Gemeinsam mit Manuel Cortez fuhr Matt am Mittag zu den Strandhöhlen hinaus. Manuel klärte seinen derzeitigen Arbeitgeber über den gegenwärtigen Stand der Arbeit des Archäologen-Teams auf und legte ihm verschiedene Berechnungen vor, die diverse Sprengungen betrafen.
„Mit der nördlichsten Höhle könnt ihr bereits beginnen, die Untersuchungen sind abgeschlossen. Zu den anderen beiden Höhlen besteht keine Verbindung, also kann sie ohne Bedenken unterirdisch gesprengt werden.“
Matt nickte zufrieden.
„Gut, dann werde ich die notwendigen Schritte einleiten und dem Sprengstoffexperten Bescheid geben. Was meinst du, wie lange ihr für die anderen noch braucht?“
Manuel verzog abschätzend das Gesicht.
„Schwer zu sagen, die Untersuchung der mittleren Strandhöhle ist in den nächsten Tagen abgeschlossen. Allerdings gibt uns die südlich liegende, kleinere Höhle einige Rätsel auf.“
„Was ist mit ihr?“ erkundigte sich Matt interessiert.
„Na ja, sie ist sehr verwinkelt und reicht tiefer in den Felsen hinein, als die anderen.“ erklärte Manuel. „Diese Art von Höhlen hat meist noch eine Verbindung zu einem anderen Eingang, was aber hier bisher nicht der Fall zu sein scheint. Trotzdem… Ich kenne die Höhlen bereits seit meiner Kindheit, und ich hätte schwören können, dass da noch irgendwo so ein winziger Einschlupf war. Aber wir haben nachgesehen und nichts gefunden außer Steinen und Geröll. Ich muss mich wohl geirrt haben, oder diese Höhle ist mittlerweile eingestürzt, so dass kein Eingang mehr existiert. Auf jeden Fall wollen wir genau untersuchen, wo sich weitere Gänge befinden könnten und wie weit sie reichen, sonst bricht am Ende bei der Sprengung mehr zusammen, als uns lieb ist.“
Matt nickte.
„Tut, was nötig ist, Manuel. Bei dieser Sache ist Sicherheit und Präzision von größter Wichtigkeit. Es soll niemand zu Schaden kommen.“
Als die beiden Männer zum Wagen zurückgingen, kam ihnen Alex entgegen.
Matt begrüßte ihn mit Handschlag und betonte noch einmal, dass er sehr zufrieden mit der Arbeit des Teams sei. Alex nickte freundlich, gab sich jedoch ansonsten ziemlich reserviert und einsilbig.
„Wie geht es Danielle?“, erkundigte sich Manuel, als sie den Firmenwagen erreicht hatten. „Hat sich ihr Zustand verbessert?“
Matt schüttelte resigniert den Kopf.
„Leider nicht“, erwiderte er. „Dr. Mendes vermag auch nicht mehr zu sagen, als dass sie stabil ist. Aber sie wacht einfach nicht auf.“ Verzweiflung klang in seiner Stimme, und Alex warf ihm einen argwöhnischen Blick zu.
Dieser Mann war absolut erstaunlich! Seine Freundin lag im Koma und diese Tatsache schien ihm schwer zuzusetzen. Trotzdem traf er sich nebenbei noch mit Anni, mit der er allem Anschein nach schon geraume Zeit ein Verhältnis hatte, während Danielle in der Klinik um ihr Leben und ihre Gesundheit kämpfte!
Alex wusste beim besten Willen nicht, was er davon halten sollte. Irgendwie passte das alles gar nicht in das Bild, dass er sich bisher von Matt Shelton gemacht hatte.
´Ach was…´, sinnierte er still vor sich hin, während Matt davonfuhr, und er ihm gedankenversunken hinterher blickte. ´Irgendwann sind wir hier fertig, und dann muss ich den Rotschopf sowieso vergessen.´
Erstaunt stellte er fest, dass ihm der Gedanke daran, Anni nicht mehr zu sehen, überhaupt nicht behagte.
