Madame Dolores Sola-Cortez, die Kartenlegerin, hatte sich zu später Stunde mit ihrer Besucherin in ihr Atelier zurückgezogen.
Der kleine Raum mit dem dicken Perlenvorhang an der Tür wirkte schon bei Tag sehr mystisch und geheimnisvoll. Jetzt jedoch, im Dunkel der Nacht mutete das Ganze fast gespenstisch an. Überall brannten unzählige Kerzen, es duftete nach Weihrauch und wunderlichen Kräutern.
Dolores selbst, eine dunkelhaarige Frau, die den Zenit ihres Lebens bereits überschritten hatte, und deren exotische Gesichtszüge verrieten, dass sie in ihrer Jugend einmal sehr schön gewesen war, trug einen langen goldbestickten Kaftan, schimmernde Perlenohrringe und an ihrer rechten Hand, die bedächtig die Karten legte, leuchtete ein prachtvoller Rubin in der Farbe ihrer glutrot geschminkten Lippen, die sich eben zu einem zufriedenen Lächeln verzogen.
„Marina, mein Kind, du darfst die Hoffnung keinesfalls aufgeben! Die Dinge sind nicht immer so, wie sie auf den ersten Blick scheinen, und manchmal wendet sich das Blatt ganz unerwartet.“ Sie blickte auf, geradewegs in die erwartungsvollen Augen ihrer Tochter.
Marina war an diesem Abend heimgekehrt, nachdem ihre Familie lange Zeit so gut wie nichts von ihr gehört hatte. Sie wirkte müde und verzweifelt und hatte mit der vor Lebensfreude übersprühenden jungen Frau, die sie bis vor zwei Jahren gewesen war, kaum noch etwas gemeinsam.
Dolores hatte ihre Tochter überredet, mit Hilfe der ihr eigenen übernatürlichen Gaben einen Blick in die Zukunft zu werfen. Nicht zuletzt, um ihr damit zu beweisen, dass vielleicht doch nicht alles so düster und trostlos war, wie es ihr im Augenblick schien.
Mit ihren schlanken, gepflegten Fingern berührte sie erneut eine der Karten und drehte sie langsam um. Ihr Lächeln verschwand schlagartig und ein seltsames Funkeln lag plötzlich in ihrem Blick.
„Du bist jung... und du bist stark! Dein Schicksal liegt allein in deiner Hand, denn die Sterne stehen gut. Du musst es nur wollen… Du musst kämpfen, Marina!“ Sie ballte die Fäuste. „Kämpfe mit aller Kraft um dein Glück, hol dir zurück, was dir zusteht, es ist noch nicht zu spät!“ Sie sah ihre Tochter eindringlich an. „Seit böse Kräfte von deiner Seite gewichen sind, bist du stärker als je zuvor. Deine Zukunft sieht verheißungsvoll aus, aber du musst all deine Kraft einsetzen.“
Sie griff nach einer weiteren Karte und deckte sie auf. Plötzlich verdüsterte sich ihre Miene.
„Was ist?“, fragte Marina beunruhigt.
Dolores betrachtete die Karte nachdenklich und zog die Stirn in Falten.
„Etwas Unerwartetes tritt in dein Leben. Hast du eine Ahnung, was das sein könnte?“
Marina schüttelte den Kopf.
„Nein, nicht, dass ich wüsste.“
„Nun, was auch immer das ist, diese Sache wird dir noch einige Probleme bereiten.“
„Vielleicht eine andere Frau in Matts Leben?“, vermutete Marina atemlos. „Er hat nicht offen zugegeben, dass es jemanden gibt, aber er hat es auch nicht abgestritten.“
„Das kann ich nicht genau sagen. Auf jeden Fall ist es etwas, das erheblichen Einfluss auf dein weiteres Dasein nimmt, meine Liebe. Ob diese Veränderung gut oder schlecht ist, liegt daran, wie du selbst damit umgehst. Wenn du die Sache geschickt zu deinem Vorteil nutzen kannst, dürfte deinem Lebensglück nichts im Wege stehen.“
Sie ließ ihre Hände sinken, atmete tief ein, und ihr Gesicht entspannte sich zusehends. Lächelnd schob sie die Karten zu einem Stapel zusammen und legte sie beiseite.
„Nun Marina, zufrieden?“
„Ja Mutter, ich denke, ich weiß, was ich zu tun habe. Du hast mir den Weg gezeigt.“
„Gut“, nickte Madame Dolores und erhob sich. Sie löschte die Kerzen und legte ihrer Tochter den Arm um die Schultern. „Und lass dich durch nichts und niemanden von diesem Weg abbringen. So schwer er auch sein mag, scheue keine Hürde, denn am Ende wartet das Glück auf dich, dass du einst leichtfertig aufgegeben hast.“
Marina war froh, wieder hier zu sein. Die Weissagungen ihrer Mutter, mochten sie nun wahr sein oder nicht, hatten ihr ein wenig Kraft und Zuversicht gegeben. Als sie ihr zurück ins Haus folgte, lag ein zufriedenes Lächeln auf ihrem Gesicht.
