Ein letztes Mal kontrollierte Alex an diesem Tag die Gänge der Nordhöhle, die in wenigen Minuten gesprengt werden sollte. Die Sprengladungen waren bereits von dem dafür verantwortlichen Spezialteam angebracht worden.
´Jammerschade´, dachte Alex und musterte wehmütig das im Lichtkegel seiner Taschenlampe schimmernde Felsgestein, das die Geheimnisse vergangener Jahrhunderte, ja vielleicht sogar Jahrtausende in sich barg.
´Ein weiteres Stück Naturgeschichte, das den Bauplänen eines ehrgeizigen Unternehmers zum Opfer fällt.´
Er war inzwischen fast am Ende des engen Ganges angekommen, als sich sein Messgerät, das er am Gürtel trug, plötzlich meldete. Nur ein kurzer Ton, dann war es wieder still. Erstaunt nahm er das Gerät mit Hilfe seiner Taschenlampe in Augenschein und hielt es prüfend in alle Richtungen.
Da! Ganz am Ende des Ganges schlug der Zeiger minimal aus, kaum wahrnehmbar, aber immerhin, es war eine Bewegung auf der Scala zu verzeichnen.
„Das gibt’s doch gar nicht“, murmelte Alex kopfschüttelnd und suchte weiter mit dem Gerät die Felswände ab. Sie hatten bereits alles genau vermessen und bisher nichts Verdächtiges feststellen können! Und nun das...
Wieder schlug der Zeiger kurz aus.
Vielleicht ein kleiner Hohlraum hinter dem Gestein?
Alex sah genauer nach und klopfte mit einem Hammer an verschiedenen Stellen gegen den Felsen. Aber alles war fest und wies keinerlei Risse auf, nichts deutete in irgendeiner Weise darauf hin, dass es hier Veränderungen gegeben hatte. Nicht in den letzten hundert Jahren.
Andererseits galt das Gerät als äußerst zuverlässig. Oder hatte Manuel es nicht ordnungsgemäß benutzt? In letzter Zeit wirkte er oftmals irgendwie zerstreut und abwesend...
Aber Alex war nicht der Mensch, der einem Kollegen Unzulänglichkeiten vorwarf, ohne Gewissheit zu haben. Er würde die Sache erst einmal nachprüfen.
„Mister Franklyn, bitte beeilen Sie sich“, ertönte in diesem Augenblick die Stimme des Sprengmeisters durch sein Sprechfunkgerät. „Wir müssen unseren Zeitplan einhalten!“
Alex drückte auf den Kontaktknopf.
„Einen Moment noch, ich bin gleich da.“
Er schaltete das Suchgerät aus und machte sich auf den Rückweg.
Die Männer würden mit der Sprengung warten müssen, bis Gewissheit darüber herrschte, ob sich hinter dem Felsen vielleicht doch noch irgendwo ein Hohlraum befand.
*
Der Richter klopfte mit seinem schweren Holzhammer auf den massiven Eichentisch, hinter dem das Hohe Gericht in einem breiten Podium Platz genommen hatte.
„Ruhe im Saal!“ Er nickte in Richtung des Anklägers. „Herr Staatsanwalt, darf ich um Ihr Abschlussplädoyer bitten?“
James T. Baker erhob sich.
„Natürlich, Euer Ehren!“
Langsam, sich seiner einschüchternden Wirkung voll bewusst, schlenderte er hinüber zur Bank des Angeklagten und seines Verteidigers. Er schien Randy und Andrew mit seinen Blicken förmlich zu durchbohren.
„Dieser junge Mann, meine Damen und Herren Geschworenen“, begann er mit lauter Stimme, während er mit anklagend ausgestrecktem Zeigefinger auf den Angeklagten wies „Er ist in meinen Augen der typische Wolf im Schafspelz, mag er momentan auch noch so unschuldig dreinschauen. Ich selbst blicke inzwischen auf stolze fünfundzwanzig Jahre Berufserfahrung zurück, in denen ich viel erlebt habe. Und ich habe sie alle kennengelernt: die Eiskalten, die Unbelehrbaren, die Gewalttätigen, die geistig Unzurechnungsfähigen und die sogenannten Unschuldsengel. In meinen Augen sind letztere die Schlimmsten von allen. Aber ich habe gelernt, mich nicht mehr täuschen zu lassen. Jeder von ihnen entwickelt seine ganz spezielle Taktik, um den Hals aus der Schlinge zu ziehen, wenn es brenzlig wird, und dieser hier...“ Wieder zeigte sein Finger, einer bedrohlichen messerscharfen Dolchspitze gleich, in Randys Richtung „…dieser Mann hier versucht uns allen gerade das Trugbild zu vermitteln, er könne keiner Fliege etwas zu leide tun. Aber dennoch hat er getötet, meine Damen und Herren Geschworene, er hat brutal das Leben eines Menschen ausgelöscht und hat einem jungen Mädchen den Vater genommen!“
Entrüstet wollte Kim aufspringen, doch Becky hielt sie im letzten Augenblick zurück.