*
„Alles wird gut, Randy“, flüsterte Kim und griff nach der Hand ihres Freundes. „Du wirst sehen.“ Sie hoffte, er hatte das Zittern in ihrer Stimme nicht gehört, als sie gemeinsam den Gerichtssaal betraten und Hand in Hand den Gang zwischen den fast vollständig besetzten Sitzreihen hindurch nach vorn gingen.
„Randy, da sind Sie ja endlich.“ Andrew Hamilton, der eine schwarze Robe trug und trotz seiner schmächtigen Figur darin geradezu respekteinflößend wirkte, war aufgestanden und reichte dem jungen Mann die Hand. „Nehmen Sie Platz, die Verhandlung wird gleich beginnen.“
Kim nickte Randy aufmunternd zu.
„Ich setze mich zu Becky. Bis nachher.“
„Nervös?“, fragte Andrew und warf seinem Mandanten einen prüfenden Blick zu. Der schluckte krampfhaft.
„Wären Sie das an meiner Stelle etwa nicht, Mr. Hamilton?“
„Nicht, wenn ich den richtigen Anwalt hätte“, antwortete Andrew mit selbstbewusstem Gesichtsausdruck, während er seine flinken Wieselaugen immer wieder durch den Saal wandern ließ, so dass ihm keine noch so unbedeutende Bewegung entging. „Und den haben Sie, mein Junge. Wir kriegen das hin, nur keine Sorge.“
Randy fing einen finsteren Blick des Staatsanwaltes von der Nachbarbank ein und war sich dessen auf einmal nicht mehr so sicher.
James T. Baker schien seine Gedanken erraten zu haben, denn zu allem Überfluss erhob er sich von seinem Platz und kam mit einem zynischen Lächeln auf die Anklagebank zugeschlendert, die Hände lässig in den Hosentaschen vergraben.
„Nun, Herr Kollege“, sprach er Andrew direkt an. „Ich hoffe, Ihr Mandant ist bereit für ein Leben hinter Gittern?“
Andrew lächelte mit perfekt einstudierter Eiseskälte zurück.
„Warum sollte er? Sie wissen so gut wie ich, dass er nichts von dem getan hat, weswegen man ihn hier lächerlicherweise anklagt.“
„Nun denn“, entgegnete Baker gedehnt, während er auf seinen sicher sündhaft teuren Leder-Slippern vor seinem Gegenüber provokant auf und ab wippte. „Das Dumme an der Sache ist nur, dass Sie es beweisen müssen.“ Er beugte sich vor und fügte mit vor Sarkasmus triefender Stimme hämisch hinzu: „Und das können Sie nicht, Hamilton, diesmal nicht!“
„Das werden wir ja sehen, Baker“, erwiderte Andrew scheinbar unberührt und lehnte sich lässig zurück.
In diesem Augenblick öffnete sich eine Tür hinter dem Richtertisch. Die Geschworenen traten heraus und nahmen Platz, unmittelbar gefolgt von den Mitgliedern des Hohen Gerichtes, ebenfalls gekleidet in traditionell schwarze Roben.
„Verdammt“, knurrte Andrew kaum hörbar, als er sah, wer den Vorsitz hatte. „Das hat mir gerade noch gefehlt!“
Alle Anwesenden erhoben sich ehrfürchtig und Randy spürte, wie seine Knie zu zittern begannen, als er die Worte des Richters vernahm:
„Hiermit erkläre ich die Verhandlung >Der Staat Kalifornien gegen Randy Walker< als eröffnet.“
*
Crawford/Oklahoma
„Hey, Moment mal!“ Mitch hob abwehrend die Hände und blinzelte gegen die Sonne. Da stand ein schmächtig aussehendes Kerlchen mit einem ziemlich tief ins Gesicht gezogenen Basecap, die doppelläufige Schrotflinte drohend auf ihn gerichtet. Der Bursche trug eine um die Schultern viel zu große Jeansjacke, während seine Beine in alten verwaschenen Jeans und Reitstiefeln steckten. Mitch vermutete, dass er einer der Stallburschen war.
