Als Mitch nach Hause zurückkehrte, empfing ihn lautes Stimmengewirr. Seine Mitbewohner hatten sich nach dem gemeinsamen Besuch in der Nachtbar allesamt um den Küchentisch versammelt und diskutierten leidenschaftlich über Deans und Chelseas Idee, das OCEANS zu übernehmen. Nicht alle der jungen Leute teilten die spontane Begeisterung der beiden.
„Wo wollt ihr denn so viel Geld hernehmen?“, fragte Suki äußerst skeptisch, während sie Mitchs fragendem Blick kontinuierlich auswich. „Ihr müsst den jetzigen Besitzer auszahlen und außerdem hättet ihr auch allerhand zu investieren, um den Laden in Schwung zu bringen.“
„Nein, ganz so schlimm ist das gar nicht“, widersprach Dean. „Ich habe vorhin mit dem Mann gesprochen. Der hat inzwischen ganz andere Pläne und wäre echt froh, wenn er die Bar wieder los wird.“
„Kann ich mir gut vorstellen“, grinste Luke. „Momentan ein totales Minusgeschäft.“
Chelsea winkte ab.
„Ach was, auf das OCEANS läuft ein Kredit, und wenn wir den übernehmen würden, wäre der Besitzer einverstanden und der Laden gehört uns“, erklärte sie euphorisch.
„Sonstige Investitionen halten sich in Grenzen. Es ist eigentlich alles da, es fehlen nur ein paar neue Ideen, um das Ganze etwas aufzupeppen“, fügte Dean hinzu.
„Aber ihr seid nur zwei Leute. Wie wollt ihr das schaffen?“, gab Luke zu bedenken. „Oder könnt Ihr euch Angestellte leisten?“
Betreten sahen Dean und Chelsea sich an. Dieses Problem hatten sie bislang anscheinend nicht bedacht.
„Na ja, dann müssen wir eben die doppelte Arbeit machen“, meinte Chelsea kleinlaut. „Zumindest in den ersten Wochen.“
„Also mir gefällt die Idee.“ Randy, der bisher geschwiegen hatte, nickte den beiden aufmunternd zu. „Das nenne ich Mut zum Risiko.“
Im Gegensatz dazu schien Suki überhaupt nicht begeistert von der Sache.
„Ich weiß nicht recht... Was ist, wenn es schief geht?“
Mitch trat näher.
“Wenn es schiefgeht?”, wiederholte er und sah Suki dabei bedeutungsvoll an. „Davon geht die Welt nicht unter. Ich finde, was die beiden da vorhaben, ist durchaus einen Versuch wert. Wie gesagt, es gibt nicht für alles im Leben Garantien, und wenn mal etwas nicht so läuft, wie man sich das vorgestellt hat, ist man zumindest hinterher klüger.“
Suki errötete, denn sie hatte genau verstanden, dass seine Worte nicht nur Dean und Chelsea galten. Insgeheim ärgerte sie sich über sich selbst, weil sie vorhin einfach davongelaufen war. Ganz offensichtlich hatte Mitch dieser Frau, die er anscheinend von früher kannte, nur helfen wollen.
Aber ihn zu sehen, wie er diesen attraktiven, halbnackten Rotschopf vor dem aufdringlichen Fremden beschützte, das war einfach zu viel für sie gewesen. Inzwischen schämte sie sich wegen ihrer dummen Eifersucht. Doch das würde sie um nichts in der Welt zugeben.
Danielle, die zusammen mit Matt vor wenigen Augenblicken die Küche betreten hatte, holte Suki aus ihren Gedanken zurück in die Gegenwart.
„Ich finde, er hat Recht“, stimmte sie Mitch spontan zu. „Ich kenne zwar das OCEANS noch nicht, aber was ich bisher gehört habe, klingt doch recht gut.“
„Was meinst du, Matt?“, wandte sich Dean interessiert an ihren Begleiter. „Du lebst doch bereits eine ganze Weile hier in Sun City und kennst dich aus. Ist das OCEANS einen Versuch wert?“
Matt schmunzelte.
„Die Bar gibt es schon lange und sie war jeden Abend brechend voll. Aber in den letzten Jahren ist sie einfach von den falschen Leuten geführt worden. Allesamt waren nur auf schnelles Geld aus und hatten keine Ahnung davon, worauf es ankommt. Das richtige Feeling gehört bei so einem Projekt unbedingt dazu.“
„Na, das hat Dean heute Abend bereits bewiesen“, rief Chelsea und erzählte nicht ohne Stolz von seinem gelungenen D.J.- Auftritt.
