Rebecca Meyers, eine sehr schlanke, freundliche Frau mit modisch kurzem dunkelblondem Haar und gütigen Augen, stand hinter der Theke und blickte neugierig auf, als einige Gäste schwatzend und offensichtlich gut gelaunt ihr Café betraten. Nachdem sie Mitch Capwell unter den Neuankömmlingen entdeckt hatte, eilte sie sofort hinter ihrem Tresen hervor und schloss ihn herzlich in die Arme.
„Mitch!“
„Hallo Becky!“
Er hob sie hoch und schwenkte die fast Fünfzigjährige herum wie ein junges Mädchen, was sie mit einem übermütigen Lachen quittierte.
Nachdem er sie wieder abgesetzt hatte, hielt sie eine Armlänge von sich entfernt und strahlte sie geradezu entwaffnend an. „Lass dich anschauen! Du wirst immer jünger. Wie machst du das bloß?“
„Das liegt sicher an meinen berühmt-berüchtigten Hot Dogs, du Charmeur“, erwiderte sie lachend und befreite sich aus seinen Armen. „Schön, dass du wieder in der Stadt bist.“ Ihr Blick verweilte auf den jungen Leuten in seiner Begleitung. „Und wie ich sehe, bist du nicht allein zurückgekommen.“
„Als ich das letzte Mal hier war, habe ich dir versprochen, dass du irgendwann meine Crew kennenlernen würdest. Alle konnte ich zwar nicht mitbringen, aber das sind Danielle, Chelsea und Dean, und sie sind ganz wild auf einen guten Kaffee und natürlich auf deine berühmten Hamburger!“
„Keine Hot Dogs?“, fragte Rebecca, von allen nur kurz Becky genannt, mit einem Augenzwinkern.
„Ähm...“ Mitch rieb sich scheinbar verlegen das Kinn. „Meine Freunde hatten vor, eventuell noch etwas länger in der Stadt zu bleiben.“
„Schäm dich, Mitch Capwell, so schlecht sind die Dinger nun auch wieder nicht“, lachte die Wirtin gutmütig und gab ihm einen freundschaftlichen Klaps, bevor sie sich an die Neuankömmlinge wandte: „Herzlich willkommen in Sunset City! Setzt euch erst einmal und ich hole den Kaffee.“
Sie nahmen Platz und sahen sich in dem kleinen Lokal um. Becky war es gelungen, eine urgemütliche Atmosphäre zu schaffen, indem sie Altes und Neues gekonnt miteinander kombinierte. Die gesamte Ausstattung passte perfekt zu ihrem eigenen sympathischen Wesen.
Massive Holztische und dazu passende, bequeme Stühle mit dicken, weichen Kissen luden zum Verweilen ein. Die Mitte des Raumes zierte ein riesiger ausgedienter Wegweiser, dessen alte verwitterte Holzpfeile in die verschiedenen Himmelsrichtungen zeigten und den Weg samt Anzahl der Meilen nach Alaska, Hawaii, Mexiko und Europa wiesen.
An den Wänden ringsum hingen unzählige alte und neue Fotos der Stadt und deren Umgebung. Selbstgenähte Gardinen und auf altmodische Art sehr hübsch gestaltete Tischdecken rundeten das Bild perfekt ab und sorgten dafür, dass die Gäste sich sofort heimisch fühlten.
In Windeseile erschien Becky mit einer vollen Kaffeekanne und schenkte ein.
„Der geht aufs Haus, sozusagen zur Begrüßung.“
Dean streckte genüsslich seine langen Beine unter dem Tisch aus.
„Also ich fühl mich jetzt schon wie daheim hier“, betonte er, während Danielle und Chelsea zustimmend nickten.
„Na also, wer sagt`s denn“, grinste Mitch nicht ohne Stolz. „Ich habe doch gleich gewusst, dass es euch hier gefällt.“
Sie tranken ihren Kaffee, lachten und schwatzten übermütig und hörten aufmerksam zu, was Mitch über seine Heimatstadt zu erzählen wusste.
Kurz darauf betrat Suki das Café und sah sich suchend um. Mitch entdeckte sie als Erster und hob schnell die Hand. Zögernd trat die junge Ärztin näher.
Er strahlte sie mit einem geradezu entwaffnenden Lächeln an und rückte beiseite.
„Komm, Frau Doktor, setz dich zu uns.“
Sorgfältig auf den nötigen Abstand bedacht, folgte sie seiner Aufforderung, während sie etwas verunsichert in die fröhliche Runde lächelte.
„Habt ihr euch schon ein wenig eingelebt?“
„Aber klar“, erwiderte Chelsea. „Jetzt noch etwas gegen den Hunger und alles ist gut.“
Wie auf Stichwort erschien die Wirtin mit einem großen Tablett. Sie verteilte die appetitlich aussehenden riesigen Hamburger und blickte dann Suki abwartend an.
„Was kann ich dir bringen, meine Liebe?“
„Bitte nur Kaffee.“
„Bestell, was du möchtest, du bist eingeladen“, ließ sich Mitch sogleich vernehmen. Bevor die junge Ärztin antworten konnte, wandte er sich mit einem bedeutungsvollen Blick an Becky. „Sie wohnt bei mir. Und sie hat es wirklich geschafft, das ganze Haus zum Strahlen zu bringen.“
Die Wirtin lächelte.
„Ja, ich habe schon davon gehört. Wurde auch höchste Zeit, dass jemand dem hässlichen grauen Kasten ein wenig Leben einhaucht. Also Suki, an deiner Stelle würde ich die Einladung von Mitch annehmen. Was möchtest du? Vielleicht einen Hot Dog? Die sind heute im Angebot!“
Während alle am Tisch über diesen Insider-Scherz lachten, schüttelte Suki entschieden den Kopf.
