Wohnung gemietet hat.“
Matt nickte angespannt.
„Dann los, Stefano! Wir müssen uns beeilen, bevor…“
„Schon gut.“ Der Detektiv legte ihm seine Hand auf die Schulter. „Wir werden sie finden.“
*
Wie Matt bereits befürchtete, hatte sich Danielle bisher nicht bei ihren Freunden gemeldet. Und natürlich wusste auch niemand, wo Mason zu finden war.
Mitch und Randy waren in größter Sorge und boten Matt sofort ihre Hilfe an. Zuerst schauten sie gemeinsam bei Luke vorbei, der seinen Dienst auf dem Rettungsturm verrichtete, aber auch er konnte ihnen nicht weiterhelfen.
Kurzentschlossen sprang Matt in seinen Wagen und fuhr zum Ocean Drive.
Ungeduldig klopfte er an Marians Tür. Er hatte Glück, nach einer Weile, die ihm wie eine Ewigkeit vorkam, öffnete sie.
„Matt?“, fragte sie erstaunt. „Ist etwas passiert?“
„Ich brauche deine Hilfe, Marina“, bat er eindringlich. „Danielle ist verschwunden, und ich bin ziemlich sicher, dass Mason sie entführt hat!“
„Mason? Ja aber…“
„Bitte Marina, denk nach! Weißt du, ob er hier irgendwo in Sunset City oder der näheren Umgebung ein Haus oder eine Wohnung gemietet hat? Jeder Hinweis ist wichtig!“
Seine Ex-Frau starrte ihn nachdenklich an.
„Ich fürchte, da kann ich dir nicht helfen, Matt“, sagte sie, etwas zögernd, wie ihm schien. „Ich habe zwar gehört, dass er sich seit einiger Zeit wieder hier irgendwo aufhält, aber wir sind uns nicht begegnet. Das ist auch gut so, denn ich möchte nichts mehr mit ihm zu tun haben.“
Matt nickte mit zusammengepressten Lippen.
Marina sah ihn an und fast hätte sie so etwas wie Mitleid empfunden. Er musste Danielle wirklich sehr lieben, denn die Angst um sie stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben.
„Okay“, sagte er leise und wandte sich enttäuscht ab. „Auf Wiedersehen, Marina.“
„Matt?“, rief sie ihm spontan nach und brachte ein krampfhaftes Lächeln zustande, als er sich umdrehte. „Tut mir echt leid für dich, dass du das durchmachen musst.“
Er nickte nur stumm und eilte davon.
Sie sah ihm nach, bis er verschwunden war.
´…dass du das schon wieder durchmachen musst´, ergänzte sie in Gedanken und ertappte sich dabei, wie sie Mason heimlich dankte, dass er ihr mit seiner Aktion, Danielle zu entführen, so gute Karten in die Hände spielte.
*
Stefano und Matt kamen zugleich im OCEANS an. Die Bar war um diese Zeit offiziell noch geschlossen, und Dean, der gerade die Listen mit den Bestellungen durchging, sah erstaunt hoch, als er die beiden Besucher bemerkte.
„Matt?“, fragte er ungläubig. „Was tust du denn hier? Wolltest du nicht mit Danielle an irgendeinem geheimnisvollen Ort ein paar Tage Urlaub genießen?“
Matt schnaufte verächtlich und verzog das Gesicht.
„Es scheint fast so, als wäre dieser Ort für jemanden Bestimmtes nicht geheimnisvoll genug gewesen.“
„Wie meinst du das?“
„Ich bin auf der Suche nach meinem Bruder. Hast du ihn heute oder in den letzten zwei Tagen gesehen?“
Chelsea, die gerade paar Weinflaschen aus dem Keller holte, hörte Matts Stimme und lief schnell die Treppe hinauf, um zu sehen, was da los war. Als sie jedoch mitbekam, dass die Rede von Mason war, verharrte sie neugierig hinter der Tür, von wo aus sie jedes Wort mitbekam.