„Die Leute waren hell begeistert und haben getanzt wie schon lange nicht mehr“, fügte Randy hinzu und schnipste mit den Fingern. „So einen Nebenjob als DJ würde ich mir auch zutrauen.“
„Dann mach es doch“, spornte Luke ihn an. „Du hast sowieso schon des Öfteren nach der Arbeit im OCEANS ausgeholfen. Dann kannst du auch Dean und Chelsea zu liebe als DJ für ein die richtige Stimmung in dem Laden sorgen!“
Randy hob zunächst etwas unschlüssig die Schultern und blickte abwartend in die Runde.
„Wenn ihr wollt... Ich meine, ich könnte das auch erst einmal versuchsweise ohne Bezahlung machen, sozusagen auf Probe.“
„Natürlich!“ Chelsea strahlte. „Das wäre toll, Randy.“
„Ich würde euch auch gern in der ersten Zeit aushelfen, solange ich keinen Job gefunden habe“, erklärte sich Danielle spontan bereit.
„Mit mir könnt ihr ebenfalls rechnen“, nickte Mitch. „Ihr braucht ja sicher jemanden, der sich um die Lieferungen kümmert. Anstatt hier den ganzen Tag nur untätig herumzusitzen, könnte ich meinen alten Chevy noch ein wenig strapazieren.“
„Wow, ich fasse es nicht!“, rief Chelsea begeistert und sprang auf. „Das würdet ihr wirklich für uns tun?“ Sie blickte Dean mit glänzenden Augen an. „Ich bin sprachlos!“
„Ein äußerst seltener Zustand“, erwiderte er trocken und zwinkerte ihr schelmisch zu. An die anderen gewandt meinte er: „Ich finde es toll, dass ihr uns helfen wollt. Zumindest, bis wir ein wenig Fuß gefasst haben, und der Laden läuft, so dass wir uns ein paar Angestellte leisten können.“
Mitch hob die Schultern und lachte.
„Wozu hat man Freunde! Immerhin waren wir schon einmal eine tolle Crew.“
„Sieht ganz so aus, als ob wir das in Zukunft auch wieder sein werden“, rief Dean. „Die OCEANS-Crew!“
*
„Dann muss ich wohl ab sofort Stammgast im OCEANS werden, wenn ich dich nach Büroschluss sehen will?“, fragte Matt mit einem belustigten Funkeln in den dunklen Augen, als Danielle ihn zum Abschied an die Tür brachte. „Ansonsten könnte sich unsere Beziehung etwas schwierig gestalten.“
„Du und ich, wir haben also eine Beziehung?“, stellte sie schelmisch lächelnd die Gegenfrage.
„Nun, wie würdest du es sonst nennen, wenn ich jedes Mal Herzrhythmusstörungen bekomme, sobald ich nur deinen Namen höre?“ Matt zog sie dicht zu sich heran. „Aber wie auch immer, ich werde mir sicher etwas einfallen lassen, womit ich mein armes Herz beruhigen kann. Irgendwann ist deine Schicht zu Ende, dann hole ich dich ab und bringe dich heim... Zu dir, zu mir, wohin du willst“, flüsterte er verheißungsvoll.
Danielle kuschelte sich wohlig in seinen Arm.
„Ich werde sicher nur in den ersten Wochen aushelfen, bis der Laden richtig läuft, und die beiden sich ein oder zwei Angestellte leisten können. Und sobald in der Klinik ein Job frei wird, gibt mir Suki Bescheid.“
„In der Klinik?“
Sie nickte.
„Ich würde gern wieder in der Medizinbranche arbeiten. Dort habe ich bisher die meisten beruflichen Erfahrungen gesammelt. Und wer weiß, vielleicht erfülle ich mir meinen Traum und beginne doch noch ein Medizinstudium.“
Er sah sie nachdenklich an.
„Ein Studium? Dann sehe ich dich ja überhaupt nicht mehr.“
Sie lächelte.
„Keine Sorge, Matt. Ich hatte nicht unbedingt an ein Direktstudium gedacht. Außerdem kann ich mir momentan so ein Studium finanziell gar nicht leisten. Zuerst brauche ich einen festen Job.“
Nachdenklich geworden strich sich Matt übers Kinn.
„Mh… ich könnte dich in meiner Firma unterbringen“, schlug er vor, doch Danielle schüttelte entschieden den Kopf.
„Für dich arbeiten? Nein, das möchte ich nicht. Außerdem würde ich dann ständig Annabell Parker über den Weg laufen, und das wird mir auf die Dauer etwas zu anstrengend!“
„Die wird sich sicher bald beruhigen“, grinste er zuversichtlich. „Du kannst ja zumindest noch einmal in Ruhe über mein Angebot nachdenken.“
„Okay, das werde ich tun. Danke für den schönen Ausflug und… danke für dein Verständnis.“ Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn auf die Wange, doch damit gab er sich nicht zufrieden. Behutsam nahm er ihr Gesicht zwischen seine Hände und sah ihr tief in die Augen.