„Danke, ich habe keinen Hunger. Ich möchte nur Kaffee.“
„Ich könnte meinen Hamburger mit dir teilen“, lenkte Mitch ein.
„Ich mag keine Hamburger.“
„Einen Salat?“
„Nein!“
„Ach komm schon, Shugar!“
„Mein Name ist Suki!“
„Shugar, sag ich doch! Also?“
„Gibst du eigentlich nie auf?“
„Nur selten. Wenn es sich lohnt, kämpfe ich wie ein Löwe.“
„Okay.“ Sie lehnte sich zurück und verschränkte demonstrativ die Arme. „Der Kampf ist aussichtslos. Trotzdem danke.“
Dean grinste.
„Nun gib schon Ruhe, Mitch, deine Charme-Masche zieht bei ihr nicht. Iss deinen Hamburger allein.“
„Wie war dein Tag in der Klinik?“, wechselte Danielle rasch das Thema, da ihr die Verlegenheit der jungen Ärztin nicht entgangen war.
„Die übliche Routine“, erwiderte diese sichtlich erleichtert. „Ein paar Badeunfälle, nur kleinere Sachen, das ist alltäglich, jetzt, wo so viele Touristen da sind. Du kannst mich ja in den nächsten Tagen mal in der Klinik besuchen, wenn dich die Arbeit interessiert.“
„Gerne“, stimmte Danielle erfreut zu.
„Darf ich auch?“, fragte Mitch und biss herzhaft in seinen Hamburger. Suki blieb ihm die Antwort schuldig, da sie soeben ihren Kaffee serviert bekam.
Die Wirtin setzte sich kurz zu den jungen Leuten und schaute neugierig in die Runde.
„Luke hat mir verraten, dass die Fluggesellschaft, für die ihr alle gearbeitet habt, in Konkurs gegangen ist. ist.“
„Ja, das stimmt leider“, nickte Dean.
„Und was habt ihr nun vor?“
„Wir machen erst einmal ausgiebig Urlaub, und danach werden wir weitersehen“, erklärte Chelsea. „Wer weiß, vielleicht gefällt es uns so gut in Kalifornien, dass wir gar nicht wieder wegwollen. Dann hat Mitch uns auf ewig am Hals.“
Sie lachten fröhlich.
„Ich finde es gut, wenn junge Leute ihr Leben in die eigenen Hände nehmen und gegebenenfalls auch bereit sind, nochmal ganz neu anzufangen“, meinte Becky. „Darf ich fragen, woher Sie alle kommen?“
„Ich bin von Haus aus ein Cowboy“, erklärte Dean.
Chelsea grinste breit.
„Das merkt man. Manchmal benimmt er sich wie Jesse James.“
„Ein glattes Vorurteil, meine Liebe. James galt als äußerst sanftmütiger Bursche“, erwiderte Dean und wandte sich wieder an Becky. „Ich stamme aus Dallas. Meine Eltern betreiben dort eine große Ranch mit einem Gestüt. Mein Vater wollte immer, dass ich Landwirt werde und das Gut übernehme. Aber das überlasse ich lieber meinem jüngeren Bruder. Ich habe andere Pläne. Irgendwann möchte ich mal meinen eigenen Laden führen. Vielleicht einen irischen Pub oder eine richtig tolle Bar. Aber dafür brauche ich noch eine Menge Kohle. Also habe ich vor drei Jahren einen Job als Flugbegleiter bei BLUE SKY angenommen.“
„Und mit dieser Fluggesellschaft ist der Knabe genau in unserer Mitte gelandet“, ergänzte Chelsea.
Becky wandte sich lachend zu ihr um.
„Und wo stammen Sie her?“
„Also mit diesem vorlauten Mundwerk kann man eigentlich nur ein New Yorker sein“, neckte Dean nun seinerseits seine ehemalige Kollegin.
„Touché Cowboy“, grinste diese kess zurück. „Ich bin tatsächlich in New York aufgewachsen, in Brooklyn, um es genau zu sagen. Nach der Highschool wollte ich zuerst Kunst studieren, hatte dann aber irgendwie keine Lust mehr dazu, denn schließlich in New York wimmelt es nur so von brotloser Kunst. Also beschloss ich mir ein bisschen was vom Rest der Welt anzusehen. Ich bewarb mich bei BLUE SKY und den Rest kennen Sie ja.“
Becky hörte aufmerksam zu, als nun auch Danielle ihre Geschichte erzählte. Die junge Frau mit den sanften bernsteinfarbenen Augen war ihr auf Anhieb sympathisch.
„Und haben Sie vor, irgendwann doch noch Medizin zu studieren?“, fragte sie schließlich.
Danielle hob etwas unschlüssig die Schultern.
„Ich bin nicht sicher. Erst einmal abwarten, wie sich alles entwickelt.“
Die Wirtin nickte ihr freundlich zu.
„Ich bin sicher, Sie werden das Richtige tun.“
„He Leute“, erklang plötzlich eine Stimme vom Eingang her. „Findet hier etwa eine Party ohne uns statt?“
Becky erhob sich lachend.
„Sieh da, Luke und Randy! Mitch, ich glaube, jetzt ist deine kleine WG komplett. Ich werde dann mal für frischen Kaffee sorgen.“
Chelsea, Dean und Danielle reckten neugierig die Hälse.
Luke trat näher und stellte ihnen den bislang unbekannten Mitbewohner vor.
Randy Walker war Mitte Zwanzig, schlank und braungebrannt. Er hatte dunkelblondes, etwas lockiges Haar und braune Augen sowie ein gewinnendes, schelmisch wirkendes Lächeln, das seinen jugendlich frischen Gesichtszügen Wärme und Freundlichkeit verlieh. Er begrüßte seine neuen Mitbewohner mit einer Selbstverständlichkeit, dass man fast den Eindruck gewinnen konnte, sie würden einander schon ewig kennen.