„Ich schleiche hier nicht herum, ich suche Mister und Misses Belling“, stellte er eilig klar und kam sich mit seinen erhobenen Armen total lächerlich vor. Als er sich jedoch anschickte, sie herunterzunehmen, bedeutete ihm sein Gegenüber mit einer eindeutigen Bewegung, dass er das gefälligst zu unterlassen hatte.
„Etwas eigenartig“, meinte der Bursche mit drohendem Unterton in seiner auffallend hellen Stimmlage. „Normalerweise klopft man als Besucher an der Vordertür und stielt sich nicht wie ein Dieb durch den Kücheneingang.“
„Also jetzt hör mal...“, protestierte Mitch entrüstet, doch eine erneute Bewegung mit der Schrotflinte ließ ihn sicherheitshalber verstummen.
Ärgerlich trat er einen Schritt zurück.
Der Stimme nach zu urteilen, musste der Kerl wohl noch ziemlich jung sein. Was bildete sich dieses Bürschchen eigentlich ein! Langsam wurde es Mitch zu dumm.
„Jetzt hör mal zu, du Milchbart...“, begann er, doch in diesem Moment erschien Hank von hinten auf der Bildfläche. Er stürzte sich wild entschlossen auf den Jungen und warf ihn zu Boden. Keuchend rangen die beiden miteinander. Mitch sprang beherzt hinzu und griff sich blitzschnell die Flinte.
„Schluss jetzt, sofort aufhören!“, rief er mit drohender Stimme.
Hank rappelte sich auf und zog den Burschen am Kragen mit sich hoch.
„Sag mal, was fällt dir ein, meinen Freund mit einem Gewehr zu bedrohen, du kleiner Mistkerl! Dir ist wohl der Stallgeruch zu Kopf gestiegen, he?“, knurrte er ihn an.
Der Junge schüttelte wütend seine Hand ab.
„Finger weg! Wenn Sie mich noch einmal anfassen, kriegen Sie es mit meinem Vater zu tun!“
Hank lachte höhnisch, doch Mitch kniff nachdenklich die Augen zusammen.
„Und wer ist dein Vater, wenn ich fragen darf?“
Der Junge wischte sich mit dem Handrücken über sein etwas staubig gewordenes Gesicht und trat dann mit trotziger Miene einen Schritt zurück.
„Gordon Belling, der Besitzer dieser Ranch.“ Mit einer raschen Bewegung nahm er das Basecap ab. Eine Flut langer, dunkelblonder Haare kam zum Vorschein und zwei bernsteinbraune Augen, die ihm vage bekannt vorkamen, blitzten Mitch herausfordernd an.
„Ich bin Robyn, seine Tochter.“
*
Matt arbeitete sich gerade mühselig durch einige liegengebliebene Akten, als Edward ins Büro stürmte. Er kam geradewegs vom Verhandlungsbeginn, und nach seinem grimmigen Gesichtsausdruck und der Art, wie er seinen noblen Lederaktenkoffer auf den Tisch knallte, zu schließen, schien der erste Tag wider Erwarten nicht allzu gut gelaufen zu sein.
Matt musterte ihn beunruhigt.
„Na komm, erzähl schon“, forderte er ihn auf. „Was ist schiefgelaufen?“
Edward ging schnurstracks zum Barschrank, goss sich einen Cognac ein und stürzte den Drink in einem Zug hinunter.
„So ziemlich alles“, schnaufte er und begann, unruhig im Zimmer auf und ab zu wandern. „Dieser Baker lässt nichts unversucht, Randy den Mord anzuhängen. Und zu allem Unglück hat auch noch Richter Callaghan den Vorsitz übernommen.“
„Callaghan...“, überlegte Matt laut. „Ist das nicht der, den Andrew damals, als er noch Staatsanwalt von Santa Monica war, in diesem Sensationsprozess ausgebootet hast? Als es um den Prostituiertenmord ging?“
Edward verdrehte die Augen.