„Das heute war der schönste Tag seit unendlich langer Zeit, Danielle“, sagte er leise. „Alles ist gut. Du bist einfach wundervoll.“
Bevor sie etwas erwidern konnte, verschloss er ihre Lippen mit einem leidenschaftlichen Kuss, der ihr erneut den Atem nahm.
*
Der Besitzer des OCEANS schien es gar nicht erwarten zu können, die Bar endlich loszuwerden. Bereits am nächsten Tag traf er sich mit Dean und Chelsea beim Notar.
Nachdem die Übergabe erfolgreich abgeschlossen war, standen die beiden auf der Straße und sahen einander sprachlos an.
„Ich kann es nicht glauben, Dean“, flüsterte Chelsea. „Jetzt sind wir tatsächlich Besitzer einer Nachtbar an der kalifornischen Küste!“
Sie standen sich schweigend gegenüber, als könnten sie noch gar nicht fassen, was eben geschehen war. Nachdem sie einen Moment lang unbeweglich verharrt hatten, fielen sie sich schließlich wie auf Kommando glücklich lachend in die Arme.
Dean schwenkte Chelsea übermütig herum.
„Hey, hör auf, mir wird ja ganz schwindlig“, keuchte sie. Er setzte sie zwar ab, ließ sie aber nicht sofort los. Schweigend starrten sie einander an. Ihre Blicke verschmolzen ineinander und zum ersten Mal schien Dean zu bemerken, was für wunderschöne smaragdgrüne Augen Chelsea hatte.
`Augen zum Verlieben...`, stellte er in Gedanken versunken fest.
`Er sieht verdammt gut aus mit seinem süßen Grübchenlächeln`, schoss es Chelsea durch den Kopf.
Dean unterbrach den Zauber des Augenblickes, indem er sich verlegen räusperte. Er ließ sie los und trat einen Schritt zurück. Den Schlüssel zum OCEANS hochhaltend, meinte er unternehmungslustig: „Also, Partner, wir sollten uns vielleicht erst einmal genauer anschauen, auf was wir uns da gerade eingelassen haben.“
„Okay“, nickte Chelsea und verdrängte schnell alle anderen Gedanken. „Lass uns gehen.“
*
Am nächsten Morgen verließ Marina schon zeitig das Haus, um sich mit einer Maklerin zu treffen, die ihr verschiedene zum Verkauf stehende Wohnungen anbot. Noch am selben Vormittag entschied sie sich spontan für ein kleines, vollständig möbliertes Zweizimmer- Appartement in der Nähe des Strandes mit Blick aufs Meer. Sie handelten einen angemessenen Mietpreis aus, und als Marina am Mittag zu Hause bei ihrer Mutter eintraf, hatte sie bereits den Schlüssel zu ihrer neuen Wohnung in der Tasche.
„Das geht mir alles ein wenig zu schnell“, beschwerte sich Madame Dolores, als ihre Tochter ihr eröffnete, sie wolle sofort ihre Sachen in ihr neues Zuhause bringen. „Weshalb dieser überstürzte Auszug? Wieso suchen wir nicht erst in Ruhe ein paar hübsche Accessoires für dich aus, damit du dich dort auch wohlfühlst?“, fragte sie missbilligend. „Du weißt, du bist hier willkommen und kannst so lange bleiben, wie du möchtest! Du musst nicht Hals über Kopf...“
„Ja Mama, ich weiß“, unterbrach Marina sie mit einem nachsichtigen Lächeln, mit dem sie ihre innere Ungeduld zu verdrängen versuchte. „Aber ich möchte gern noch einmal von vorn anfangen, und dazu gehört eben auch ein eigenes Zuhause. Außerdem fiele es mir nur umso schwerer, hier auszuziehen, wenn ich mich erst wieder an mein Zimmer und an dein gutes Essen gewöhnen würde. Dann schon lieber sofort.“
Madame Dolores gab seufzend klein bei.
„Na gut, mein Kind, wie du meinst. Aber warte wenigstens, bis dein Bruder nach Hause kommt. Er kann dir helfen.“
„Einverstanden.“ Marina nahm die Hand ihrer Mutter und streichelte sie liebevoll. „Mach dir keine Sorgen, Mama, die Wohnung ist frisch renoviert und wirklich hübsch möbliert. Außerdem ist sie höchstens zehn Minuten von hier entfernt. Wir können uns sehen, sooft wir wollen.“
Später, als sie allein in ihrem Zimmer war, griff sie zum Telefon. Wenn ihr Plan gelingen sollte, musste sie schnell handeln. Sie wählte die Nummer, die sie noch immer auswendig kannte.