„Der ist ja ein richtiges Schnuckelchen“, flüsterte Chelsea Danielle zu und lachte. „Ich würde sagen, wir sind eindeutig in einer WG voller California Dreamboys gelandet.“
Luke warf die Zeitung, die er mitgebracht hatte, achtlos auf den Tisch und hielt einen kurzen Schwatz mit Becky, die neuen Kaffee brachte.
SUN NEWS entzifferte Danielle den Namen der Tageszeitung.
Als ihr Blick Sekunden später auf eines der Fotos unten auf der Titelseite fiel, durchfuhr es sie wie ein Blitzschlag: Das war doch... Matt Shelton!
Er war auf dem Bild gemeinsam mit einem japanischen Geschäftsmann zu sehen.
„Matthew Shelton landet großen Coup in Tokio“, stand darüber in dicken schwarzen Lettern.
Neugierig geworden griff sie nach der Zeitung und begann den zum Foto gehörenden Artikel zu lesen:
„Unsere Stadt kann sich glücklich schätzen. Matthew Shelton (31), Geschäftsmann aus Sunset City, ist es durch eine brillante, geschäftliche Verhandlungsstrategie gelungen, den japanischen Großindustriellen und Multimillionär Kobayashi Makoto als Hauptinvestor für ein an der Südwestküste Kaliforniens bisher einmaliges Projekt, dem Bau einer groß angelegten Ferienanlage, zu gewinnen.
In dieser Anlage sollen neben einem riesigen Hotelkomplex auch eine Einkaufspassage, eine Wellnessfarm, ein Erlebnisbad und mehrere Sportstätten entstehen.
Mit dem Bau dieses Projektes erhofft sich unsere Stadt einen stark ansteigenden Tourismusverkehr, durch den die geschwächten Haushaltskassen entscheidend aufgebessert werden könnten.
Die Stadtverwaltung von Sunset City entscheidet gemeinsam mit Mr. Hamilton und Mr. Shelton, den beiden Geschäftsführern und Hauptaktionären der Firma H&S Enterprises in einer morgen stattfindenden außerordentlichen Sitzung, wann frühestens mit dem Bau der Anlage begonnen werden kann.
Probleme bereitet derzeit noch die Sanierung des vorgesehenen Bebauungsgebietes nördlich von Sunset City, da es sich leider nicht vermeiden lässt, einige Felsenzüge zu sprengen, unter denen jedoch Ausläufer des weit verzweigten Höhlensystems vermutet werden. Aus diesem Grund hat Mr. Shelton bereits ein Geologenteam aus Los Angeles angefordert, dass in den nächsten Tagen hier eintreffen wird. Die Wissenschaftler werden sich vor Ort ein Bild davon machen, wo sich eventuell bislang unbekannte Hohlräume unter den Felsen befinden, um alles genau berechnen zu können und einer Einsturzgefahr während und nach den Sprengungen vorzubeugen.
Mr. Shelton betonte gestern in einem Interview, dass er großen Wert darauf lege, den durch den Bau der Ferienanlage entstehenden, unvermeidlichen Eingriff in die Natur so gering wie möglich zu halten. Wir begrüßen diese positive Einstellung und können nur hoffen, dass sich alle an dem Projekt Beteiligten an dieses Konzept halten werden.“
Unterzeichnet war der Artikel mit dem Namen Alexa Jenkins, Redakteurin
Danielle ließ die Zeitung sinken, lehnte sich zurück und atmete tief durch.
`Matt Shelton`, dachte sie mit wild klopfendem Herzen, `Ich bekomme dich einfach nicht aus meinem Kopf!`
*
Wütend stürmte Edward Hamilton in Matts Büro und knallte die Tageszeitung auf dessen Schreibtisch.
„Musste das sein?“, fauchte er und funkelte seinen jüngeren Geschäftspartner erbost an.
Dieser blickte erstaunt von den Papieren auf, die er gerade durchsah.
„Was meinst du?“, fragte er in ruhigem Ton.
Mit nur mühsam verhaltener Wut wies Edward auf die Zeitung.
„Das Interview, das du dieser Nervensäge vom SUN NEWS gegeben hast!“
„Was ist damit?“, erkundigte sich Matt mit Unschuldsmiene. „Ein bisschen Publicity hat noch keinem Unternehmen geschadet. Außerdem wirst du es kaum vermeiden können, die Presse auf Dauer aus einem Projekt dieser Größenordnung herauszuhalten. Besser, wir füttern sie ab und zu mit Informationen, als sie gegen uns arbeiten zu lassen, denn schreiben werden sie auf jeden Fall darüber.“
„Das meine ich nicht und das weißt du ganz genau“, knurrte Edward sichtlich frustriert. „Ich frage mich, ob es wirklich nötig war, dieses Geologenteam herzubeordern! Das verzögert den Baubeginn auf unbestimmte Zeit und kostet uns ein Vermögen!“
„Ach daher weht der Wind.“ Matt stand auf und trat zum Fenster, die Hände tief in den Hosentaschen vergraben. „Du würdest also wirklich riskieren, die Sprengungen ohne geologische Gutachten durchzuführen und damit in Kauf zu nehmen, dass bei falscher Berechnung eventuell ganze Felsenzüge zusammenrutschen?“
„Das ist doch reine Spekulation.“, warf Edward unmutig ein.