„Er hat ihn nicht ausgebootet“, verbesserte er. „Er hat ihm nur in einem sehr privaten Gespräch unter vier Augen seine Inkompetenz und seine eigenen Schwächen vor Augen geführt.“ In Erinnerung daran lachte er abfällig. „Was kann ich dafür, wenn meine Leute zufällig herausfinden, dass der Kerl in demselben Bordell verkehrte wie die Ermordete! Und Andrew als loyaler Strafverteidiger kann vor solchen Sachen natürlich keinesfalls die Augen verschließen.“
Matt nickte.
„Ja, ich erinnere mich gut. Ihr habt ihn mit diesem Wissen damals schlichtweg erpresst.“
„Erpresst? Was für ein unpassendes Wort! Er war einfach in diesem Prozess voreingenommen und fehl am Platz. Das hat er ja dann auch eingesehen und den Fall abgegeben.“
„Ja.“ Matt nickte, und seine Lippen verzogen sich zu einem bitteren Lächeln. „Und nun ist seine Stunde gekommen, euch beiden das heimzuzahlen. Leider auf Randys Kosten.“
Edward machte eine unwirsche Handbewegung.
„Nun warte erst einmal ab. Noch ist nicht aller Tage Abend.“
„Was war mit Carolines Zeugenaussage?“, erkundigte sich Matt vorsichtig.
„Abgeschmettert. Baker, dieser bösartige Bastard, hat meine Tochter im Zeugenstand regelrecht zerpflückt. Er unterstellte ihr sogar, sie hätte Wes Parkers Namen nur auf meinen Rat hin genannt, um meinem ehemaligen Geschäftspartner eins reinzuwürgen!“
„Warum solltest du?“, meinte Matt erstaunt. „Ihr habt euch in bestem Einvernehmen getrennt.“
Edward schnaufte böse.
„Es passt mir angeblich nicht, dass Wes` Tochter seitdem ihre habgierigen Klauen mit in der Firma hat! Keine Ahnung, wie er auf diese absurde Idee kommt.“
„Wie dem auch sei...“ Matt massierte angespannt seine schmerzenden Schläfen. „Dann hast du ja immer noch die Aussage von diesem Brendon Finley.“
„Mh“, brummte Edward abfällig. „Davon verspreche ich mir, um es mal vorsichtig auszudrücken, auch nicht allzu viel. Im Vernehmungsprotokoll steht, dass er sich nicht erinnern kann, auch nur einen einzigen Namen in jener Nacht gehört zu haben.“ Er nahm die Flasche und goss sich einen neuen Drink ein, den er ebenso hastig trank wie den ersten. „Wir brauchen etwas Greifbares, Jemanden, der bezeugt, dass er alles gesehen hat.“
Die beiden Männer sahen einander stumm an, wohl wissend, dass dieser Jemand aller Wahrscheinlichkeit nach nicht existierte.
Edward schnaufte ungehalten und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar.
„Ach verdammt, ich gehe jetzt nach Hause und versuche, den Kopf etwas frei zu bekommen, dann sehen wir weiter.“ Er nahm seinen Aktenkoffer. „Übrigens… Wie geht es Danielle?“
„Ihr Zustand ist unverändert“, erwiderte Matt, und die bloße Erwähnung ihres Namens verursachte ihm einen schmerzhaften Stich mitten ins Herz. „Sobald ich hier fertig bin, gehe ich wieder zu ihr in die Klinik.“
Edward nickte.
„Tu das.“ Er öffnete die Tür. „Bis morgen, Matt.“
*
Crawford/Oklahoma
„Um Gottes Willen, mein armes Kind!“, rief Jill entsetzt, als Danielles Familie später vollzählig mit Mitch und Hank in der gemütlichen Wohnküche saß.
Mister und Misses Belling waren kurz nach Robyns Attacke auf die ihr unbekannten Besucher eingetroffen, nachdem sie noch schnell einige Vorräte im Ort eingekauft hatten.