„Hallo Matt. Ich bin es, Marina!“
*
Nachdenklich legte Matt den Hörer wieder auf.
War es richtig gewesen, Marinas Einladung zum Abendessen anzunehmen? Sie hatte ihm eben erzählt, sie hätte eine eigene Wohnung unten am Ocean Drive und hatte ihn aus diesem Grund eindringlich gebeten, ihre Einladung für morgen Abend zum Abendessen anzunehmen, sozusagen als Entschuldigung für ihr, wie sie sagte, unmögliches Benehmen vor zwei Tagen in seinem Haus.
„Ich möchte, dass wir uns an die schönen Zeiten erinnern, die wir gemeinsam hatten und uns wie Freunde in die Augen sehen können, wenn wir uns später begegnen“, hatte sie gesagt. „Bitte Matt, gib mir die Chance, wenigstens ein bisschen von dem wieder gutzumachen, was ich dir angetan habe.“
Erst wollte er spontan ablehnen, aber ihre Worte klangen überzeugend, und es schien ihr unendlich viel daran zu liegen, alle Missverständnisse zwischen ihnen auszuräumen, so dass er schließlich um der vergangenen Zeiten willen zustimmte.
„Einverstanden Marina. Aber ich bitte dich, interpretiere nicht mehr hinein, als es ist: nämlich ein Treffen zwischen... alten Freunden.“
„Natürlich Matt“, hatte sie leise geantwortet. Leider konnte er das eisige Lächeln nicht sehen, das sich danach über ihr Gesicht zog.
„...zwischen alten Freunden…“, wiederholte sie sarkastisch, als sie aufgelegt hatte. „Wir waren ein Ehepaar, Matthew Shelton, in guten wie in schlechten Zeiten. Und genau das werden wir schon sehr bald wieder sein!“
*
Suki hatte die halbe Nacht nicht geschlafen. Zuviel ging ihr im Kopf herum, und der Hauptgrund war Mitch und sein Verhältnis zu diesem rothaarigen Vamp im Badetuch. Auch wenn die kurze Affäre, die er offen zugegeben hatte, schon geraume Zeit her war, so war doch nicht zu übersehen gewesen, wie diese Frau sich in seine Arme geworfen hatte!
Und ausgerechnet vor dem Haus seiner ehemaligen Geliebten war er stehen geblieben und hatte versucht sie zu küssen!
Bei dem Gedanken daran, wie er sie angesehen und sich ihr genähert hatte, verspürte sie jedoch sofort wieder ein angenehmes Kribbeln auf der Haut, so sehr sie das auch zu ignorieren versuchte.
Genervt verdrehte sie die Augen. Diese verdammte Gefühlsduselei! Das passierte ihr jedes Mal, wenn sie an Mitch dachte. Vom ersten Augenblick ihres Zusammentreffens hatte er einen ziemlich starken Eindruck bei ihr hinterlassen, und auch wenn sie es sich selbst nicht eingestehen wollte, so fieberte sie doch jedem Moment entgegen, in dem sie mit ihm allein war.
Gestern Abend war sie ihm beharrlich aus dem Weg gegangen, aber als sie dann später in ihrem Bett lag und über den vergangenen Abend nachgrübelte, fand sie ihr Verhalten im Nachhinein völlig übersteigert und kindisch.
Was hatte er denn Schlimmes getan?
Er hatte einer jungen Frau in einer bedrohlich scheinenden Situation geholfen, weiter nichts. Dass diese Frau nun ausgerechnet eine ehemalige Freundin war, hatte doch damit eigentlich gar nichts zu tun.
Oder hatte sie wirklich geglaubt, ein Mann wie Mitch Capwell hätte bisher wie ein Einsiedler gelebt?
Suki schüttelte den Kopf über sich selbst und stellte die Kaffeetasse auf den Tisch im Schwesternzimmer. Sie war froh, dass Mitch sie bisher nicht direkt auf den Vorfall angesprochen hatte. Heute früh war sie, ohne zu frühstücken, aus dem Haus geschlichen, um ihm nicht zu begegnen. Nun knurrte ihr der Magen, und ihre Stimmung war so ziemlich auf dem Nullpunkt.
„Also los, die Patienten warten“, sagte sie zu sich selbst, schloss ihren Kittel und machte sich auf den Weg zur Rezeption, wo ihr Tilly die erste Krankenakte reichte.