„Mason?“ Dean sah Matt erstaunt an. „Nein, der war nicht hier. Wieso suchst du nach ihm? Ich dachte immer, ihr zwei steht euch nicht besonders nah.“
Matt wollte etwas erwidern, doch Stefano legte ihm beschwichtigend die Hand auf die Schulter.
„Wir haben allen Grund zu der Annahme, dass Mason Danielle entführt hat“, erklärte er mit ernstem Gesicht. „Leider wissen wir nicht, wo er sich zurzeit aufhält und fragen deshalb überall herum. Vielleicht hat ihn ja jemand gesehen oder weiß, wo er wohnt.“
„Tut mir leid“, meinte Dean, und man sah ihm deutlich an, wie überrascht er von dem eben Gehörten war. „Ich habe ihn nicht gesehen, und ehrlich gesagt ist mir das auch ganz recht. Ich mag ihn nicht.“ Er warf Matt einen entschuldigenden Blick zu. „Sorry, ist nicht persönlich gemeint.“
„Schon gut“, erwiderte Matt mit einem sarkastischen Lächeln. „Keiner versteht das besser als ich.“ Er sah sich kurz um. „Wo ist Chelsea? Vielleicht kann sie uns ja weiterhelfen!“
„Sie ist…“ Dean drehte sich um und wollte gerade in Richtung Keller weisen, als die junge Frau schnell hinter der Tür hervortrat. Scheinbar überrascht musterte sie Matt.
„Mason?“
„Falsch, Chelsea. Ich bin es, Matt.“
Sie schaffte es tatsächlich, noch eine Spur erstaunter dreinzublicken.
„Ja aber, ich dachte, du und Danielle, ihr…“
„Hast du Mason gesehen?“, unterbrach Matt sie ungeduldig. „Gestern, heute, irgendwann?“
Sie schüttelte heftig den Kopf, obwohl sie sich dabei ziemlich unwohl fühlte.
„Okay, danke.“ Stefano reichte Dean seine Karte. „Bitte rufen Sie mich an, falls Sie ihn sehen oder von ihm hören sollten.“
Dean nickte und Stefano wandte sich an Matt.
„Wir fahren erst einmal zurück zum Revier. Mal sehen, ob meine Leute inzwischen etwas herausgefunden haben.“
Als die beiden Männer die Bar verlassen hatten, sah Dean Chelsea prüfend an.
„Hast du ihn wirklich nicht gesehen?“
„Nein, natürlich nicht“, rief sie ungehalten, konnte aber nicht verhindern, dass ihre Wangen sich unter ihrem leicht gebräunten Teint sofort einen Schein dunkler färbten. „Was ist hier eigentlich los, Dean?“
Er erzählte, was er eben erfahren hatte.
Chelsea starrte ihn aus weit aufgerissenen Augen sprachlos an.
Mason sollte Danielle entführt haben? Dieser nette, gutaussehende Mann, Matts Zwillingsbruder? Unmöglich...
Das konnte doch nur ein übler Scherz sein! Oder eine bösartige Intrige, die irgendwer gegen ihn ausheckte.
Andererseits wollte sie auf gar keinen Fall, dass ihrer Freundin etwas geschah.
Fieberhaft überlegte sie, was zu tun war. Sollte sie Mason verraten? Immerhin wusste sie inzwischen, wo er wohnte.
Nein, sie würde ihn keinesfalls grundlos ans Messer liefern!
Das Ganze klang in ihren Ohren viel zu absurd, als dass sie es glauben konnte. Aus welchem Grund sollte Mason Danielle entführen? Das ergab doch überhaupt keinen Sinn.
Chelsea atmete tief durch. Sie musste sich unbedingt davon überzeugen, dass Matts Verdacht unbegründet war. Am besten sofort!
„Wo willst du denn hin?“, fragte Dean erstaunt, als er sah, wie Chelsea nach ihrer Jacke griff.