„Vielleicht, vielleicht aber auch nicht.“, beharrte Matt. „Keiner weiß, wie weit diese Höhlensysteme unterirdisch verzweigt sind. Der Schaden, der entstehen könnte, wäre nicht zu ermessen, mal ganz abgesehen von den Schwierigkeiten, die uns dann von Seiten der Umweltbehörde drohen würden. Die stehen doch dem Projekt nach wie vor mehr als skeptisch gegenüber, und ich bin, ehrlich gesagt, bis heute nicht ganz sicher, wie du es geschafft hast, die entsprechenden Unterschriften zu bekommen.“
„Ja ja...“, winkte Edward ungeduldig ab. „Zu dumm aber auch, dass wir überhaupt sprengen müssen.“
„Das lässt sich nun mal nicht vermeiden.“, erwiderte Matt. „Aber wenn wir schon ein Stück dieser fantastischen Landschaft zerstören, dann wollen wir es wenigstens professionell tun, und mit der größtmöglichen Sicherheit für alle Beteiligten.“
„Ich bin nach wie vor überzeugt davon, dass wir das genauso gut ohne dieses Geologenteam geschafft hätten.“, giftete Edward.
Unbeirrt der Einwände seines Geschäftspartners setzte sich Matt wieder an seinen Schreibtisch.
„Ich sehe noch einmal die Verträge für die morgige Sitzung durch und mache dann Feierabend. Wie ist es mit dir? Bleibst du heute länger im Büro?“, fragte er beiläufig.
Edward überlegte kurz.
„Nein, ich werde auch nach Hause fahren, damit mich meine Familie zur Abwechslung mal wieder zu Gesicht bekommt. Sophia war schon sauer auf mich, weil sie mich nicht mit nach Tokio begleiten konnte.“
„Wieso hast du sie eigentlich nicht mitgenommen?“, hakte Matt interessiert nach.
Edward schnaufte verächtlich.
„Bist du von allen guten Geistern verlassen? Anni allein war schon nervenaufreibend genug, aber sie und Sophia zusammen auf einer wichtigen Geschäftsreise, das wäre eine vorprogrammierte Katastrophe!“
Matt schüttelte lachend den Kopf.
„Du musst es ja wissen.“
„Wir sehen uns dann morgen Vormittag in dieser Stadtratssitzung.“, verabschiedete sich Edward. „Zuvor habe ich einen wichtigen Termin bei Gericht, so dass ich direkt von dort aus zur Versammlung kommen werde. Bringst du bitte alle nötigen Unterlagen mit?“
Matt nickte.
„Geht klar. Einen schönen Abend, und grüß Sophia von mir.“
„Ach übrigens …“
Edward war bereits an der Tür, als ihm noch etwas einfiel. Er drehte sich um und warf seinem Geschäftspartner einen eindringlichen Blick zu. „Könntest du nach Möglichkeit dafür sorgen, dass Anni morgen zu Hause bleibt?“
*
Immer noch zutiefst verärgert packte Edward wenig später seine Akten zusammen und verließ das Büro.
Der verdammte Zeitungsartikel und Matts konsequentes Verhalten in dieser Sache waren ihm derart in den Magen gefahren, dass er sich im Augenblick nur noch nach einem ruhigen Feierabend und einem Drink zu Hause auf seiner gemütlichen Couch sehnte. Es passte ihm ganz und gar nicht, dass der Name seines Geschäftspartners in der Zeitung noch vor seinem eigenen erwähnt wurde, obwohl er genau wusste, dass das auf jeden Fall gerechtfertigt war. Matt war in Tokio wirklich brillant gewesen, er hatte mit diesem Makoto in einer überzeugenden Art und Weise verhandelt, wie er selbst es hätte nicht besser machen können.
Eigentlich hätte er allen Grund, stolz auf seinen Schützling zu sein, schließlich hatte Matt in den vergangenen Jahren, seit er nach Sun City gekommen war, alle wichtigen Firmenangelegenheiten von ihm gelernt. Edward war von Anfang an sein Mentor und väterlicher Freund gewesen, und es hatte ihm beinahe schon Spaß gemacht, den jungen Mann aus Cambridge zu seinem gleichberechtigten Geschäftspartner auszubilden und ihn mit allen Tricks und Gesetzen der Branche vertraut zu machen.
Aber irgendwann hatte Matt aufgehört zu lernen und war aus dem Schatten seines Meisters herausgetreten, selbstbewusst, clever und seinen eigenen Prinzipien folgend. Plötzlich waren sie beide nicht mehr nur Partner, sondern auf besondere Weise irgendwie auch Rivalen.
Edward hatte noch nie eine blütenweiße Weste besessen, was seine diversen Geschäftsmethoden anging, aber von nun an musste er sich vorsehen, denn Matt ließ keinen Zweifel daran, dass er zwielichtige Geschäfte weder dulden, noch unterstützen würde, wenn er dahinter kam.
Dabei waren es gerade diese kleinen und gelegentlich auch etwas größeren Unzulänglichkeiten, die den meisten Gewinn einbrachten! Man musste lediglich zur richtigen Zeit an den richtigen Stellen ein klein wenig nachhelfen und einige Leute ab und zu mit etwas Nachdruck daran erinnern, dass sie einem noch den ein oder anderen Gefallen schuldeten.
Genau wie dieser Kerl von der Umweltbehörde, ein junger, aufstrebender Anwärter auf den Gouverneursposten von Kalifornien. Edward grinste, als er daran dachte, wie schnell dieser die entsprechenden Papiere unterzeichnet hatte, als sein Mittelsmann ihn mit diversen Fotos von einem Besuch in einem etwas umstrittenen Nachtclub dazu „ermutigte“.
Mittelsmänner dieser Art, die sich perfekt mit „Nachdruck- Angelegenheiten“ auskannten, hatte Edward genug. Seinen gut bezahlten Lakaien war kein Auftrag zu schmutzig. So füllten sich die Geschäfts- wie auch diverse Schwarzkonten auf einer Schweizer Bank.