„Sophia Hamilton“, las sie halblaut. „Entlassungstag voraussichtlich heute. Na, dann wollen wir mal sehen, ob Misses Hamilton sich soweit erholt hat, um nach Hause zurückzukehren“
*
Nach einer Stunde erschien Edward Hamilton in der Klinik, um seine Frau abzuholen.
Sophia erwartete ihn bereits. Mit einem fürsorglichen Lächeln beugte er sich vor, um sie zur Begrüßung zu küssen, aber sie drehte abweisend den Kopf zur Seite, so dass seine Lippen nur ihre Wange streiften.
„Lass uns gehen“, sagte sie kühl. „Ich kann es kaum erwarten, hier heraus zu kommen.“
Edward nahm ihre Tasche und geleitete sie zum Wagen.
Während der Fahrt blieb sie einsilbig, so sehr er sich auch um ein Gespräch bemühte.
Er musterte sie mehrmals besorgt von der Seite. Sie war sehr blass und ihre Wangen wirkten eingefallen, wie nach einer langen, kräftezehrenden Krankheit.
„Rosita kann dir sofort eine schöne heiße Schokolade zubereiten, das wird dir bestimmt gut tun. Und dann machst du es dir gemütlich und ruhst dich noch etwas aus“, meinte er fürsorglich.
„Bemüh dich nicht. Es geht mir gut“, erwiderte sie distanziert und blickte angestrengt durchs Fenster hinaus auf die Straße.
Edward schluckte.
Seitdem Matt bei ihm zu Hause gewesen war und ihm klargemacht hatte, dass er sich mehr um seine Frau bemühen und ihr auf diese Art über den Verlust des Babys hinweghelfen müsse, hatte er wirklich alles getan, um das in Wut und Frustration Gesagte irgendwie wiedergutzumachen. Er war so oft wie möglich in die Klinik gefahren, hatte ihr Blumen und kleine Geschenke gebracht und versucht, ihr jeden Wunsch von den Lippen abzulesen. Aber es schien, als habe sich Sophia seit ihrem Zusammenbruch total vor ihm verschlossen, sie wirkte still und gleichgültig, fast apathisch. Er hoffte, dass sich das zu Hause in der vertrauten Umgebung ändern würde.
Doch das stellte sich leider als Irrtum heraus.
„Guten Tag, Misses Hamilton“, begrüßte Rosita die Heimkehrende an der Tür und nahm sogleich das Gepäck in Empfang. „Herzlich willkommen zu Hause!“
„Danke“, nickte Sophia. „Ich bin froh, wieder hier zu sein.“ Sie sah sich kurz um und atmete tief durch, während Edward hinter ihnen die Tür schloss.
„Ach, Rosi... einen Augenblick bitte!“
Die Haushälterin, die mit der Reisetasche schon am Treppenaufgang stand, wandte sich sofort um.
„Ja, Ma`m?“
„Bringen Sie mein Gepäck ins Gästezimmer. Und die anderen Sachen aus dem Schlafzimmer bitte auch.“
Rosita sah einen Augenblick erstaunt von einem zum anderen und nickte dann ergeben.
„Sehr wohl, Misses Hamilton.“
Fassungslos starrte Edward seine Frau an.
„Sophia, was soll das? Was willst du im Gästezimmer?“
Langsam und bedächtig drehte sie sich um und sah ihn bedeutungsvoll an, wobei sie die eine Augenbraue leicht anhob, eine ihm wohlbekannte Geste, von der er wusste, dass sie nichts Gutes bedeutete.
„Glaubst du etwa, dass ich nach all dem, was du mir unterstellt hast, noch das Bett mit dir teile? Nein, mein Lieber, ich denke gar nicht daran. Ich wohne ab jetzt im Gästezimmer, ob es dir passt oder nicht.“ Angesichts der Tatsache, dass er ganz offensichtlich nicht fassen konnte, was er da zu hören bekam, verzog sie spöttisch die perfekt geschwungenen Lippen. „Oh, keine Angst, Liebling, vor unseren Freunden werde ich natürlich weiter die treusorgende Ehefrau spielen. Aber für mich selbst fange ich ab sofort damit an, genau das Leben zu führen, das du mir ohnehin bereits unterstellt hast. Wer weiß, vielleicht gefällt es mir ja sogar.“
Überlegen lächelnd drehte sie sich um und ließ ihren Ehemann sprachlos zurück.
*
Wuuummm....