Sie hatte eine wilde Zeit hinter sich. Die vergangenen zwei Jahre mit Mason waren kräftezehrend gewesen. Er war rastlos und unberechenbar und konnte nirgends lange bleiben. Sein unersättlicher Lebenshunger, der sie einst so fasziniert hatte, zehrte schon bald von ihren Nerven, laugte sie aus und machte sie müde.
Nachdem sie beide zunächst kreuz und quer durch Europa gereist waren, hatten sie das letzte halbe Jahr in New York und Miami verbracht. Als dann Masons beträchtliches Vermögen fast aufgebraucht war, begann er zu spielen, einer der Gründe, warum Marina ihn verlassen hatte.
Der Hauptgrund ihrer Trennung jedoch war ein anderer: Die Frauen.
Mason konnte nicht treu sein. Ständig war er auf der Suche nach einer neuen Herausforderung. Er ging fremd und wurde dabei immer dreister. Schamlos log er sie an und lachte ihr ins Gesicht, wenn sie versuchte, ihn zur Rede zu stellen. Es schien ihm geradezu teuflische Freude zu bereiten, sie zu verletzen.
Mason war einfach kein Mann für nur eine Frau, er brauchte Abwechslung, Abenteuer und den Reiz des Verbotenen. Er fand nur interessant, was er nicht haben konnte, und Marina vermutete, dass er sich damals aus einem einzigen Grund um sie bemüht hatte: Weil sie die Frau seines verhassten Bruders war und deshalb für ihn als unerreichbar galt.
Er hatte all seinen Charme eingesetzt, um sie zu erobern und gleichzeitig Matt damit zu demütigen, was ihm schließlich auch gelungen war. Sobald er sein Ziel jedoch erreicht hatte, ließ sein Interesse schlagartig nach.
Marina hatte keine Ahnung, ob Mason sich derzeit noch in Miami aufhielt oder inzwischen schon weitergezogen war. Entweder hatte er noch nicht einmal bemerkt, dass sie weg war oder es interessierte ihn nicht.
Sie hoffte von ganzem Herzen, ihn nie wiederzusehen.
Langsam und lustlos begann sie, einen Teil ihrer Sachen in ihr ehemaliges Zimmer einzuräumen, aber schon nach wenigen Handgriffen ließ sie sich erschöpft aufs Bett fallen und starrte an die Decke. Sie dachte an Matt und an das schöne große Haus, welches ihr gemeinsames Zuhause gewesen war. Matt hatte es selbst mit gebaut und gemeinsam hatten sie ihr Nest liebevoll eingerichtet.
Wie hatte sie das alles bloß aufgeben können? Warum hatte sie, als Mason damals plötzlich auftauchte, ständig geglaubt, etwas im Leben zu versäumen? Sie war so verblendet gewesen...
Aber vielleicht war es ja doch noch nicht zu spät!
Sie dachte an die Worte ihrer Mutter, vorhin, als diese die Karten gelegt hatte.
Kämpfe, Marina!
Na gut, aber bevor sie einen momentan ziemlich aussichtslos erscheinenden Kampf aufnahm, musste sie erst einmal ihre derzeitigen gesundheitlichen Probleme auf die Reihe bekommen. Sie fühlte sich schon seit mehreren Tagen schwach und ausgelaugt, was sie allerdings auf den Stress mit Mason und ihre überstürzte Abreise aus Miami schob.
Gleich morgen früh würde sie Dr. Arthur Mendes im Sunset City Memorial Hospital aufsuchen und sich ein paar Vitamine verschreiben lassen.
*
In seinem kleinen Büro in Santa Monica knallte Wes Parker wütend den Hörer auf die Telefonanlage.
„Versager! Gehirnamputierter Armleuchter!“, wetterte er ungehalten. Die Hände zu Fäusten geballt und tief in den Taschen seiner teuer aussehenden Anzughose vergraben, trat er zum Fenster und blickte hinaus.
Das Meer war heute ungewöhnlich ruhig, absolute Flaute, genauso wie derzeit auch in seinen Geschäften. Bisher hatte er stets etwas Wichtiges am Laufen gehabt. Auch wenn es oftmals nicht ganz legale Sachen waren, so brachten gerade die immer noch das meiste Kapital ein. Doch momentan lief sein als Immobilien- Beratung getarntes Unternehmen eher schlecht. Vor allem, weil einer seiner Leute eine sehr wichtige Transaktion in Tokio vermasselt hatte.
Edward Hamilton fiel ihm ein, und er grinste unwillkürlich, als er an seinen ehemaligen Geschäftspartner denken musste.
Dieser Idiot!
Die ganzen Jahre hindurch hatte Edward Wes mitleidig belächelt, seinen sogenannten „Stillen Teilhaber“, der ihm nie Schwierigkeiten machte und sich stets im Hintergrund hielt.
Er schien der festen Überzeugung zu sein, dass es Leute wie Parker ohnehin zu nichts brachten und ließ ihn daher in Ruhe. Doch das sollte sich bald als grundlegender Fehler herausstellen. Inzwischen glaubte Wes mit Sicherheit, dass sein Privatvermögen größer war als das von seinem, ach so cleveren, Geschäftsfreund.