„Ganz ruhig, Kleine.“ raunte Edward, der inzwischen auch zugegen war, beschwichtigend. „Der blufft nur. Mit dieser Taktik will er Randys Verteidiger aus der Reserve locken.“
James T. Baker hatte die Bewegung im Publikum sehr wohl bemerkt und grinste hämisch.
„Unbeherrscht und aggressiv. Eine gefährliche, im Falle des Angeklagten sogar tödliche Mischung, wie wir hier sehen. Und es war kein Totschlag oder Unfall mit Todesfolge, nein, werte Geschworene, es war kaltblütiger berechneter Mord.“ Selbstzufrieden nickte Baker und maß Randy wieder mit seinen giftigen Blicken, bevor er sich erneut zur Geschworenenbank umwandte. „Randy Walker wartete, bis das Opfer zu betrunken war, um sich zu wehren und lauerte ihm dann auf, um ihn durch brutale Schläge für immer zu beseitigen. Und warum? Weil dieser Mann, Roger Thorne, ein besorgter Familienvater, nach Sunset City gekommen war, um seine minderjährige Tochter nach Hause zu holen, in den sicheren Schoß der eigenen Familie, weg von dem schlechten Einfluss zwielichtiger Freunde, zu denen auch der Angeklagte gehört.“
„Das kann doch nicht wahr sein“, murmelte Kim fassungslos. „Haltet mich zurück, sonst springe ich diesem Bastard mitten in sein verlogenes Gesicht!“
Becky nickte wütend.
„Wie dieser Mann Staatsanwalt geworden ist, das wird mir ewig ein Rätsel bleiben.“
Zitternd saß Randy auf der Anklagebank und knetete nervös seine schweißnassen Hände ineinander. Während Bakers bissige Worte an ihm vorbeiplätscherten, ohne dass er auch nur annähernd fähig war, deren Sinn richtig zu erfassen, hatte er das Gefühl, als würde soeben sein schlimmster Albtraum Wirklichkeit. Die Blicke, mit denen der Staatsanwalt ihn durchbohrte, taten ihm fast körperlich weh.
Immer wieder sah er hilfesuchend zu Andrew hinüber.
Der jedoch lehnte lässig in seiner Bank und grinste spöttisch, als würde er das, was Baker an ungeheuerlichen Anschuldigungen vorbrachte, überhaupt nicht ernst nehmen. Lächelnd nickte er Randy zu und bedeutete ihm, ruhig zu bleiben. Tief in seinem Inneren jedoch kochte er vor Wut. Baker war drauf und dran, diesen Prozess zu gewinnen. Das wäre eine Katastrophe für Randy, aber noch schlimmer würde es ihn selber treffen und seinen bisher tadellosen Ruf als Anwalt, denn er galt bislang als unbesiegbar vor Gericht. Er hatte in seiner Karriere fast alle seine Mandanten freibekommen, egal, was man ihnen anlastete.
Kurz gesagt, er war brillant.
Nun, gut möglich, dass diese Ära mit der heutigen Verhandlung beendet werden würde...
Diese Vorstellung jedoch gefiel Andrew Hamilton nicht.
Ganz und gar nicht!
*
„Stefano, du musst mir helfen!“, platzte Matt atemlos in Detektiv Cortez Dienstzimmer. „Wir brauchen einen Durchsuchungsbefehl!“
„Langsam Matt.“ Stefano schob den Bericht beiseite, an dem er gerade schrieb. „Um was geht es überhaupt?“
„Um den einzigen glaubwürdigen Beweis für Randys Unschuld“, erwiderte Matt ungeduldig. „Und wenn wir uns nicht beeilen, ist die Verhandlung zu Ende, und Randy wird zu Unrecht verurteilt. Aber wenn wir uns beeilen, können wir ihn vielleicht noch retten. Ich erzähle dir alles auf dem Weg zum Büro von deinem Boss. Na los, komm schon!“
*
Chelsea und Dean hatten soeben eine neue Weinlieferung fürs OCEANS entgegengenommen und begannen, die Flaschen im Keller einzusortieren.