Ein lauter, dumpfer Knall ließ Bobby Hughes aus seinen Träumen hochfahren, doch bevor er die Augen richtig öffnen konnte, um zu sehen, was ihn da so abrupt aus dem Schlaf riss, wurde er von einer unbekannten, mächtigen Kraft hochgehoben. Bruchteile von Sekunden später traf ihn ein vernichtender Schlag am Kinn und schleuderte ihn durch das gesamte Zimmer. Vor seinen Augen tanzten Sterne. Er krachte auf das Sofa und versuchte keuchend hochzukommen, als ihn bereits der nächste Schlag traf. Noch während er stürzte und irgendetwas mit sich riss, was scheppernd umfiel und klirrend zerbarst, hatte er das Gefühl, sein Kopf verwandle sich in einen Wattebausch, der ihn davonfliegen ließ. Irgendwer fing ihn jedoch mit starken Armen auf, während ein weiterer Hieb ihn erbarmungslos in den Magen traf. Er krümmte sich stöhnend zusammen, und der Wattebausch verwandelte sich augenblicklich in eine schmerzende, dröhnende Masse, während Bobby hilflos auf die Knie sackte. Er kippte vornüber, seine Stirn berührte den harten Fußboden, und sein Magen rebellierte.
„Schluss, hört auf, der hat genug.“ hörte er wie aus unendlich weiter Ferne eine wohlbekannte Stimme.
„W... Wes...“, stöhnte er und spuckte Blut.
„Ganz recht, mein Freund.“
Wes Parker sah überlegen und mit kaltem Blick auf ihn hinunter. „Das war nur eine kleine Warnung, Hughes. Wenn du das nächste Mal deine dreckigen Pfoten nach meiner Tochter ausstreckst, lasse ich dich umgehend dorthin befördern, wo es mächtig nach feuchter Erde riecht, und zwar stückchenweise.“
„Ich... Wes, ich wollte doch...“
„Erspar mir die Einzelheiten, ich kann mir gut vorstellen, was du wolltest. Ich bezahle dich aber nicht dafür, dass du Anni an die Wäsche gehst, du Ratte.“ Wes packte Bobby am Hemd und zog ihn rücksichtslos hoch.
„Nicht schlagen...“, wimmerte der und hob schützend die Arme vor den Kopf.
„Nun schaut euch diesen erbärmlichen Jammerlappen an!“, höhnte Parker und kam Bobbys Gesicht ganz nahe, während hinter ihnen jemand hämisch lachte. „Ab sofort erwarte ich von dir, dass du dich ausschließlich um deinen Auftrag kümmerst! Ich will endlich Resultate sehen, Hughes, ansonsten werde ich dich mit diesen beiden Gentlemen hier etwas näher bekannt machen.“
Bobby drehte mühsam den Kopf und sah die zwei Muskelpakete, die ihm soeben derart zugesetzt hatten, dass sein gesamter Körper schmerzte. Mit verschränkten Armen standen sie breitbeinig da und grinsten ihn unverschämt an, jederzeit zu einer erneuten Prügelattacke bereit.
„Ich... habe Resultate, Wes! Das wird Sie interessieren...“, ächzte er mit zitternden Knien. Abrupt ließ Wes Parker ihn los, so dass er nach hinten taumelte und fast wieder gestürzt wäre.
„Ich höre...“
Bobby schleppte sich zur Anrichte gegenüber und griff nach dem Fax.
„Das habe ich gestern Abend... von meinem Kontaktmann aus Tokio erhalten.“ Mühsam die in seinem Inneren aufsteigende Übelkeit ignorierend reichte er seinem Auftraggeber das Blatt. Der nahm es und las mit wachsendem Interesse. Dann bedeutete er mit einer Handbewegung seinen beiden Schlägern, draußen auf ihn zu warten. Erleichtert ließ sich Bobby in den Sessel fallen und hielt sich den schmerzenden Magen.
„Na also, warum nicht gleich so.“ Zufrieden grinsend faltete Wes das Fax zusammen und ließ es in seiner Jackentasche verschwinden. „Nun müssten wir nur noch herausfinden, wo sich die Lady aufhält.“
„Hier...“, knurrte Bobby und schluckte gequält. „Sie lebt hier in Sun City. Ich habe sie selbst hier gesehen, und ich glaube, ich weiß, wo ich sie finde.“
„Gut.“ Wes lachte böse. „Was doch so eine schlagkräftige Aufmunterung ausmacht, sofort ist dein Spatzenhirn wieder einigermaßen intakt, Hughes.“ Er ging einen Schritt auf Bobby zu und beugte sich zu ihm herunter.