Und nun, da Edward Anni durch die Aktien, die ihr Vater ihr nicht ohne Hintergedanken geschenkt hatte, freien Zugang zur H&S ENTERPRISES gewähren musste, erhoffte sich Wes zukünftig noch den ein oder anderen Insidertipp, den er geschickt nutzen konnte, um sich heimlich zu bereichern. Er würde sein liebes Töchterlein mit der Zeit schon auf die richtige Fährte bringen.
Ein Klopfen an der Bürotür riss ihn aus seinen Gedanken.
Shirley, seine junge Sekretärin und derzeitige Geliebte, kam im superkurzen Mini und dazu passenden hohen Pumps mit wiegenden Hüften hereinstolziert.
„Besuch für dich, Wes“, säuselte sie und wies auf den jungen Mann, der ihr gefolgt war, ohne auch nur einmal den Blick von ihrer aufreizend wippenden Kehrseite zu wenden.
„Danke Shirley“, erwiderte Wes kurz angebunden und forderte seinen Besucher durch eine unwirsche Handbewegung auf, näher zu treten. Dieser ließ sich jedoch nicht beirren und verfolgte die Sekretärin mit seinen lüsternen Blicken, bis sie die Tür wieder hinter sich schloss.
„Was für ein Fahrgestell“, schwärmte er.
„Treten Sie nicht auf Ihre Stielaugen, Hughes!“, knurrte Wes. „Setzen Sie sich.“
Der dunkelhaarige schlanke Mann trat näher, ließ sich in den Sessel vor dem Schreibtisch fallen und schlug lässig die Beine übereinander. Auf den ersten Blick wirkte er recht attraktiv, doch wer ihn genauer betrachtete, konnte den verschlagenen Ausdruck in seinen dunklen Augen nicht übersehen.
„Nun, was gibt es Neues?“, fragte Wes streng. „Haben Sie endlich herausgefunden, wo unser Mann sich aufhält?“
Ein heimtückisches Grinsen umspielte Bobby Hughes` Lippen.
„Natürlich, Mister Parker. In einer Privatklinik in L.A.“ Er zog einen zerknitterten Notizzettel aus seiner Hemdtasche. „Hier stehen Etage, Zimmernummer und medizinische Abteilung, sowie der Name, unter dem er angemeldet ist.“
„Was soll ich denn damit?“, blaffte Wes ihn ungehalten an. „Glauben Sie vielleicht, ich will ihm Blumen schicken oder ihm dort einen Besuch abstatten? Wozu bezahle ich Sie denn eigentlich?“
„Ach ja, weil wir gerade davon sprechen...“ Hughes beugte sich etwas vor und trommelte nervös mit den Fingern auf die Schreibtischplatte. „Es wäre angenehm, wenn Sie mir einen kleinen Vorschuss...“
„Vergessen Sie`s!“, schnitt Wes ihm das Wort ab. „Keinen Cent mehr, bevor diese Sache nicht erledigt ist. Hätten Sie den Auftrag in Tokio nicht vergeigt, wären Sie bereits um einiges reicher. Aber so? Sie arbeiten bei mir auf Provisionsbasis, schon vergessen?“
Verärgert lehnte sich Hughes zurück.
„Okay, wollen Sie meinen Plan hören?“
„Nein, behalten Sie ihn für sich. Was Sie auch vorhaben, es ist mir egal. Nur – erledigen Sie endlich Ihren Auftrag, verdammt!“ Er beugte sich vor und starrte seinen Gast eindringlich an. „Ich wiederhole mich nur ungern, Hughes: Ich will diese Firma!“, sagte er gefährlich leise, wobei er jedes einzelne Wort betonte. „Und zwar bald!“
*
Das Frühstück in Mitchs Strandhaus gestaltete sich laut und fröhlich. Sie scherzten und lachten und waren in bester Wochenendlaune, als es an der Tür läutete. Danielle, die gerade nach oben in ihr Zimmer gehen wollte, öffnete und stand urplötzlich Matt gegenüber, der in schwarzer Jeans und Lederjacke lässig grinsend im Türrahmen lehnte und sie Sekunden später wie selbstverständlich mit einem Wangenkuss begrüßte.
„Guten Morgen, Schönheit!
„Matt! Was für eine Überraschung. Was tust du denn so früh hier?“
„Ich würde dich heute Abend gern zum Dinner einladen“, erwiderte er mit einem unwiderstehlichen Lächeln.
Sie spürte sofort die Schmetterlinge im Bauch und nickte freudig.
„Gerne. Wohin gehen wir?“
„Lass dich überraschen“, meinte er und zwinkerte ihr geheimnisvoll zu. „Ich hole dich gegen 18 Uhr hier ab. Dann gehört der Abend nur uns beiden.“
„Ich freue mich darauf“, lächelte Danielle und zwinkerte zurück. „Wäre ich in dem blauen Kleid overdressed oder ist es okay?“
„Das wäre absolut perfekt“, erwiderte er, zog sie in seine Arme und küsste sie. Sie erwiderte seinen Kuss, und erst Chelseas Räuspern ließ das Paar erschrocken innehalten.
„Bis später“, flüsterte Matt und ließ sie nur ungern los.
Versonnen blickte sie ihm hinterher, als er in sein schnittiges schwarzes Cabriolet sprang und davonfuhr.