Nachdem nun alle Missverständnisse geklärt waren und man die Besucher von der Westküste in angemessener Form willkommen hieß, hatte Jill Belling in aller Eile ein kleines Dinner zubereitet. Hank und Mitch, hungrig von der langen Reise, langten kräftig zu, und auch Robyn schien einen gesunden Appetit zu haben.
„Reg dich nicht auf, Mum“, grummelte sie mit vollem Mund. „Danielle ist nicht aus Watte, die wird schon wieder.“ Sie ärgerte sich insgeheim darüber, dass ihre Eltern in der Eile vergessen hatten, sie von dem bevorstehenden Besuch aus Sunset City in Kenntnis zu setzen und sie sich deshalb vorhin so unsterblich vor diesem äußerst attraktiven, jungen Mann blamiert hatte. Was mochte der bloß von ihr denken?
Jill holte tief Luft, um ihre Tochter zurechtzuweisen, doch Mitch lächelte ihr beruhigend zu.
„Ganz Recht, Mrs. Belling, Danielle ist – genau wie ihre Schwester - durch und durch eine Kämpfernatur!“
Robyn grinste und Jill lächelte geschmeichelt.
„Ja, das ist sie“, erwiderte sie mit glänzenden Augen und nickte ihrem Mann bestätigend zu. „Diese Eigenschaft haben meine Mädchen von ihrem Vater.“
Robyn verdrehte genervt die Augen und wandte sich wieder an Mitch.
„Erzählen Sie doch ein bisschen mehr von Sunset City“, forderte sie ihn auf. „Wohnen Sie wirklich mit meiner Schwester unter einem Dach?“
Mitch lachte.
„Ja, das stimmt.“ Er bemerkte Jills forschenden Blick und korrigierte seine Aussage rasch. „Genau genommen teilen wir uns das Haus unter mehreren Personen. Danielle hat Ihnen sicher davon erzählt.“
„Ja, das hat sie“, nickte Jill. „Aber soweit ich mich erinnern kann, ist das Ihr Haus, Mister Capwell.“
„Mitch“, verbesserte er lächelnd. „Bitte nennen Sie mich Mitch.“
Nachdem man sich daraufhin allgemein auf die weniger förmliche Anrede geeinigt hatte, erzählte Mitch ausführlich von seinen Mitbewohnern und dem Leben in Sunset City. Alle hörten aufmerksam zu, und er bemerkte, dass Robyn förmlich an seinen Lippen hing.
Jetzt, nachdem sie sich geduscht und umgezogen hatte, konnte er nicht umhin, festzustellen, wie hübsch sie war, obwohl sie auf den ersten Blick mit ihrer Schwester nicht allzu viel Ähnlichkeit zu haben schien. Nur die Augenpartie offenbarte die enge Verwandtschaft der beiden jungen Frauen. Robyn hatte genau wie Danielle außergewöhnlich strahlende, bernsteinbraune Augen, die ihn fast die ganze Zeit über mit unverhohlener Neugier musterten. Er schätzte sie auf Anfang Zwanzig, aber die Art, wie sie zuweilen die schön geschwungenen Lippen verzog und energisch das Kinn vorstreckte, zeugte davon, dass sie sich bereits sehr gut im Leben durchzusetzen wusste.
Ihr schulterlanges, dunkelblondes Haar hatte sie inzwischen zu einem Pferdeschwanz gebunden, der bei jeder Kopfbewegung lustig auf und ab wippte. Sie trug Jeans und eine karierte Bluse, die ihre schlanke, aber durchaus frauliche Figur sehr vorteilhaft betonte.
„Und wie ist der Freund meiner Schwester so, dieser... Wie heißt er doch gleich... Matt?“, forschte sie unbeirrt weiter, obwohl ihrer Mutter diese neugierige Fragerei peinlich zu sein schien.