„Sag deinem Kontaktmann, ich werde selbst nach Tokio fliegen und diesen neuen Geschäftsführer unter die Lupe nehmen. Wenn er bereit ist, mit uns zu kooperieren, umso besser für ihn. Wenn nicht...“ Er machte eine bedeutungsvolle Pause. „In diesem Fall möchte ich, dass ihr die Kleine ausfindig macht und mit ihrer Hilfe unserem Freund im Land der Morgenröte bei seinen Entscheidungen ein wenig auf die Sprünge helft. Du solltest dich also besser mit den beiden Herren draußen vor der Tür anfreunden, ihr werdet euch künftig öfter begegnen und möglichst gut zusammenarbeiten.“
Er richtete sich wieder auf und strich sein Jackett glatt. „Und denk daran, Hughes, lass ab sofort deine dreckigen Pfoten von meiner Tochter!“
Mit glasigen Augen starrte Bobby auf die kaputte Tür, die hinter Wes Parker krachend zuschlug. Nach einer Weile stand er mühsam auf, schleppte sich ins Bad und übergab sich.
*
„Mister Shelton...“
Zitternd vor Empörung trat Ronda, Matts persönliche Assistentin, in sein Büro und schloss die Tür hinter sich. „Das lasse ich mir nicht länger bieten, das... das geht eindeutig zu weit!“
Erstaunt blickte Matt von seiner Arbeit auf und registrierte erschrocken, dass die junge Frau mühsam um ihre Fassung rang. Sie war klein und zierlich, Ende dreißig, mit kurzem brünettem Haar und braunen Rehaugen, in denen in diesem Augenblick Tränen der Wut und Empörung standen.
„Ronda, was ist denn los? Setzen Sie sich erst einmal und atmen Sie tief durch!“
Sie sank seufzend in einen der Clubsessel und strich sich mit dem Handrücken über die Stirn.
„Diese unmögliche, anmaßende Person will mir vorschreiben, wie ich meine Arbeit zu erledigen habe! Dabei hatten Sie doch bisher nie einen Grund zur Klage... Aber sie beleidigt mich, nur weil... weil ihr neuerdings ein paar lächerliche Aktienanteile der Firma gehören.“
„Anni“, begriff Matt und unterdrückte mühsam ein Stöhnen, während er aufstand und Ronda ein Kleenex reichte. „Macht Sie Ihnen wieder einmal das Leben schwer?“
Sie nickte und putzte sich geräuschvoll die Nase.
„Ich bin jetzt bereits seit fünf Jahren bei Ihnen, aber so etwas wie diese Person... Sie bringt alle Akten durcheinander, die ich mühsam sortiert habe, hackt auf meinem Computer herum und hätte um ein Haar meine gesamte Firmen- Korrespondenz gelöscht! Und mich...“ Sie schluchzte zutiefst getroffen, „...mich nennt sie eine dumme Tippse und wirft mir vor, ich sei sogar zu dämlich zum Kaffeekochen!“
Matt schüttelte den Kopf und musste sich mühsam ein Lachen verkneifen. Anni schien mal wieder in Bestform zu sein, und das noch vor dem Mittagessen.
Versöhnlich legte er seiner Assistentin die Hand auf die Schulter.
„Ihr Kaffee schmeckt ausgezeichnet, an Ihrer Arbeit ist überhaupt nichts auszusetzen und ich wüsste wirklich nicht, wie ich mich auch nur einen einzigen Tag ohne Sie hier zurechtfinden sollte“, meinte er versöhnlich. „Und genau das werde ich Miss Parker jetzt unmissverständlich klarmachen. Entschuldigen Sie mich bitte einen Moment, Ronda.“
Damit ging er hinaus und zog die Tür hinter sich zu.
Anni saß mittlerweile nicht mehr an Rondas Computer, sondern hatte es sich an Elisabeths Schreibtisch bequem gemacht. Ein Umstand, der Edwards persönlicher Assistentin, einer etwas korpulenten, ziemlich resoluten Dame um die Fünfzig, die eben in diesem Augenblick das Büro betrat, gar nicht gefiel.
„Hey“, protestierte sie sogleich aufgebracht. „Was soll denn das, Miss Parker, nehmen Sie sofort Ihre unqualifizierten Finger von meiner Tastatur!“
„Ihre Tastatur?“, lästerte Anni, ohne aufzusehen. „Schließen Sie die Augen, Lizzy, dann erkennen Sie, was in diesem Büro Ihnen gehört.“
„Also das ist doch...“ Elisabeth sog empört die Luft ein und holte bereits zum verbalen Gegenschlag aus, aber Matt bedeutete ihr durch ein eindeutiges Handzeichen, sich zu beruhigen.
Er trat hinter den Schreibtisch, fasste den Computerstuhl, auf dem Anni thronte und drehte ihn schwungvoll zu sich herum.