„Muss Liebe schön sein...“, schwärmte Chelsea und legte aufseufzend ihren Arm um die Schultern ihrer Freundin. „So wie deine Augen gerade glänzen, musst du heute Nacht einen absolut fantastischen Traum von einem gewissen jungen Mann gehabt haben. Und so wie er gelächelt hat, wird sich dieser Traum in Kürze garantiert erfüllen. Haaach, ob ich das wohl auch noch mal erleben darf?“
„Das könnte schwierig werden“, erwiderte Dean und zwängte sich mit dem Surfbrett unterm Arm an den beiden Frauen vorbei. „Mit deinem losen Mundwerk schlägst du jeden Interessenten binnen kürzester Zeit in die Flucht.“
„Eigenartig“, schoss Chelsea schlagfertig zurück. „Dich bin ich damit jedenfalls noch nicht losgeworden.“
„Ich bin ja auch nicht interessiert, Süße“, grinste er und sofort erschienen die niedlichen Grübchen auf seinen Wangen.
„Na, welch ein Glück!“ Beleidigt rollte Chelsea mit den Augen.
„Hey“, lachte Danielle und stieß sie leicht in die Seite. „Wie sagt man so schön: Was sich neckt, das liebt sich.“
Entrüstet blickte Chelsea sie an.
„Ich? - Ihn? – Wie kommst du denn darauf? Nie im Leben!“
*
Randy und Kim waren gleich nach dem Frühstück losgezogen, um bei Becky vorbeizuschauen. Sie hatten Glück, im Coffeeshop war um diese Zeit noch nicht allzu viel los, und die Wirtin setzte sich für einen Moment zu ihnen an den Tisch.
„Wir wollten dich etwas fragen“, begann Randy ohne Umschweife, nachdem er Becky mit Kim bekannt gemacht hatte.
„Was gibt es denn so Wichtiges? Na komm schon, immer heraus mit der Sprache.“
„Na ja, die Sache ist die…“ Er blickte zu Kim hinüber, doch die sah nicht aus, als wollte sie das Wort ergreifen, dazu war sie viel zu verlegen. Also blieb es Randy überlassen, ihr Anliegen vorzubringen. „Es geht um Folgendes, Becky: meine Freundin hier ist erst seit kurzem in der Stadt, und sie hat noch keinen Job gefunden, so dass sie sich kein eigenes Zimmer leisten kann. Und Mitchs Haus ist momentan vermietet bis unters Dach. Na ja, also wollten wir dich fragen...“
„Ja?“ Gespannt lächelnd hob Becky die Augenbrauen hoch. „Was, Randy?“
„Du hast doch dieses kleine Zimmer hier über dem Shop. Könntest du, ich meine, würdest du es Kim vielleicht eine Zeitlang überlassen?“
Etwas überrascht sah Becky von einem zum anderen. Ihr Blick blieb an dem jungen Mädchen hängen. Wie alt mochte sie sein? Sie sah jedenfalls noch sehr jung aus, fast zu jung...
„Ich hoffe, du bist volljährig?“, sprach sie ihre Gedanken aus.
Kim nickte hastig.
„Ich bin zwanzig, Misses Myers.“
„Ah ja“, nickte Becky, und obwohl sie ihre berechtigten Zweifel an dieser Aussage hatte, lächelte sie. Die Kleine war ihr sympathisch. „Bitte nenn mich Becky, wie alle hier.“
Kim nickte erneut, und man sah ihr die Anspannung deutlich an.
„Also gut.“ Die Wirtin stand auf und vollführte eine einladende Handbewegung zur Treppe hinüber. „Dann wollen wir uns das Zimmer mal anschauen. Aber ich warne dich, es ist wirklich nicht groß. Eher so eine Art Abstellkammer.“
Kim starrte sie ungläubig an und drückte Randys Hand. Dann glitt ein erleichtertes Lächeln über ihr Gesicht
„Das macht überhaupt nichts, Misses... ähm, Becky. Ich bin nicht anspruchsvoll. Nur… Da wäre noch eine Kleinigkeit.“
„Ja, was denn?“
„Ich bin nicht allein“, gestand Kim.
„Oh“ Beckys Blick huschte zu Randy hinüber und sie schüttelte energisch den Kopf. „Also nein, das wird entschieden zu eng...“
„Nicht ich, Becky“, lachte Randy und wies auf Kims abgetragene Jeansjacke, aus der plötzlich ein kleiner zotteliger Hundekopf mit zwei neugierigen schwarzen Knopfaugen herauslugte. „Darf ich vorstellen... Das ist Scout.“
„Oh wie süß!“, schwärmte die Wirtin sogleich und streichelte dem kleinen Hund liebevoll über den Kopf. „Ich hoffe, er ist stubenrein!“
„Ja, er macht keine Probleme“, bestätigte Kim, „Und er bellt überhaupt nicht. Sie werden gar nicht merken, dass wir da sind.“
„Na gut.“ Becky ging vor und schloss die Tür zu der kleinen Kammer auf. Randy ließ Kim vorangehen. Etwas zögernd trat sie ein und schaute sich um.
Das Zimmer war in zarten Grüntönen gehalten. Da stand ein Bett, ein etwas antik wirkender Kleiderschrank, ein kleiner runder Holztisch und ein alter, aber gemütlich aussehender Sessel.