„Ich… Ich will schnell zu Hause vorbeischauen! Vielleicht weiß dort schon jemand etwas Neues! Sorry Dean, aber ich muss wissen, was mit Danielle ist!“
Er nickte nur und sah ihr sehr nachdenklich hinterher.
Kaum war sie verschwunden, da nahm er kurzentschlossen die Visitenkarte, die Stefano ihm gegeben hatte und steckte sie in seine Brusttasche. Dann schloss er das OCEANS ab und folgte Chelsea unauffällig.
*
So schnell sie ihre Füße tragen konnten, lief Chelsea am Strand entlang bis zu dem Haus, wo sie Mason am Morgen gesehen hatte. Ihre Hoffnung, ihn hier anzutreffen, verringerte sich zusehends, als sie bemerkte, dass sein Auto nicht wie neulich seitlich in der Zufahrt stand.
Sich vorsichtig umschauend ging sie trotzdem schnurstracks auf die Haustür zu und drückte entschlossen auf den Klingelknopf.
Im Haus blieb alles still.
Chelsea läutete noch einmal und klopfte obendrein noch kräftig an die Tür.
„Wo bist du?“, flüsterte sie leise vor sich hin. „Komm schon, Mason, ich muss unbedingt wissen, was hier los ist!“
Als sich immer noch nichts tat, hob sie resigniert die Schultern. Zögernd und zutiefst verunsichert durch das, was sie im OCEANS gehört hatte, wollte sie bereits wieder gehen, als sich hinter ihr plötzlich leise die Tür öffnete.
Mason, in Jeans und dunklem Hemd, trat heraus und maß sie mit einem äußerst erstaunten Blick.
„Was für eine nette Überraschung! Darf ich fragen, was du hier tust?“
„Mason…“
Ohne, dass sie es hätte erklären können, fühlte sich Chelsea mit einem Mal seltsam befangen. War es die Art, wie er sie ansah, oder vielmehr die Tatsache, dass sie ohne einen ersichtlichen Grund hier vor seiner Haustür stand? Zu dumm, dass sie sich in ihrer Aufregung keine passende Ausrede zurechtgelegt hatte.
„Ich… ich habe dich kürzlich hier gesehen, und … na ja...“ Sie atmete tief durch, um ihr wild klopfendes Herz zu beruhigen. „Du hast dich nach der Eröffnungsparty im OCEANS nicht mehr gemeldet.“
„Und da dachtest du, du könntest mich mal eben hier überraschen?“ Er grinste, und sein Blick wanderte von ihrem Gesicht bis hinunter zu ihren Fußspitzen und wieder zurück. „Nette Idee, ich fühle mich geehrt. Ich liebe Frauen mit Eigeninitiative. Allerdings muss ich dir gestehen, dass dein Besuch im Moment leider etwas unpassend ist. Vielleicht ein anderes Mal?“
Chelsea schluckte zunächst etwas enttäuscht, doch dann fiel ihr der eigentliche Grund ihres Kommens ein.
„Mason, warte! Ich muss dringend mit dir reden“, sagte sie schnell und trat einen Schritt auf ihn zu. „Es ist wirklich wichtig!“
Abwartend sah er sie an und machte immer noch keinerlei Anstalten, sie hereinzubitten.
Chelsea schaute sich schnell um, ob auch niemand sie von der Straße aus beobachten oder gar belauschen könnte.
„Hör zu“, sagte sie leise, und Mason vernahm nur allzu deutlich die Aufregung in ihrer Stimme. „Matt und Stefano waren im OCEANS und haben nach dir gefragt. Sie behaupten, du hättest Danielle entführt! Die Polizei von Sunset City sucht bereits nach dir.“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich glaube kein Wort von dem, was sie erzählt haben, und ehrlich gesagt kann ich mir auch nicht erklären, wie sie auf eine derart absurde Idee kommen.“
Einen winzigen Moment lang verdüsterte sich Masons Miene und seine Augen blitzten gefährlich auf, doch er hatte sich erstaunlich schnell wieder unter Kontrolle. Während er die Stirn in Falten zog, trat er wortlos einen Schritt beiseite und forderte Chelsea durch eine einladende Handbewegung auf einzutreten.