„Dieser alte Krempel hier stört mich“, schimpfte Chelsea und deutete auf die eingestaubten Kerzenhalter, Gläschen und Flaschen, die dort auf einem der Regale standen. „Hornalter Tischschmuck! Warum werfen wir das Zeug nicht weg, das braucht doch keiner mehr!“
Dean grinste.
„Wer weiß, vielleicht ist es wertvoll, und wir sollten es in den Antiquitätenladen schaffen“, meinte er augenzwinkernd.
„So wie das alte Sofa im Büro?“, platzte Chelsea heraus.
Dean lachte schelmisch und zog sie zu sich heran.
„Davon willst du dich doch nicht etwa trennen?“, fragte er scheinbar überrascht. „Ist das dein Ernst? Also... ich finde es ganz bequem.“
Ein Lächeln zog über ihr hübsches Gesicht und ihre grünen Augen funkelten ihn aufreizend an, während sie daran dachte, was letzte Nacht zwischen ihnen geschehen war…
Die letzten Gäste hatten kurz nach Mitternacht die Bar verlassen. Dean hatte hinter ihnen die Tür abgeschlossen, als Chelsea plötzlich die Deckenbeleuchtung herunterdrehte, ihre Arbeitsschürze ablegte und im Schein der Lichterketten, die dem Raum sein ganz eigenes, exotisches Flair gaben, hinter der Bar hervortrat. Sie trug ein sehr knappes Minikleid mit dünnen Trägern, welches Dean noch nie an ihr gesehen hatte. Langsam und aufreizend bewegte sie sich auf ihn zu, einen seltsamen Glanz in ihren grünen Augen. Ihr Haar, das bis vor wenigen Minuten zu einem praktischen Haarknoten hochgesteckt gewesen war, fiel ihr offen und seidig glänzend über die Schultern. Aus den Lautsprecherboxen der Discoanlage erklang ein Song zum Träumen.
„Schenkst du mir diesen Tanz, Partner?“, fragte sie leise, als sie unmittelbar vor ihm stand.
Ihr Anblick und der zarte Duft ihres Parfüms raubten ihm fast den Verstand, und seine Müdigkeit war im nächsten Augenblick verflogen.
„Du schaffst es doch immer wieder mich zu überraschen“, lächelte er, wobei auf seine Wangen diese zwei verführerischen Grübchen erschienen, die Chelsea so an ihm gefielen.
Er zog sie sacht in seine Arme und sie begannen sich wie selbstverständlich in perfektem Einklang zur Musik zu bewegen. Chelsea legte ihren Kopf an Deans Schulter, während seine Hände zärtlich ihren Rücken streichelten.
Irgendwann war der Song zu Ende, doch die beiden schienen es gar nicht zu bemerken. Sie tanzten weiter eng umschlungen, bis Dean plötzlich ganz leise Chelseas Namen sagte.
Langsam hob sie den Kopf und sah ihn erwartungsvoll an.
„Woher hast du bloß diese Augen?“, flüsterte er, und ihre Blicke versanken ineinander. „Schon als ich dich zum ersten Mal sah, dachte ich, dass ich noch niemals vorher so wundervolle grüne Augen gesehen habe…“
Ihre Lippen fanden sich zu einem innigen Kuss, der zärtlich und zugleich voller Leidenschaft war. Sie stöhnte leise und spürte, wie ihre Knie vor Erregung zu zittern begannen. Sie klammerte sich an Dean, der sie irgendwann auf seine Arme nahm und zur Treppe trug, die hinauf ins Büro führte.
„Was hast du vor?“, fragte sie überflüssigerweise. Wieder erschienen die Grübchen auf seinen Wangen.
„Seit wir das OCEANS besitzen, habe ich mich über dieses altmodische, breite Sofa im Büro geärgert, weil es unnötig viel Platz wegnimmt“, meinte er grinsend, während er Chelsea mühelos die Stufen hinauftrug. „Jetzt bin ich froh, dass wir es haben...“
„Okay“, schnurrte Chelsea und küsste Dean spielerisch auf Nasenspitze, Wangen und Mund, bevor sie ihn wieder energisch in die Wirklichkeit zurückholte. „Aber den Kram da im Regal werfe ich jetzt sofort hinaus. Und dieses hässlichen alten Bretter auch.“
Er hob ergeben die Hände.