„Wie gesagt, es ist sehr einfach“, wiederholte Becky und öffnete das Fenster. „Aber du hast von hier aus einen fantastischen Blick aufs Meer.“
„Ich finde es toll“, strahlte Kim begeistert. „Ich hatte noch nie ein eigenes Zimmer.“
Die Wirtin betrachtete sie nachdenklich. Irgendetwas stimmte mit diesem Mädchen nicht, das spürte sie. Vielleicht hatte sie in ihrem jungen Leben schon schwere Zeiten durchgemacht. Aber sie wollte nicht fragen. Wenn Kim soweit war, würde sie es ihr sicher irgendwann von selbst erzählen.
Geschickt wechselte sie das Thema.
„Meine Tochter Rayne hat hier eine Zeitlang gewohnt. Doch dann bekam sie einen Job in Santa Barbara und zog dorthin um. Seitdem steht das Zimmer mehr oder weniger leer. So...“ Sie lächelte und strich ihr nackenlanges rotblondes Haar zurück. „Ich muss wieder nach unten. Fühl dich wie zu Hause, Kim. Schau dich in Ruhe um, und wenn du etwas brauchst, dann lass es mich wissen.“
„Danke, Becky. Ach ja, und wegen der Miete...“
„Mach dir mal deswegen vorerst keine Sorgen, mein Kind. Ich bin sicher, wir werden schon eine Lösung finden.“
Nachdem die Wirtin gegangen war, ließ sich Kim mit einem Seufzer der Erleichterung aufs Bett fallen.
„Ein eigenes Zimmer, ich fasse es nicht!“
Randy lachte.
„Na siehst du, ab und zu habe sogar ich mal eine ganz brauchbare Idee. Und ich bin ziemlich sicher, dass Becky dich mag.“
„Ja, sie ist sehr nett“, stimmte Kim zu. „Hauptsache, sie versucht nicht, mich andauernd zu bevormunden.“
„Das tut sie ganz bestimmt nicht.“ Randy wandte sich zur Tür. „Ich werde jetzt verschwinden, dann kannst du dich in Ruhe einrichten. Wir sehen uns sicher später noch.“
„Warte!“
Kim sprang auf und lief auf ihn zu. Ehe er sich versah, hatte sie ihm einen Kuss auf die Wange gedrückt. „Vielen Dank für deine Hilfe!“
*
Am Nachmittag hielt Matts schwarzes Cabriolet vor Mitchs Strandhaus.
Als Danielle ihm Sekunden später die Tür öffnete, hielt er bei ihrem Anblick unwillkürlich die Luft an. Sie trug jenes nachtblaue Kleid, das er letzte Nacht in ihrem Zimmer gesehen hatte. Es umhüllte ihren schlanken Körper so perfekt, als sei es eigens für sie angefertigt worden. Ihr dunkles Haar fiel in weichen Wellen über die Schultern. Die einzigartige Farbe ihrer Augen harmonierte perfekt mit der des Kleides. Die zierlichen Goldkreolen und der dazu passende Kettenanhänger, ein Geschenk ihrer Eltern zu ihrem letzten Geburtstag, rundeten das Bild ab.
Fasziniert trat Matt näher.
„Wow… Du bist wunderschön!“
Sie lächelte und überlegte insgeheim, wann ein Mann ihr schon einmal ein solches Kompliment gemacht hatte. Die Antwort darauf blieb sie sich schuldig, denn Matt zog sie spontan mit sich fort und hielt ihr galant die Wagentür auf. „Darf ich bitten?“
Sichtlich beeindruckt nahm sie Platz.
Er schloss die Tür und setzte sich kurz darauf neben sie auf den Fahrersitz.
„Bist du bereit?“
„Nein, warte... Würdest du bitte das Verdeck öffnen?“ Sie lachte verlegen, als sie sein erstauntes Gesicht sah. „Ich bin noch niemals in einem Cabrio gefahren. Ich habe mich immer gefragt, wie das ist, wenn einem der Wind durchs Haar weht!“
Matt lächelte und sorgte mit einem Knopfdruck dafür, dass sich das Verdeck des Wagens nach hinten versenkte.
„Ich warne dich, kleine Romantikerin, der Fahrtwind wird deine tolle Frisur ruinieren.“
„Ist mir egal!“
Schnell zog sie das vorsorglich mitgenommene helle Jäckchen an, bevor sie beide fröhlich lachend losfuhren.
Matt bog auf die Küstenstraße ab, die hoch über den Felsen am Meer entlangführte.
„Na wie ist es? Hast du es dir so vorgestellt?“, rief er gegen den Fahrtwind.
Danielle genoss die Fahrt und fühlte sich einfach nur unbeschreiblich glücklich.
„Es ist herrlich!“, erwiderte sie und schloss für einen Moment die Augen. „Ein bisschen wie Fliegen!“
Die Fahrt dauerte jedoch nicht lange, und Matt lenkte den Wagen in eine kleine Seitenstraße, die direkt zum Yachthafen führte.
„So, da sind wir.“
Gespannt sah Danielle sich um.
„Was für tolle Yachten! Ist auf einem der Boote etwa ein Restaurant?“
Matt verriet nichts, lächelte nur geheimnisvoll und nahm ihre Hand.