Zögernd trat sie in das geräumige Wohnzimmer, das auf den ersten Blick hell und freundlich, aber dennoch irgendwie unpersönlich wirkte. Verstohlen sah sie sich um. Es schien niemand hier zu sein, und sie atmete sichtlich auf.
Erwartungsvoll drehte sie sich nach Mason um, gespannt darauf, wie er wohl auf Matts Anschuldigungen reagieren würde.
Er schloss die Tür, trat dicht an Chelsea heran und umfasste ihre Schultern, während er sie mit seinen unergründlich dunklen Augen ansah.
„Tja, ich weiß nicht, wie ich es dir am besten sagen soll, Schätzchen, also will ich nicht lange drum herum reden. Ganz so unrecht, wie du glaubst, haben deine Freunde gar nicht. Dani ist nämlich wirklich hier bei mir.“
*
„Verdammt noch mal, Stefano! Wir müssen doch irgendetwas tun!“
Wie gehetzt lief Matt im Büro des Detektivs auf und ab, die Hände in den Hosentaschen grimmig zu Fäusten geballt. „Während du hier herumtelefonierst, könnte Danielle in höchster Lebensgefahr sein!“
Stefano knallte das Handy wütend auf seinen Schreibtisch.
„Hast du vielleicht eine bessere Idee?“, beschwerte er sich lautstark. „Ich will doch auch nicht, dass ihr etwas geschieht, und im Moment wird alles getan, was nötig ist, um Masons derzeitigen Aufenthaltsort zu finden!“
„Wirklich alles?“ Matt schlug mit der Faust auf die Tischplatte. „Mein Gott, wenn ich den Kerl in die Finger bekomme…“ Er besann sich und fuhr sich nervös durchs Haar. „Entschuldige, Stef, wenn wir uns hier gegenseitig anbrüllen, wird es auch nicht besser, aber ich habe das Gefühl, ich werde gleich verrückt! Danielle ist irgendwo da draußen mit diesem Wahnsinnigen!“
Stefano nickte mitfühlend.
„Glaubst du wirklich, er tut ihr etwas an?“
„Ich weiß nicht, was ich glauben soll. Ich traue meinem Bruder alles zu, wirklich alles! Er hasst mich, seine größte Genugtuung besteht darin, mir wehtun. Und er weiß ganz genau, wie er das schafft.“
In diesem Augenblick klingelte Stefanos Handy.
„Cortez?... Wer ist dort? ... Dean! Ja, was gibt’s denn? … Wo genau sind Sie im Moment? … Okay…“ Eilig begann er, etwas auf seinen Block zu schreiben. „Bewegen Sie sich nicht von der Stelle, wir sind in ein paar Minuten da!“
Er schaltete das Handy ab und griff nach seiner Jacke.
„Wir haben ihn“, informierte er Matt, der ihn erwartungsvoll ansah. „Los, wir nehmen meinen Wagen!“
*
Chelsea hatte das Gefühl, als würde der Boden unter ihr schwanken.
„Was hast du eben gesagt?“
Mason hob nur lächelnd die Schultern, während er sich in einen der schweren Sessel fallen ließ und die langen Beine lässig ausstreckte.