„Hoppla“, entfuhr es ihr erschrocken. Als sie jedoch gewahrte, dass es Matt war, der ihr gegenüberstand, hob sie trotzig das Kinn und sah den Mann ihrer Träume herausfordernd an. „Was willst du, ich habe zu arbeiten!“
Elisabeth verdrehte die Augen.
„Das ich nicht lache.“
„Ihnen wird das Lachen gleich vergehen, wenn ich nicht sofort die Dateien über das Ferienprojekt finde“, fauchte Anni.
„Diese Dateien gehen Sie nicht das Geringste an“, gab Elisabeth giftig zurück.
Anni blitzte Matt wütend an.
„Sag dieser Matrone, sie soll gefälligst den Mund halten.“
„Matrone?“, keifte Elisabeth und knallte ihre Handtasche auf den Tisch. „Das muss ich mir von Ihnen nicht sagen lassen, Sie... Sie...“
„Ruhe, verdammt nochmal!“, rief Matt in einem Befehlston, der keinen Widerspruch duldete, zog Anni mit einem Ruck von ihrem Stuhl hoch und schob sie trotz ihres Protestes gewaltsam in Edwards Büro.
Mit einem kräftigen Fußtritt schloss er die Tür und bugsierte „Miss Störenfried“ in den Sessel vor dem Schreibtisch, wo er sie so abrupt losließ, dass sie ziemlich unsanft landete.
„Aua!“
„Sag mal, bist du noch ganz bei Trost?“, wetterte er los.
„Wieso, was habe ich denn getan?“, jammerte sie schmollend wie ein Kind, dem man das Spielzeug weggenommen hat. „Du musst nicht gleich grob werden, nur weil ich diesen dämlichen Gänsen die Meinung gesagt habe.“
„Diese „Gänse“, auf denen du hier herumhackst, sind unsere treusten und verlässlichsten Mitarbeiter, und ich werde eigenhändig dafür sorgen, dass du keinen Fuß mehr in dieses Bürogebäude setzt, wenn du noch einmal deine Launen an ihnen auslässt!“
„Matt!“ Anni warf eigensinnig den Kopf zurück und blinzelte beleidigt. „Ich wollte mich nur ein wenig nützlich machen. Wenn ich endlich ein eigenes Büro und einen eigenen Computer hätte...“
Er stemmte entrüstet die Hände in die Hüften.
„Was zum Teufel willst du mit einem eigenen Büro?“
„Arbeiten“, erwiderte sie trocken.
„Und was, wenn ich fragen darf? Bisher weißt du doch gar nichts von der Firma, außer, dass sie dafür sorgt, dass du deinen aufwendigen Lebensunterhalt bestreiten kannst.“
„Dann erklär es mir, Matt“, rief sie und funkelte ihn wütend an. „Aber du verbringst ja deine Zeit lieber mit irgendwelchen arbeitslosen Fluggänsen, die sich nicht unter Kontrolle haben!“
Er holte tief Luft. Mit einiger Mühe gelang es ihm ruhig zu bleiben und ihre letzte Bemerkung zu ignorieren.
„Du willst arbeiten? Na gut... Einen Moment...“
Er verließ Edwards Büro und kam kurz darauf mit einigen Unterlagen zurück.
„Hier hast du eine Liste mit Aufträgen, die du in dieser Woche erledigen kannst. Wie du weißt, haben Edward und ich ein Team von Geologen zur Untersuchung der zu sprengenden Höhlen aus San Francisco angefordert. Sie treffen morgen in Sunset City ein. Du wirst dich als offizieller Vertreter der Firma um sie kümmern. Das sind die Unterlagen mit allen Fakten, die dir bis zu ihrer Ankunft bekannt sein sollten. Nimm sie mit nach Hause und lies dir alles aufmerksam durch. Bis morgen solltest du mit ein wenig Kompetenz glänzen, ansonsten muss ich meiner Assistentin diese Aufgabe übertragen. Ronda ist nämlich mit allen entsprechenden Details vertraut.“
„Wie schön für sie“, fauchte Anni, schnappte sich die Papiere und stolzierte zur Tür. Als sie an Matt vorüberging, veränderte sich plötzlich ihr Gesichtsausdruck. Aufreizend strich sie ihm mit den Fingerspitzen über die Wange.
„Ich erwarte dich heute Abend bei mir. Bis dahin habe ich dieses Zeug hier auswendig gelernt. Dann kannst du mich abhören!“
Matt lachte und trat demonstrativ einen Schritt zurück.
„Tut mir leid, Anni, aber ich mache heute keine Überstunden. Nicht einmal für dich. Außerdem habe ich bereits eine Verabredung.“
Mit einem unterdrückten Fauchen rauschte Anni hinaus und knallte die Tür wutentbrannt hinter sich zu.