„Komm mit.“
Er führte sie zu einer kleinen weißen Yacht. Ein freundlicher, junger Mann in blauweißer Kapitänsuniform reichte ihnen die Hand und half ihnen an Bord.
„Herzlich willkommen auf der SUNRISE!“, begrüßte er sie höflich und geleitete beide auf das mit gemütlichen Sitzmöbeln ausgestattete Deck, wo ein Steward auf sie wartete.
Der Tisch war für zwei Personen festlich gedeckt, die Champagnergläser gefüllt.
„Bitte nehmen Sie Platz. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Aufenthalt an Bord.“ Mit einem verbindlichen Lächeln entfernte er sich in Richtung der Kabine.
Kaum hatten sie sich gesetzt, wurden auch schon die Anker gelichtet. Die SUNRISE stach in See und nahm Kurs auf die bereits tief über dem Horizont stehende Sonne.
„Wir fahren in den Sonnenuntergang?“, fragte Danielle begeistert.
Er nickte.
„Ich dachte, das könnte dir gefallen.“
Bevor sie etwas erwidern konnte, trat der Steward abermals zu ihnen heran.
„Ich hoffe, es ist alles zu Ihrer Zufriedenheit, Mister Shelton“, sagte er mit einem freundlichen Lächeln.
Matt nickte.
„Danke, alles bestens. Sie können jetzt das Essen servieren.“
„Sehr wohl, Sir. Mademoiselle...“ Mit einer knappen Verbeugung in Danielles Richtung entfernte sich der Steward unter Deck.
Fassungslos schaute sie sich um.
„Matt, was hat das alles zu bedeuten? Sind wir auf diesem Boot ganz allein?"
Er zwinkerte ihr verheißungsvoll zu.
„Wäre das so schlimm?"
Sie starrte ihn an.
„Machst du Witze? Du hast es extra für uns gemietet?“
„Ich hoffe, die SUNRISE gefällt dir?“
„Ob sie mir gefällt?“ Sie lachte, immer noch etwas ungläubig darüber, dass er dies alles extra für sie arrangiert hatte. „Ich... ich bin überwältigt! Eine schneeweiße Yacht mit eigener Besatzung, ein Essen nur für uns beide, ich weiß gar nicht, was ich sagen soll!“
Matt lehnte sich entspannt zurück, glücklich darüber, dass ihm seine Überraschung gelungen war.
„Na ja, ich denke, ich habe etwas gutzumachen. Und dafür, dass die Zeit etwas knapp war, hat doch alles noch einigermaßen geklappt.“
Danielle zog die Augenbrauen hoch.
„Einigermaßen? Soll das ein Scherz sein?“ Sie strich sich tief beeindruckt ein paar widerspenstige Locken aus der Stirn und schüttelte lachend den Kopf.
„Was ist?“, fragte Matt schmunzelnd.
„Nun, wenn das hier für dich einigermaßen bedeutet, dann frage ich mich gerade, was du dir wohl einfallen lässt, wenn du mehr Zeit hast.“
Matt griff über den Tisch hinweg nach ihrer Hand und sah in ihre Augen.
„Ich hoffe, du bleibst lange genug in Sunset City, um das herauszufinden.“
*
Marina betrat das Medical Center und blieb etwas zögernd am Empfangstresen stehen.
„Kann ich Ihnen helfen?“, fragte Tilly, die diensthabende Schwester. Dann stutzte sie und kniff ungläubig die Augen zusammen.
„Misses Shelton?“
Marina nickte lächelnd.
„Ja Tilly, Sie haben sich nicht geirrt. Ich bin es.“
„Meine Güte, wir haben uns ja ewig nicht gesehen! Wohnen Sie jetzt wieder in der Stadt?“
„Nun... voraussichtlich ja. Vorläufig jedenfalls.“ Marina überlegte kurz. „Sagen Sie, Tilly, wäre es möglich, heute noch einen Termin bei Dr. Mendes zu bekommen? Wissen Sie, ich fühle mich seit Tagen nicht besonders. Ich glaube, mein Kreislauf hat die lange Reise nicht so gut verkraftet.“
Die Schwester nickte mitfühlend.
„Augenblick, ich sehe mal nach.“ Sie blätterte in ihrer Bestell-Liste und nickte dann. „Sie haben Glück, Misses Shelton. In einer halben Stunde wäre ein Termin frei, da die letzte Patientin abgesagt hat.“ Sie wies auf die gemütlichen Sitzecken, die etwas abseits vom Empfang eingerichtet waren. „Wenn Sie möchten, können Sie gleich hierbleiben. Ich hole dann Ihre Akte aus dem Archiv.“
„Danke Tilly, das ist sehr nett von Ihnen.“ Marina nickte ihr freundlich zu und setzte sich in einen der weichen Sessel.
Gedankenverloren starrte sie vor sich hin.
Irgendwie hatte sie immer gehofft, Matt würde bei ihr vorbeikommen und nach ihr sehen, nachdem sich seine erste Aufregung über ihr plötzliches Erscheinen gelegt hatte. Sie hatte es sich so sehr gewünscht, aber nichts dergleichen geschah. Vielleicht musste sie ihm einfach mehr Zeit geben, sich an den Gedanken zu gewöhnen, oder...