Aber davon durfte Matt auf gar keinen Fall etwas erfahren, ein Umstand, der sich für Edward leider zusehends schwieriger gestaltete.
Und nun musste er sich zu allem Übel auch noch vor Anni in Acht nehmen!
Ausgerechnet jetzt fiel es ihrem Vater Wes Parker ein, ihr seine Anteile an der HSE zu überschreiben, was ihr ein uneingeschränktes Stimmrecht in allen Firmenangelegenheiten zusicherte. Wes selbst hatte als stiller Teilhaber bisher nie Gebrauch von diesem Stimmrecht gemacht und sich stets diskret im Hintergrund gehalten, eine Tatsache, die Edward als Hauptaktionär und Hauptstimmberechtigter natürlich nur recht gewesen war.
Was nun allerdings Annis künftige Abstimmungsweise betraf, darüber versuchte er sich erst gar keine Illusionen zu machen. Wess` nichtsnutziges Töchterlein steckte ihre Nase in alle möglichen Firmenangelegenheiten, ohne überhaupt richtig zu wissen, was sie tat. Dabei hielt sie sich doch die meiste Zeit nur im Büro auf, um in Matt Sheltons Nähe zu sein. Und egal, um welche geschäftlichen Transaktionen es künftig auch immer gehen möge, er befürchtete, sie würde sich dabei ausnahmslos auf die Seite ihres Angebeteten schlagen.
Während Edward den Wagen in der Einfahrt zu seiner prächtigen Villa in unmittelbarer Strandnähe parkte, seufzte er tief.
Warum konnte Matt nicht endlich Annis jahrelangen, peinlichen Schwärmereien für ihn nachgeben und auf diese Art dafür sorgen, dass sie ihre habgierigen Krallen künftig aus jeglichen Geschäftsunterlagen heraushielt?
Es war zum Verzweifeln!
Tief durchatmend schloss er die schwere Eingangstür auf und stolperte beim Hineingehen über mehrere große Koffer, die dort mitten im Wege standen.
„Was zum Teufel...“, fluchte er, blickte auf und sah geradewegs in die schönen, aber sichtlich kalt dreinblickenden Augen seiner Gattin.
„Hallo Edward“, begrüßte sie ihn mit eisigem Lächeln.
„Was geht hier vor, Sophia?“, verlangte er ungehalten Rechenschaft. Sie hob nur gleichgültig die Schultern und gab Rosita, der herbeieilenden Haushälterin, die Anweisung, das umstehende Gepäck in den Wagen zu bringen.
„Nichts von Bedeutung, mein Lieber“, wandte sie sich an ihren Mann und fügte, schon im Hinausgehen begriffen, hinzu: „Ich verlasse dich nur.“
*
Während Luke und Randy am Strand unweit der etwas nördlich vom Pier gelegenen Strandhöhlen alles für ein zünftiges Lagerfeuer vorbereiteten, fuhr Mitch mit Chelsea und Dean zum Supermarkt. Danielle und Suki waren in der Küche damit beschäftigt, Sandwiches für den gemeinsamen Abend am Strand zu bereiten und diese in zwei große Picknick-Körbe zu verpacken.
„Wie lange bist du eigentlich schon in Sunset City?“, fragte Danielle die junge Ärztin interessiert.
„Erst seit sechs Wochen“, antwortete diese. „Nachdem ich mein Studium abgeschlossen hatte, habe ich in San Francisco an einer privaten Klinik gearbeitet.“
Danielle sah sie erstaunt an.
„San Francisco? Die Arbeit dort ist bestimmt viel interessanter als in einer Kleinstadt. Wieso bist du weggegangen?“
Suki lächelte ein wenig wehmütig.
„Dafür gab es gleich mehrere Gründe. Der Chefarzt der Privatklinik schuldete meinem ehemaligen Verlobten noch einen Gefallen und hat mich nur aus diesem Grund eingestellt. Allerdings wurde ich bei jeder Gelegenheit daran erinnert, dass ich dort mehr oder weniger geduldet war. Außer unbedeutenden Assistenzarbeiten bei diversen Schönheitsoperationen durfte ich fast nichts tun und fühlte mich ziemlich fehl am Platz“, gestand sie. „Als Jin, mein Ex-Verlobter, kürzlich einen wichtigen Posten in Tokio angeboten bekam, verlangte er von mir, ihn dorthin zu begleiten.“
„Wie kann er so etwas einfach verlangen?“, wunderte sich Danielle.
Nachdenklich lächelnd hielt Suki einen Augenblick in ihrer Tätigkeit inne.
„Jin wurde sehr konservativ erzogen und ist der Meinung, eine Frau habe ihrem Mann zu folgen, wo auch immer dieser hingeht. Aber mir gefällt es hier, ich möchte nicht weg aus Kalifornien. Als ich mich weigerte, war er sehr wütend und sorgte dafür, dass ich meine Arbeitsstelle verlor, um mich auf die Art unter Druck zu setzen. Ich löste daraufhin die Verlobung und habe San Francisco verlassen.“
Sie maß Danielle mit einem prüfenden Blick und es schien fast so, als suche sie in deren Augen nach Bestätigung. „Ich bin es leid, immer das zu tun, was andere wollen. Ich will mich als Ärztin beweisen und möchte mir aus eigener Kraft etwas aufbauen. Das war an seiner Seite unmöglich.“
Danielle nickte verständnisvoll, was die junge Ärztin sichtlich erleichtert zur Kenntnis nahm.
„Ich wollte endlich ich selbst sein. Deshalb bin ich weg. Alles andere war purer Zufall.“
„Zufall?“, hinterfragte Danielle erstaunt und Suki lächelte.