„Matt Shelton?“ Mitch lachte. „Er ist groß, schlank, dunkelhaarig und sehr attraktiv, wenn es das ist, was dich interessiert, Robyn.” Er wandte sich an Gordon und Jill. „Matt ist einer meiner besten Freunde, seit er vor einigen Jahren aus England nach Kalifornien gezogen ist. Er ist Teilhaber der H&S ENTERPRISES, einer großen und bei uns im Südwesten sehr erfolgreichen Immobilienfirma.“
Gordon nickte.
„Danielle scheint ihn sehr zu mögen.“
„Ja, bei den beiden war es wohl die berühmte Liebe auf den ersten Blick ,stimmte Mitch zu. „Sie sind sich auf dem Flug von Tokio nach L.A. begegnet, sozusagen zwischen Himmel und Erde. Ich konnte die Kiste damals nur mit Mühe gerade halten, so gewaltig hat es zwischen ihnen gefunkt.“
Während alle lachten, glitzerte es in Jills Augen verdächtig.
„Oh, wie romantisch!“
Robyn räusperte sich energisch.
„Und nun sollen wir versuchen, Danielle aus dem Koma zu erwecken, indem wir sie besuchen und mit ihr reden?“
„Ja, ein Versuch ist es wert. Danielles Ärzte sind der Meinung, wenn sie die Stimmen vertrauter Menschen hört, könnte das sehr hilfreich sein.“
Hank, der bisher geschwiegen hatte, nickte bestätigend.
„Wir sollten keine Möglichkeit, ihr zu helfen, unversucht lassen.“
„Der Firmenjet der H&S steht auf dem Mignon Laird Municipal Airport von Cheyenne“, erklärte Mitch. „Wir dachten, wir könnten Sie beide morgen nach Sunset City mitnehmen.“
Gordon und Jill tauschten einen vielsagenden Blick.
„Also da gibt es ein kleines Problem“, begann Gordon zögernd. „Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, meine Herren, ich liebe meine Tochter sehr und mache mir die allergrößten Sorgen um Danielle, aber wir befinden uns hier auf einer Farm, die bewirtschaftet werden muss. Ein ziemlich großes Stück Land mit einer beträchtlichen Viehherde und einem Stall voller Pferde. Und es ist Erntezeit. Ich kann im Augenblick unmöglich hier weg, auch wenn ich das noch so gern möchte. Unsere gesamte Existenz hängt davon ab, dass dieses Anwesen funktioniert. Aber meine Frau könnte...“
„Natürlich werde ich mit nach Sunset City fliegen“, fiel ihm Jill hastig ins Wort. „Ich bin morgen früh reisefertig.“
„Und ich werde dich begleiten“, fügte Robyn wie selbstverständlich hinzu.
„Du?“ Jill ließ das Besteck, das sie in den Händen hielt, sinken. „Auf keinen Fall, Robyn! Du wirst deinem Vater auf der Farm helfen. Außerdem hast du wichtige Vorlesungen, die du nicht versäumen darfst.“
„Ach was!“ Robyn sprang auf. „Daddy hat seine Saisonarbeiter, die ihm während der Ernte hier zur Hand gehen. Er braucht mich doch gar nicht.“ Sie trat zu ihrem Vater und legte die Arme um seinen Hals, wohl wissend, dass er ihr auf diese Weise kaum eine Bitte abschlagen konnte. „Nicht wahr, Daddy? Du kommst für eine Weile auch ohne meine Hilfe ganz gut klar.“
Gordon lächelte.