„Ich habe sie nicht entführt. Sie ist ganz freiwillig hier, weil sie mit mir zusammen sein möchte.“ Er grinste, als Chelsea ihn total fassungslos anstarrte. „Es tut mir leid, wenn du den Eindruck hattest, dass sich zwischen uns beiden etwas entwickeln könnte, aber Dani und ich, wir lieben uns, seit wir uns das erste Mal getroffen haben. Sie hatte nur noch nicht den Mut, es Matt zu sagen. Du musst wissen, mein Bruder kann sehr besitzergreifend und jähzornig sein, wenn etwas nicht nach seinem Willen geschieht. Du hast ja letztens selbst erlebt, wie er auf mich losgegangen ist.“ Er machte eine bedeutungsvolle Pause, ließ aber Chelsea nicht aus den Augen. „Sie hatte Angst vor seiner Reaktion, wenn sie ihm von uns erzählen würde, deshalb rief sie mich an, und ich habe sie dann aus dieser Hütte in den Bergen abgeholt und hierhergebracht, damit er sie nicht findet. Die Ärmste war völlig fertig.“
Chelsea schüttelte ungläubig den Kopf.
„Das kann doch unmöglich wahr sein“, murmelte sie total geschockt.
Mason stand wieder auf und ging erneut zu ihr hinüber.
„Tut mir wirklich leid, dass du es so erfahren musst. Wenn wir uns unter anderen Umständen kennengelernt hätten, hätte aus uns beiden ganz sicher etwas werden können, meine Schöne. Aber Dani bedeutet mir wirklich viel. Sie und ich, wir werden zusammen von hier weggehen.“
Zweifel und Fassungslosigkeit über das eben Gehörte zeichneten sich deutlich in Chelseas Gesicht ab. Erneut schüttelte sie den Kopf.
„Glaubst du mir etwa nicht?“, fragte Mason scheinheilig und wies auf die Treppe, die nach oben führte. „Du kannst nachsehen, wenn du möchtest. Sie ist im Schlafzimmer. Aber bitte sei leise, im Moment schläft sie nämlich fest. Wie gesagt, sie war ziemlich erschöpft von unserer Flucht. Aber es geht ihr gut. Na komm, du kannst dich gern selbst davon überzeugen!“
Chelsea zögerte, aber schließlich überwog die Sorge um ihre Freundin und sie ging langsam auf die Treppe zu.
„Geh schon vor, es ist das Zimmer links neben dem Aufgang“, sagte Mason mit einem diabolischen Lächeln auf dem Gesicht. „Ich komme gleich nach.“
Mit diesen Worten verschwand er in der Küche.
Mechanisch stieg Chelsea die Treppen hoch. Sie fühlte sich völlig überrumpelt und konnte kaum glauben, was sie da eben gehört hatte.
Mason und Danielle… ein Liebespaar?
Hatte Danielle sie nicht mehrmals eindringlich vor Mason gewarnt?
Langsam nahm sie Stufe für Stufe und stand schließlich vor besagter Zimmertür.
Vorsichtig schob sie diese auf.
„Danielle?“
Die junge Frau lag auf dem Bett, zugedeckt mit einer dünnen Decke, und schien allem Anschein nach tatsächlich fest zu schlafen. Neben ihr auf dem Hocker lagen eine Jeans und ein Pullover.
Chelsea wagte kaum zu atmen. Zu groß war die Überraschung, Masons Worte bestätigt zu sehen und Danielle wirklich hier vorzufinden. Sekundenlang starrte sie ihre Freundin von der Tür aus an, dann trat sie zögernd näher.
„Ich muss sie wecken“, sagte sie entschlossen zu sich selbst. „Das, was Mason mir eben erzählt hat, will ich von ihr persönlich hören!“
In diesem Augenblick hörte sie leise Schritte hinter sich, doch ehe sie wusste, wie ihr geschah, packte sie jemand von hinten und drückte ihr ein mit Chloroform getränktes Tuch kraftvoll auf Mund und Nase.
„Schlaf schön, mein Engel“, hörte sie eine wohlbekannte Stimme wie aus weiter Ferne sagen, während sie verzweifelt versuchte, sich zu wehren. Aber ihre Kräfte erstarben schnell. Sie sah für einen Bruchteil von Sekunden Masons hämisches Grinsen, dann wurde ihr schwarz vor Augen und sie sank bewusstlos zu Boden.