„Nun ja, ich bin von Natur aus kein sehr spontaner Mensch. Normalerweise plane ich vorher immer genau, was ich tue. Aber in diesem Fall war ich so wütend und frustriert, dass ich einfach losfuhr, ohne genau zu wissen, wohin ich wollte. Am Ende hat der Zufall entschieden. Ich fuhr in die Stadt, um in irgendeinem netten Lokal zu Mittag zu essen. Direkt vor Beckys Laden blieb mein Auto mit einem Motorschaden stehen. Tja, und da im Sunset City Memorial zufällig eine Stelle frei war, bin ich eben geblieben.“
„Lebt deine Familie in Japan?“
„Ja, in Odawara, südlich von Tokio. Meine Eltern sind nicht gerade begeistert von der Tatsache, dass ich nicht mit Jin zurück nach Japan komme, sondern von nun an für mich selbst verantwortlich sein will.“
Danielle lächelte.
„Ich kann dich gut verstehen, Suki. Deine Familie wird sich daran gewöhnen müssen, genau wie meine. Kinder werden nun mal erwachsen und gehen ihren eigenen Weg.“
Suki hielt abermals mit ihrer Tätigkeit inne.
„In unserem Land sind noch nicht alle Familien so fortschrittlich. Ich bin eine Frau, und seit meiner Geburt war alles vorprogrammiert: meine Bildung, mein Studium, meine Heirat.“ Sie seufzte. „Hier in Amerika treffen die meisten Menschen ihre eigenen Entscheidungen, egal ob Mann oder Frau. Ich habe viel gelernt, seitdem ich hier bin. Ich will mein Leben so leben, wie ich es für richtig halte und will allein herausfinden, was gut für mich ist, ohne dass es mir immer vorgeschrieben und vorbestimmt wird.“
Einen Augenblick lang sah Danielle die junge Ärztin nachdenklich an.
„Du tust das Richtige, glaub mir“, sagte sie dann voller Überzeugung.
Suki lächelte dankbar.
„Es ist nicht leicht, plötzlich auf eigenen Füßen zu stehen. Aber es ist trotzdem ein tolles Gefühl. Jeder Tag ist eine neue Herausforderung, ohne dass man vorher weiß, was morgen sein wird.“
„Ob du es glaubst oder nicht“, erwiderte Danielle, „aber genau aus diesem Grunde bin ich auch hier.“
„Na, Ihr zwei Abenteurer, dann wollen wir euch mal nicht enttäuschen!“, lachte Mitch, der unbemerkt hinzugetreten war.
„He, hast du uns etwa belauscht?“, fragte Suki sichtlich entrüstet.
Er hob abwehrend die Hände.
„So etwas würde ich niemals tun.“
Als er ihren skeptischen Blick sah, lachte er schelmisch und legte seinen Arm um ihre Schultern.
„Na los, beeilt euch, gleich geht die Sonne unter. Wir wollen doch heute das Schicksal herausfordern, nicht wahr, Frau Doktor?“
„Ohne mich“, meinte Suki entschlossen und trat einen Schritt beiseite, um sich seiner Umarmung zu entziehen.
„Ach komm schon...“, bat er in gespielter Verzweiflung. „Ich verspreche auch, ich werde nicht von deiner Seite weichen und garantiert der erste Mensch sein, der dir am Ende des Piers begegnet.“
„Genau das befürchte ich ja gerade“, entgegnete Suki schlagfertig.
„Was ist das für eine Legende?“, fragte Danielle interessiert.
„Man erzählt sich, dass der erste Mensch, der einem draußen am Ende des Piers begegnet, für einen bestimmt ist.“
„Mmh… sehr romantisch. Kann aber auch sehr schiefgehen,“ kommentierte Suki trocken.
Mitch ließ nicht locker.
„Man muss nur wachsam sein und dem Schicksal gelegentlich etwas nachhelfen! Also… kommst du nun mit?“
„Na schön“, gab sie schließlich nach. „Aber ich will kein Wort mehr von Schicksal, Legenden und dem ganzen Quatsch hören!“
Er schnappte sich den einen Picknickkorb und zwinkerte Danielle verschwörerisch zu.
„Schon klar, sie hat Angst, dass sie meinem Charme nicht widerstehen kann.“
Suki schüttelte den Kopf und tippte ihm mit dem Zeigefinger an die Stirn.
„Wohl zu lange in der Sonne gewesen?“, spottete sie und folgte ihm zur Tür.
„Und was ist mit dir, Dani?“ fragte Mitch im Hinausgehen.
„Nein danke, ich werde wohl noch etwas warten, bevor ich bereit bin, mein Schicksal herauszufordern.“
Mitch kam zurück und legte ihr vertraulich seine Hand auf den Arm.
„Er wird sich melden, da bin ich sicher.“
„Ich weiß gar nicht, wovon du sprichst“, wehrte sie augenzwinkernd ab. „Nun beeilt euch schon, ihr beiden, sonst geht die Sonne ohne euch unter! Ich werde die restlichen Sandwiches verpacken und dann nachkommen.“
Nachdem die Tür hinter Mitch und Suki ins Schloss gefallen war, trat Danielle ans Fenster und starrte gedankenverloren hinaus aufs Meer.
Schicksal? Legenden? Märchen von der großen Liebe?
Sie hatte lange Zeit an solche romantischen Dinge geglaubt, doch dann war sie leider unmissverständlich eines Besseren belehrt worden…
Entschlossen, keinen weiteren unnötigen Gedanken mehr an dieses endgültig abgeschlossene Kapitel ihres Lebens zu verschwenden packte sie die letzten Brote ein, legte sie in den Korb und wollte sich gerade auf den Weg machen, als jemand an der Eingangstür läutete...