„Du kannst deine Mutter gerne begleiten, vielleicht hilft es Danielle, wenn sie eure Stimmen hört und spürt, dass ihr beide bei ihr seid. Außerdem hast du doch sowieso in Kürze Semesterferien.“
„Stimmt“, grinste Robyn, bevor ihre Mutter etwas erwidern konnte. „Ich gehe nach oben und packe meine Sachen! Morgen sind wir bei Danielle, und dann wird sie ganz sicher wieder aufwachen.“
*
Den ganzen nächsten Tag lang hatte Suki sich auf Mitchs Rückkehr gefreut. Der Gedanke an ihn schien sie regelrecht zu beflügeln, und wenn sie sich unbeobachtet fühlte, sah sie sich in Gedanken wieder Arm in Arm mit ihm auf seinem kleinen Balkon stehen, wo sie gemeinsam die untergehende Sonne betrachtet und sich schließlich geküsst hatten, ein Kuss, der dem im Keller des OCEANS vor einiger Zeit in nichts nachgestanden hatte. Sie waren einander so unendlich nah gewesen, wie noch nie zuvor, seit sie sich kannten. Ein verträumtes Lächeln glitt über ihr Gesicht, während ihre Fingerspitzen den Glücksanhänger an ihrer Halskette berührten, den ihr Mitch geschenkt hatte.
Nach Dienstschluss fuhr sie zum Supermarkt und kaufte alles für ein gemütliches Abendessen zu zweit ein. Sie würde ein leckeres Chop Suey zubereiten, genauso wie Mitch es gerne mochte.
Mit zwei vollen Einkauftüten im Arm stand sie schließlich vor dem Haus und kramte mühevoll ihren Schlüssel hervor, nachdem auf ihr Klingeln niemand öffnete.
„Na prima“, murrte sie und schloss umständlich die Tür auf, bemüht, nichts von ihren Einkäufen fallen zu lassen. „Wieder einmal alle ausgeflogen.“
Zu allem Überfluss begann in diesem Moment auch noch ihr Handy zu läuten. Hastig gab sie der Tür einen Tritt, stellte ihre Taschen schnell auf dem Küchentresen ab und zog das Handy hervor, in der Hoffnung, Mitch würde sich bereits vom Flughafen melden. Am anderen Ende der Leitung jedoch ertönte eine ihr unbekannte, aufgeregt klingende Männerstimme.
„Dr. Yamada? Oh Gott sei Dank, dass ich Sie erreiche! Ich habe Ihre Handynummer im Telefonbuch meiner Frau gefunden, nachdem man mir in der Klinik sagte, Sie hätten bereits Dienstschluss.“
Suki zog erstaunt die Augenbrauen zusammen.
´Mh, eigenartig, meine Handynummer gebe ich normalerweise nicht an Patienten weiter´, dachte sie irritiert, sagte jedoch nichts, sondern suchte routinemäßig nach Stift und Notizblock.
„Und wie kann ich Ihnen helfen, Mister...“
„Smith, Antony Smith”, erwiderte der Anrufer hastig. „Meine Frau... sie ist eine Patientin von Ihnen!“
´Smith´, überlegte Suki angestrengt, das war ein sehr häufig vorkommender Name, doch ihr fiel keine Patientin ein, an die sie sich momentan erinnern konnte.
Die panische Stimme des Mannes am Telefon riss sie aus ihren Gedanken.
„Dr. Yamada, bitte... Sie müssen mir helfen, meine Frau ist gestürzt, hat große Schmerzen und kann sich nicht bewegen! Oh bitte, kommen Sie schnell!“
„Haben Sie die Ambulanz verständigt?“, fragte Suki pflichtbewusst.
„Nein, nein… noch nicht! Meine Frau vertraut nur Ihnen. Seitdem sie damals überfallen wurde, lässt sie keinen anderen Arzt an sich heran und will sich ausschließlich von Ihnen behandeln lassen.“
„Okay.“ Suki konnte sich beim besten Willen an keine Misses Smith erinnern, auf die eine solche Beschreibung passen würde. Trotzdem notierte sie sich rasch den Namen. „Wo sind Sie, Mister Smith?“
„Huntington Street 11a, das Haus am Ende der Straße! Bitte beeilen Sie sich, meine Frau hat große Schmerzen. Ich befürchte, sie wird ohnmächtig!“
„Ich bin in fünf Minuten da. Rufen Sie trotzdem in der Zwischenzeit den Notdienst an. Vermutlich brauchen wir einen Krankentransport.“
Ein voreiliges Klicken in der Leitung verriet ihr, dass der Anrufer bereits aufgelegt hatte.