„Okay, wenn es dich glücklich macht, dann entfernen wir alles, was sich vor dieser Wand befindet und bauen ein neues Weinregal.“
„Fein!“, strahlte Chelsea und begann voller Tatendrang, alles, was sie störte, in eine große Kiste zu werfen.
Dean seufzte lächelnd.
„Ich suche Werkzeug heraus, um die Dübel vom Regal aus der Wand zu schrauben“, erklärte er und ging nach oben, um alles Notwendige zu holen.
Als er nach ein paar Minuten wieder nach unten kam, stand Chelsea fassungslos vor der Wand.
„Dean, sieh dir das an!“
*
„Unmöglich, Mr. Franklyn!“ Entschieden schüttelte der Sprengmeister den Kopf. „Wir arbeiten hier nach einem strengen Zeitplan, und der schreibt uns vor, diese Sprengung in den nächsten fünfzehn Minuten durchzuführen. Außerdem ist Mister Edwards heute den ganzen Tag außer Haus, wie mir seine Sekretärin eben bestätigte, und sein Geschäftspartner Mister Shelton ist auch nicht zu erreichen.“
„Aber verstehen Sie denn nicht“, versuchte Alex den Mann zu überzeugen „Es könnte durchaus möglich sein, dass sich hinter dem Felsen doch noch ein Hohlraum befindet, so dass wir zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht einschätzen können, wieviel der Gesteinsmassen bei der Sprengung zusätzlich einstürzen könnten. Der halbe Felsen kann uns wegrutschen!“
Der Sprengmeister zeigte sich unbeeindruckt.
„Das ist doch garantiert nur falscher Alarm, Mister“, knurrte er mit einem Blick zur Uhr. „Sie hatten ausreichend Zeit, um alles genau zu untersuchen! Lassen Sie uns jetzt gefälligst unsere Arbeit tun! Schließlich verlässt sich Mister Edwards darauf, dass wir seinen Zeitplan einhalten.“
„Ihr Zeitplan interessiert mich einen Dreck, solange wir nicht sicher sind, dass alles glatt geht“, widersprach Alex energisch und sah sich wiederholt ungeduldig um. Noch immer keine Spur von Manuel.
Wo blieb der Kerl bloß?
In diesem Moment bog Claudias Jeep in die Baustelle ein. Mit zwei Schritten war Alex bei ihr.
„Claudia, wo ist dein Mann?“
Sie stieg aus und hob hilflos die Schultern.
„Keine Ahnung, ich habe selbst nach ihm gesucht und hoffte, er sei bereits hier.“ Sie sah sich erstaunt um und konnte förmlich die Spannung fühlen, die in der Luft lag. „Was ist denn los, Alex?“
„Manuel hat im hinteren Teil dieser Höhle Vermessungen durchgeführt“, erklärte Alex. „Er muss dabei etwas übersehen haben.“
Claudia zog ungläubig die Stirn in Falten.
„Etwas übersehen? Manuel? Ja aber...“
Alex nickte.
„Ich weiß was du sagen willst. Er ist normalerweise gewissenhafter als wir beide zusammen. Trotzdem zeigt das Messgerät am Ende des Ganges einen Hohlraum an. Es ist zwar nur eine schwache Anzeige auf der Scala, aber der Zeiger schlägt aus. Definitiv!“
Claudia strich sich über ihre Augen.
„Er hat sich ziemlich verändert in letzter Zeit, findest du nicht auch?“, fragte sie leise.
Alex musterte sie einen Augenblick lang nachdenklich und nickte dann.
„Ja, das ist mir auch schon aufgefallen. Habt ihr beide Probleme?“
„Nein... überhaupt nicht“, erwiderte Claudia. „Ich kann mir sein merkwürdiges Verhalten auch nicht erklären. Aber es macht mir Angst.“
*
Chelsea hatte die eingestaubten Regalbretter weggezerrt und dabei die alte Tapete zerrissen. Verwitterte Holzlatten, dicht nebeneinander genagelt, wurden sichtbar.
„Was wohl dahinter ist?“
„Das haben wir gleich.“
Dean nahm den Hammer und schlug mehrmals kräftig gegen eine der Latten, bis diese herunterfiel. Es folgte die zweite und die dritte, und dann kamen nachlässig zusammengebaute, rote Ziegel zum Vorschein.
„Ach du liebe Zeit… noch eine Wand“, stellte Chelsea enttäuscht fest.
Dean lachte über ihr langes Gesicht.