*
Seit er vom Büro heimgekommen war, wanderte Matt ruhelos durch sein Haus. Anni hatte schon zweimal angerufen, aber er gab vor, beschäftigt zu sein. In Wahrheit verspürte er nur keine Lust, mit ihr zu reden oder einen ihrer zugegebenermaßen immer wieder einfallsreichen Verführungsversuche über sich ergehen zu lassen. Etwas Anderes nahm seine Gedanken gefangen, etwas, das erstaunlicherweise stärker war als die Vernunft, die es bisher immer wieder geschafft hatte, jedes andere Gefühl erfolgreich aus seinem Kopf zu verdrängen. Dieses Mal jedoch hatte sie keine Chance, dafür sorgte die überdeutliche Erinnerung an ein Paar einzigartige, bernsteinfarbene Augen und ein zauberhaftes Lächeln, das er immer wieder aufs Neue vor sich sah.
Schließlich tauschte er seine geschäftsmäßige Kleidung gegen bequeme Jeans, Shirt und Lederjacke und machte sich auf den Weg hinunter zum Strand.
Die untergehende Sonne verzauberte den Himmel über dem Horizont in eine gigantische und märchenhaft anmutende rötlich, orange und violett getönte Farbenpalette, und das ruhig im warmen Abendwind vor sich hin wogende Meer in einen gleißenden Teppich aus funkelndem… Bernstein?
Matt atmete tief durch, und ohne sich überhaupt dessen bewusst zu sein, schlug er bereits den Weg zu Mitchs Haus ein.
Erst kurz davor blieb er zögernd stehen.
`Wenn es dir ernst ist, und du sie wiedersehen willst, dann melde dich bei mir. Ich weiß, wo sie zu finden ist!`, hörte er seinen Freund in Gedanken sagen, als er sich im Flieger von ihm verabschiedet hatte.
Danielle gehörte zu seiner Crew, und deshalb wusste er natürlich, wohin sie nach der Schließung von BLUE SKY gegangen war.
Aber was sollte ihm diese Information bringen? Schließlich konnte er ihr nicht einfach so quer durchs Land folgen, ohne zu wissen, ob sie überhaupt an einem Wiedersehen mit ihm interessiert war! Außerdem konnte er sowieso nicht hier weg. Edward würde platzen, wenn er gerade jetzt einfach verschwand, wo dieses riesige Bauprojekt, das ihnen momentan geschäftlich alles abverlangte, in die heiße Phase ging.
Und außerdem, was wusste er denn schon von dieser Frau, immerhin hatte er sie erst ein einziges Mal gesehen! Vielleicht war sie ja schon längst bei ihrem Freund, Verlobten oder Ehemann und lag glücklich in dessen Armen, während er sich hier zum Narren machte.
Andererseits, wenn sie wirklich vergeben wäre, hätte Mitch ihm bestimmt nicht seine Hilfe angeboten, um sie zu finden.
Hin- und hergerissen von seinen zwiespältigen Gefühlen stand er da und wusste sekundenlang nicht, was er tun sollte.
Die Sonne war schon fast im Meer versunken, der Himmel glühte in einem samtigen Purpur, das sich sehr bald im sternenklaren Dunkel der Nacht verlieren würde.
Genauso wie gestern im Flugzeug...
„Okay“, gab er sich schließlich einen Ruck, da er einsehen musste, dass er doch keine Ruhe finden würde. „Warum eigentlich nicht? Wo ich nun schon einmal hier bin... Es ist schließlich nur eine Frage.“
Kurzentschlossen sprang er die drei Stufen hoch zum Eingang und drückte beherzt auf den Klingelknopf.
Im Haus war alles still. Nichts schien sich zu rühren.
Enttäuscht wandte Matt sich ab und wollte bereits wieder gehen, als die Tür hinter ihm plötzlich geöffnet wurde…
*
Außer sich vor Wut befahl Edward der sichtlich aufgeregten Haushälterin, das Gepäck seiner Frau wieder nach oben zu bringen.
„Misses Hamilton geht nirgendwohin!“, fauchte er und packte Sophia fest am Arm.
„Edward, du tust mir weh!“, beklagte sie sich und versuchte vergebens, sich aus seinem Griff herauszuwinden. „Lass mich los!“
„Ich denke nicht daran!“, knurrte er böse und führte sie trotz ihrer Gegenwehr zur Treppe. „Dich muss man ja vor sich selbst beschützen! Geh nach oben, wir müssen reden!“
Er ließ sie abrupt los, so dass sie stolperte und sich in letzter Sekunde am Geländer festhalten konnte, um nicht zu stürzen. Hasserfüllt blickte sie ihrem Gatten nach, der seinerseits zur saloneigenen Bar ging und sich einen Drink eingoss, während sie sich den schmerzenden Arm rieb.
„Mistkerl!“, flüsterte sie mit tränenerstickter Stimme.
Rosita, die soeben wieder die Treppe herunterkam, hatte alles gehört und senkte verlegen den Blick, um Sophia nicht in die Augen schauen zu müssen.
„Kann ich noch etwas für Sie tun, Misses Hamilton?“, fragte sie leise mit ihrem leichten spanischen Akzent.
„Danke, Rosita“, erwiderte Sophia, sichtbar um ihre Fassung ringend. „Sie können gehen, ich brauche Sie heute Abend nicht mehr.“
„Wie Sie wünschen, Ma`m. Gute Nacht.“ Die Haushälterin war froh, sich in ihr Zimmer zurückziehen zu können. Wenn ihr Arbeitgeber wütend war, ging man ihm am besten aus dem Weg.
Erst viel später folgte Edward seiner Frau hinauf in das gemeinsame Schlafzimmer.
Sie stand am Fenster und sah hinaus. Mit Nachdruck schloss er die Tür hinter sich.