Suki warf einen letzten bedauernden Blick auf ihre Einkaufstüten, dann nahm sie ihren Autoschlüssel.
Huntington Street... Das war am entgegengesetzten Ende der Stadt!
´Vielleicht ist es besser, wenn ich den Notarztwagen von unterwegs aus selbst anrufe, dann kann ich mir in der Zeit, bis sie ankommen, schon ein Bild von dem Zustand der Patientin machen´, überlegte sie, während sie in ihren Wagen sprang und eilig losfuhr.
*
Tilly nahm kurz darauf Sukis Anruf entgegen.
´Eigenartig´, dachte sie, während sie die Ambulanz ausrief. Ein Mister Smith hatte vor etwa einer halben Stunde hier angerufen und gefragt, ob Dr. Yamada noch Dienst hätte, und als sie ihm mitteilte, dass Suki bereits nach Hause gegangen sei, hatte der Anrufer einfach aufgelegt. Warum hatte er nicht gleich den Notdienst verständigt, wenn es so dringend war?
„Merkwürdige Leute gibt es.“ Tilly schüttelte missbilligend den Kopf und widmete sich weiter ihren umfangreichen, dienstlichen Aufgaben.
*
Mit quietschenden Reifen und eine dicke Staubwolke hinter sich aufwirbelnd hielt Suki wenig später am Ende der etwas abgelegenen Huntington Street. Die Straße war menschenleer und eigenartigerweise erwartete sie niemand vor besagtem letzten Haus, um sie einzuweisen.
Suki stieg aus und ging auf das Grundstück 11a zu. Es sah verlassen aus. Nichts rührte sich.
„Wirklich eine einladende Gegend“, murmelte Suki angesichts des total verwilderten Gartens, in dem das Unkraut und wild wucherndes Gestrüpp den Blick auf eventuell vorhandene Nachbarschaft gänzlich unmöglich machte. Hier war sie noch nie zuvor gewesen.
Das Gartentor stand sperrangelweit offen und der kaputte Zaun sah aus, als würde er jeden Moment in sich zusammenfallen. An der Tür war kein Namensschild.
„Mister Smith?“, rief Suki laut und vernehmlich, während sie kräftig an die Eingangstür klopfte. Knarrend gab die unverschlossene Tür nach.
Suki zögerte.
Sollte sie einfach hineingehen? Oder doch lieber auf ihre Kollegen vom Notdienst warten? Unsicher sah sie sich um.
Aber vielleicht ging es Misses Smith ja mittlerweile so schlecht, dass ihr Mann sie nicht alleine lassen wollte!
Das Pflichtbewusstsein der jungen Ärztin siegte schließlich über ihre Zweifel. Noch einmal rief sie Mister Smith` Namen, dann betrat sie, sich vorsichtig umsehend, das Haus.
Drinnen war es dunkel, es roch alt und muffig, wie lange nicht gelüftet oder... wie unbewohnt! Das spärliche Licht, das von draußen durch die schmutzigen gardinenlosen Fenster drang, warf lange gespenstische Schatten auf die Wände und das veraltet aussehende, wenig einladend wirkende Mobiliar.
Die Dielen knarrten unter Sukis Füßen, und sie erschrak fürchterlich, als kurz vor ihr ein winziger Schatten vorbeihuschte. Eine Maus!
´Vielleicht bin ich hier doch auf dem falschen Grundstück´, überlegte sie und atmete tief durch, um sich von dem Schreck zu erholen.
„Mister Smith? Wo sind Sie? Bitte antworten Sie! Ich bin es, Dr. Yamada!“
Hinter ihr knarrten die Dielen erneut.
Suki fuhr herum, doch bevor sie den Mann erkennen konnte, der plötzlich im Gegenlicht der halb geöffneten Tür stand, traf sie etwas undefinierbar Schweres am Kopf und sie sank bewusstlos zu Boden...