Oder es gab wirklich jemand anderes in seinem Leben!
Schon allein die Vorstellung, es könnte eine andere Frau so wichtig für ihn sein, wie sie es damals war, jagte ihr panische Angst ein. Während ihrer Zeit mit Mason hatte sie oft an Matt gedacht, doch nie war ihr in den Sinn gekommen, dass er sich mit einer neuen Liebe trösten könnte.
„Marina?“
Erschrocken sah sie hoch. Edward Hamilton, der Geschäftspartner und Freund ihres Ex-Ehemannes stand vor ihr und musterte sie erstaunt. Zögernd trat er näher und reichte ihr schließlich die Hand.
„Nanu, für einen Moment dachte ich, ich hätte mich geirrt, aber du bist es wirklich.“
Marina lächelte distanziert.
„Hallo Edward!“
Er deutete auf den Platz neben ihr.
„Darf ich...?“
„Natürlich.“
Neugierig forschte er in ihrem Gesicht.
„Seit wann bist du denn wieder in der Stadt?“
Sie räusperte sich etwas verlegen und zwang sich, seinem aufmerksamen Blick Stand zu halten.
„Seit gestern“, antwortete sie knapp und versuchte dann eilig das Thema zu wechseln. „Was tust du im Medical Center? Bist du krank? Du siehst etwas... gestresst aus.“
Edward nickte betrübt.
„Sophia hatte eine Fehlgeburt, sie liegt hier in der Klinik.“
„Oh Edward...“ Erschrocken über diese traurige Nachricht und mitfühlend zugleich legte sie ihm ihre Hand auf den Arm. „Das tut mir wahnsinnig
leid für euch beide! Sicher habt Ihr euch dieses Kind gewünscht.“
„Ja“, erwiderte er hastig, „Ja, das haben wir. Aber es hat nicht sollen sein.“
Er holte tief Luft und lenkte nun seinerseits das Gespräch rasch wieder von sich weg.
„Erzähl, wie ist es dir ergangen, seitdem du… Nun ja, seit du die Stadt damals verlassen hast?“
Marina lächelte gequält.
„Ich bin wieder Single, falls es das ist, was du wissen willst. Ich habe Matts Bruder verlassen.“
Edward nickte, als habe er bereits damit gerechnet..
„Ich habe sowieso nie verstanden, weshalb du...“ Er unterbrach sich, als er ihren Blick sah. „Aber lassen wir die alten Geschichten. Was hast du jetzt vor? Bleibst du in Sunset City?“
Sie zuckte mit den Schultern.
„Ich weiß es noch nicht. Wenn ich einen Job finde, vielleicht.“
„Weiß Matt, dass du wieder hier bist?“, fragte Edward unumwunden. „Hast du ihn schon gesprochen?“
Marina nickte und senkte den Blick.
„Ja, ich war bei ihm“, sagte sie leise. Sie spürte seinen prüfenden Blick und lächelte bitter. Edward verstand.
„Er wollte dich nicht sehen.“
Sie schluckte und entschloss sich, ihm die Wahrheit zu sagen. Vielleicht war es nicht verkehrt, ihn auf ihrer Seite zu haben.
„Ganz so schlimm war es nicht, aber... er will nicht mehr mit mir zusammenleben. Er betrachtet unsere Ehe ein für alle Mal als beendet.“
„Er hat eine schwere Zeit hinter sich, Marina. Du hast ihm das Herz gebrochen. Er hat dich wirklich über alles geliebt, damals.“
„Damals“, wiederholte sie wehmütig. „Das ist ja das Problem.“ Sie blickte auf und straffte die Schultern. „Darf ich dich etwas fragen?“
„Kommt darauf an“, antwortete er vage. „Was willst du denn wissen?“
„Gibt es inzwischen in Matts Leben eine andere Frau?“
Edward betrachtete sie nachdenklich.
„Solltest du ihn das nicht besser selbst fragen?“
In diesem Moment erschien eine freundlich lächelnde Sprechstundenhilfe.
„Misses Shelton? Kommen Sie bitte, Dr. Mendes erwartet Sie.“
*
Als die SUNRISE wieder im Yachthafen von Sunset City anlegte, war die Sonne in Gestalt eines glühenden Feuerballes längst hinter dem Horizont im Meer versunken. An der Stelle, wo sie untergegangen war, erinnerte nur noch ein Schimmer von dunklem Violett an die spektakuläre Farbenpracht, die das einzigartige Naturschauspiel begleitet hatte. Die Dämmerung brach unaufhaltsam über die Küstenregion herein, und über ihnen begannen bereits die ersten Sterne am endlosen Firmament zu funkeln.
Matt reichte Danielle seine Hand und half ihr von Bord. Als er den Weg zum Parkplatz einschlagen wollte, hielt sie ihn zurück.
„Kannst du den Wagen nicht einfach stehen lassen?“, bat sie. „Wir könnten ihn ja später holen. Es ist ein so schöner Abend, lass uns noch ein wenig am Strand entlang gehen.“
„Gute Idee“, stimmte er zu.
Sie zogen ihre Schuhe aus und liefen Hand in Hand durch den weichen Sand zurück. Nach einer Weile blieb Matt stehen, nahm Danielle wortlos in seine Arme und küsste sie zärtlich.