„Was zum Teufel sollte dieser Auftritt, Sophia?“
„Lass mich in Ruhe.“
„Also gut.“ Tief durchatmend zwang er sich, einen möglichst sachlichen Ton anzuschlagen. „Ich war eine Woche verreist, zudem arbeite ich von früh bis spät, damit es meiner werten Familie an nichts fehlt, und als ich endlich abends aus dem Büro heimkomme, eröffnet mir meine Frau, dass sie mich verlassen will!“ Er trat dicht hinter sie. „Warum, Sophia?“
Sie schwieg einen Augenblick, dann fuhr sie herum und funkelte ihn mit ihren smaragdgrünen Katzenaugen wütend an.
„Warum ich dich verlassen will? Das fragst du noch?“ Sie lachte verächtlich und begann, aufgebracht im Zimmer auf und abzugehen. „Ich bin ständig hier allein, tagaus, tagein, und langweile mich zu Tode. Zuerst hast du mir verboten, meine Freundin Cloe zu sehen, da sie angeblich einen schlechten Einfluss auf mich ausübt, dann hast du einfach, ohne mich zu fragen, meine kleine französische Boutique verkauft, weil es Edward Hamiltons Ehefrau angeblich nicht nötig hat, ein Geschäft zu führen und zu arbeiten.“ Sie rollte theatralisch mit den Augen. „Und als ich dich bat, mich mit nach Tokio zu nehmen, damit ich endlich einmal aus diesem Kaff herauskomme, hast du abgelehnt!“ Sie blieb stehen und machte einen Schritt auf ihn zu, wobei es aussah, als wolle sie ihn mit ihrem Zeigefinger durchbohren. „Aber die Krönung von allem, mein Lieber, ist die Tatsache, dass du stattdessen dieses Flittchen mitgenommen hast auf deine sogenannte Geschäftsreise... Annabel Claire Parker!“ Sie spie den Namen förmlich aus. Ihr ebenmäßiges Gesicht war vor Wut verzerrt und ihre Wangen gerötet. Sie warf den Kopf zurück und strich ihr gepflegtes, schulterlanges, dunkles Haar mit einer hastigen Handbewegung zurück.
Edward hob abwehrend beide Hände.
„Anni besitzt dank ihres Vaters inzwischen so viele Stimmanteile an der HSE, dass sie berechtigt ist, jeder wichtigen Transaktion beizuwohnen“, erklärte er und trat einen Schritt auf seine Frau zu, eine versöhnliche Geste, die sie jedoch sofort missverstand.
„Bleib mir vom Leibe!“
„Sophia!“, beschwichtigte er sie sichtlich entnervt. „Glaub mir, ich bin alles andere als glücklich darüber, dass Anni in der Firma herumschnüffelt, ich wäre sie lieber heute als morgen wieder los, aber bisher habe ich noch keine Möglichkeit gefunden, sie auszubooten.“
Sie lachte höhnisch.
„Das wäre doch das erste Mal, dass dem Herrn nichts Passendes einfällt, um jemanden loszuwerden! Aber egal...“, meinte sie schließlich mit einer abfälligen Handbewegung. „Mach, was du willst, ich lasse mich jedenfalls nicht länger hier einsperren!“ Sie griff nach ihrer Handtasche und ging zur Tür.
„Was zum Teufel hast du vor?“
„Ich werde im Hotel übernachten, damit du am eigenen Leibe spürst, wie das ist, wenn man hier in diesem Palast mutterseelenallein herum hockt.“
„Sei doch vernünftig!“, rief Edward und war mit einem Sprung bei ihr. „Lass uns in Ruhe darüber reden!“
„Da gibt es nichts zu reden, absolut gar nichts!“, stieß sie hervor, riss die Tür auf und lief hinaus.
Mit einem wütenden Fluch auf den Lippen folgte er ihr.
„Sophia, du wirst nirgendwohin gehen, verdammt!“, schrie er außer sich vor Zorn.
Kurz vor der Treppe drehte sie sich noch einmal um.
„Du wirst mich dieses Mal nicht daran hindern!“, keifte sie ebenso wütend zurück.
In diesem Moment blieb sie mit einem der Absätze ihrer hochhackigen Pumps in den Teppichfransen hängen, verlor das Gleichgewicht und stürzte mit einem Aufschrei die Stufen hinab.
Entsetzt musste Edward mit ansehen, wie seine Frau bewegungslos unten am Treppenansatz liegen blieb. Ihr Gesicht war bleich wie Wachs, ihre Augen geschlossen, und eine Hand lag wie schützend auf ihrem Bauch.
In diesem Moment betrat seine Tochter Caroline das Haus.
Fassungslos starrte sie erst auf ihre Mutter, die reglos am Boden lag, dann wanderte ihr Blick hinauf zu Edward, der noch immer wie erstarrt oben an der Treppe stand.
„Oh mein Gott!“, rief sie panisch. „Daddy, was hast du getan?“
Ihr Aufschrei brachte ihn zur Besinnung. Mit zitternden Knien eilte er die Treppe hinunter und sank neben Sophia auf den Boden.
„Sie ist oben gestolpert und dann...“ Er bemerkte den anklagenden Blick seiner Tochter. „Cary, du musst mir glauben, es war ein Unfall, ich hatte nichts damit zu tun!“
Aufgeschreckt durch den Lärm kam Rosita aus ihrem Zimmer geeilt.
„Mister Hamilton, was ist passiert?“
„Schnell Rosi, rufen Sie den Notarzt, meine Mutter ist gestürzt! Sie ist bewusstlos!“, befahl Caroline geistesgegenwärtig.
„Allmächtiger...“
Die streng gläubige Haushälterin bekreuzigte sich und eilte sofort zum Telefon. Mit zitternden Fingern wählte sie die Nummer der Klinik.