Mason fing sie auf und trug sie in die kleine Abstellkammer am Ende des Flures, wo er sie auf eine Liege fallen ließ. Mit schnellen Bewegungen fesselte er ihre Fuß- und Handgelenke und klebte ihr ein breites Pflaster auf den Mund.
Sein Lächeln war eiskalt, als er einen Moment lang verharrte und auf sie hinunterblickte.
„Wirklich schade“, sagte er mit einem gewissen Bedauern, dann drehte er sich um, ging hinaus und verschloss die Tür.
Als er das Schlafzimmer wieder betrat, war Danielle gerade dabei, aufzuwachen.
*
Sie hatte eine Stimme gehört… Zuerst war sie weit weg und rief ihren Namen, dann schien sie näher zu kommen. Die Stimme kam ihr bekannt vor, aber dann war da ein Stöhnen, als sei jemand in Gefahr, und Danielle begriff, dass sie geschlafen und wohl nur geträumt hatte.
Sie versuchte die Augen zu öffnen, doch ihre Lider waren schwer wie Blei, und als es ihr endlich doch gelang, blendete das Tageslicht sie schmerzlich. Sie blinzelte verzweifelt und zwang sich, die Augen offen zu halten. Mühsam versuchte sie sich aufzurichten, doch ihr Kopf schien wie aus Watte und das Zimmer begann sich um sie zu drehen, so dass sie aufgab und sich zurück in die weichen Kissen fallen ließ.
Das war der Moment, als jemand den Raum betrat.
Danielle blinzelte wieder, als sie merkte, wie Derjenige sich neben sie auf die Bettkante setzte.
Obwohl vor ihren Augen alles verschwamm, glaubte sie Matt zu erkennen und atmete erleichtert auf.
„Matt“, sagte sie leise und ihr schien, als würde ihre Stimme von weither kommen. „Was ist mit mir?“
Er strich ihr liebevoll über die Stirn und lächelte.
„Alles in Ordnung, Liebling. Du hast nur geschlafen. Du warst sehr müde.“
Sie versuchte wieder, sich aufzurichten. Er stützte sie und reichte ihr ein Glas Wasser, das auf dem Nachtisch stand.
„Trink das, dann wird es gleich besser.“
Gierig trank sie. Als er ihr das Glas wieder abnahm, sah sie sich irritiert um. Ihre Augen hatten sich inzwischen etwas an das Licht gewöhnt, aber ihr Kopf weigerte sich beharrlich, das, was sie sah, einzuordnen.
„Matt, wo sind wir hier?“
„Erinnerst du dich nicht?“, fragte er und sah sie aufmerksam an.
Danielle griff sich an die Stirn und begann, ihre Schläfen zu massieren.
„Ich weiß nicht… ich fühle mich so… benebelt. Meine Güte, ich muss wirklich fest geschlafen haben.“ Ihre Augen suchten sein Gesicht. „Ja… jetzt erinnere ich mich, wir waren in der Hütte in den Bergen…Wir haben über irgendetwas gestritten.“ Sie überlegte angestrengt. „Du wolltest ins Dorf, um einzukaufen und ich bin eingeschlafen. Und dann…“ Die Erinnerung traf sie wie ein Schlag ins Gesicht. „Oh mein Gott, dann war da jemand im Schlafzimmer und hat mich angegriffen! Matt, das habe ich doch nicht geträumt, oder?“
Er hatte sie die ganze Zeit über unverwandt angeschaut. Jetzt veränderte sich der Ausdruck auf seinem Gesicht und es erschien jenes kalte Lächeln, das sie sofort wieder schaudern ließ.
Sie erstarrte und drückte erschrocken ihre Hand auf den Mund.
„Du bist gar nicht Matt…“ Ihre Stimme erstarb zu einem entsetzten Flüstern.
„Du bist Mason!“