Verliebt sahen sie einander an.
„Ich kann es kaum glauben“, sagte sie leise.
„Was meinst du?“
„Vor ein paar Tagen kannte ich dich noch nicht einmal, und jetzt…“ Sie seufzte voller Sehnsucht. „Ich wünschte, das würde nie vergehen.“
Er lächelte und streichelte ihr Haar.
„Warum sollte es?“
Sie gingen weiter, vorbei am Pier, und irgendwann wies Matt auf ein schönes zweistöckiges Strandhaus mit großen Fenstern und einer herrlichen Veranda.
„Da drüben ist mein Zuhause. Darf ich dich auf einen Drink hereinbitten?“
Staunend blieb Danielle stehen.
„Du wohnst in diesem Palast?“
Er lachte und warf ihr einen vielsagenden Blick zu.
„Kein Palast. Nur ein einfaches Strandhaus, groß, hell, freundlich und... ziemlich einsam.“
Während sie Hand in Hand hinüber zum Haus gingen, bemerkte keiner von beiden, dass sie bereits seit einer ganzen Weile beobachtet wurden.
*
Mit einem unguten Gefühl saß Marina nach einer gründlichen Untersuchung schließlich wieder dem Arzt gegenüber. Nervös knetete sie ihre Hände und konnte nicht verhindern, dass sich ihre Herzfrequenz mit jeder Minute, die verstrich, beängstigend erhöhte. Dr. Mendes hatte ihr so viele Fragen gestellt, Fragen, die sie sich hätte eigentlich schon längst selbst stellen sollen, die ihr Unterbewusstsein jedoch bislang hartnäckig verdrängt hatte.
Die Schwester kam herein.
„Die Ergebnisse der Blutuntersuchung“, sagte sie und legte dem Mediziner ein Schreiben des Krankenhauslabors auf den Tisch.
„Danke.“ Dr. Mendes las aufmerksam, was dort geschrieben stand.
„Nun sagen Sie schon, Doktor“, platzte Marina ungeduldig heraus, „Ist es das, was ich denke?“
Er blickte überrascht von seinen Unterlagen auf.
„Darf ich fragen, was Sie vermuten, Misses Shelton?“
Etwas verlegen nagte sie an ihrer Unterlippe und warf ihrem Arzt einen unsicheren Blick zu.
„Kann es sein...“ Sie schluckte hektisch, „Bin ich...“
Arthur Mendes lächelte.
„Ja, Misses Shelton, ich gratuliere Ihnen, Sie sind schwanger.“
„Oh nein...“, stöhnte Marina gequält, während sie das Gefühl hatte, ihr Magen krampfe sich zu einer riesigen Eisenkugel zusammen.
Der Arzt sah sie aufmerksam an. Wie ein Häufchen Unglück hockte sie ihm gegenüber in ihrem Sessel und begann leise zu weinen.
Arthur stand auf, ging um seinen Schreibtisch herum und legte seine Hände auf ihre zuckenden Schultern.
„Aber Sie müssen es doch bereits geahnt haben, sonst hätten Sie mich eben bestimmt nicht so direkt gefragt?“, sagte er und reichte ihr ein Kleenex.
Marina nickte stumm und tupfte die Tränen aus ihren Augen.
„Ich habe versucht, es die ganze Zeit zu ignorieren“, gab sie zu. „Obwohl alle Anzeichen dafürsprachen.“ Zitternd versuchte sie sich zu fassen und atmete tief durch. „Wie weit ist es, Doktor?“
Er zog nachdenklich die Stirn in Falten.
„Ich denke, ungefähr Ende des zweiten Monats. So genau lässt sich das auf Anhieb nicht sagen. Aber durch weitere Untersuchungen...“
Abrupt stand sie auf.
„Nicht nötig. Ich glaube, ich kann mir den Termin selbst am besten ausrechnen. Danke, Dr. Mendes, dass Sie Zeit für mich hatten“, brachte sie hervor, krampfhaft bemüht, ihre Gefühle wieder in den Griff zu bekommen. Hektisch wandte sie sich zum Gehen.
„Misses Shelton...“ Spontan trat Arthur einen Schritt auf sie zu. „Was werden Sie jetzt tun? Werden Sie das Kind behalten?“
Mit zusammengepressten Lippen sah sie ihn an.
„Wie Ihnen ja sicher bekannt ist, stamme ich aus einer streng kirchlichen Familie. Meine Erziehung lässt mir keine andere Wahl.“
Er nickte.
„Lassen Sie es mich wissen, wenn ich etwas für Sie tun kann“, sagte er freundlich. „Und kommen Sie auf jeden Fall in spätestens zwei Wochen wieder in meine Praxis. Dann führen wir eine Ultraschalluntersuchung durch.“ Er lächelte aufmunternd. „Glauben Sie mir, wenn Sie Ihr Baby das erste Mal auf dem Monitor gesehen haben, dann werden Sie anders empfinden und sich vielleicht darauf freuen können.“
Sie nickte nur stumm, senkte den Kopf und ging schweigend hinaus.
Nachdenklich schaute Arthur Mendes ihr hinterher und überlegte, wann die liebenswerte, sanfte Marina Cortez-Shelton ihr fröhliches Lächeln verloren hatte…