„Was hast du denn erwartet?“, erkundigte er sich schelmisch. „Einen versteckten Schatz?“
„Natürlich nicht.“ Chelsea klopfte sich den Staub von den Sachen. „Aber vielleicht...“
„Vielleicht was?“
„Na ja, der Typ, der uns das OCEANS verkauft hat, erzählte immerhin davon, dass hier früher eine verruchte Seeräuberkneipe gewesen sein soll, in der sich Piraten und Schmuggler heimlich trafen. Kann doch möglich sein, dass sie einen Geheimgang hatten!“
Dean sah Chelsea einen Moment lang verdutzt an, dann zog er sie prustend in seine Arme.
„Schätzchen, ich mache dir einen Vorschlag! Ab sofort verbringst du deine Abende mit mir, anstatt zu viele Seeräubergeschichten zu lesen.“
*
Die Tinte, mit der Chief Henderson den Durchsuchungsbefehl unterschrieben hatte, war noch nicht ganz getrocknet, als Stefano, Matt und Officer Nolan mit Blaulicht und Sirene vom Hof des Police-Departement fuhren. Die rasante Fahrt ging die Ocean Avenue hinunter bis ans Ende der Strandpromenade.
Von dort aus bogen sie in eine schmale Gasse, die sonst nur vom Strand aus zu sehen war, und die von den Einwohnern umgangssprachlich „Mountain Beach Street“ genannt wurde, weil sie direkt in den Highway einmündete, der hinauf in die Berge führte. Dort standen die letzten Strandhäuser von Sunset City, und der Streifenwagen hielt genau vor jenem Haus, in das Mason Danielle kürzlich entführt hatte.
Matt sprang aus dem Wagen und lief, dicht gefolgt von Stefano und Nolan, zum Eingang hinüber.
Ein ungutes Gefühl beschlich ihn, als er vor der Tür stand, denn sofort waren die schlimmen Erinnerungen wieder gegenwärtig. Stefano schien es ähnlich zu gehen, denn er warf Matt einen vielsagenden Blick zu, bevor er auf den Klingelknopf drückte.
„Polizei! Öffnen Sie die Tür!“, rief er laut und vernehmlich.
Im Haus rührte sich nichts.
„Vielleicht steht es noch leer“, vermutete Nolan. „So schnell werden sie das Haus vielleicht nicht weitervermietet haben.“
„Hoffentlich“, erwiderte Matt, und der Gedanke, der Brief mit Masons Zeugenaussage könnte nicht mehr da sein, wo Danielle ihn versteckt hatte, gefiel ihm gar nicht.
„Los, brich die Tür auf, Stefano“, drängte er, „Denk an Randy! Wir haben keine Zeit zu verlieren!“
„Schon gut“. lenkte der Detective ein und gab dem Officer ein Zeichen.
„Geht zur Seite!“ Nolan zog seine Waffe und wollte gerade auf das Türschloss zielen, als die Tür langsam und vorsichtig geöffnet wurde.
*
„...und aus den bereits mehrfach benannten Gründen, hohes Gericht und meine Damen und Herren Geschworenen, plädiere ich hiermit dafür, meinen Mandanten umgehend vom Vorwurf des Mordes an Roger Thorne freizusprechen.“
Andrew hatte sein Abschlussplädoyer beendet und nickte Randy aufmunternd zu, während er sich wieder setzte. Er hatte sein ganzes Können und alle Taktik, über die er verfügte, in seine Rede eingebracht, aber diesmal war er nicht sicher, ob das allein für einen Freispruch reichen würde, und ob er wirklich überzeugend genug gewesen war.
„War das alles, Herr Kollege?“, raunte ihm nun auch noch zu allem Überfluss der Herr Staatsanwalt im Vorbeigehen spöttisch zu.
Andrew ignorierte ihn.
„Jetzt sind Sie dran, Randy“, flüsterte er seinem Mandanten leise zu. „Denken Sie daran, was wir besprochen haben!“
Randy nickte und versuchte, seiner Aufregung Herr zu werden, als der Richter abermals mit seinem Holzhammer auf die Tischplatte schlug.
„Angeklagter“, wandte er sich an Randy und maß ihn mit strengem Blick. „Sie haben als Letzter das Wort. Möchten Sie dem Hohen Gericht und den hier anwesenden Geschworenen noch etwas zu Ihrer Verteidigung sagen?“
„Ja, Euer Ehren!“ Randy stand auf und räusperte sich nervös. Seine Stimme klang brüchig, und seine Kehle fühlte sich an, als sei sie ausgetrocknet. „Hohes Gericht... Werte Geschworene... Was hier passiert, ist wie ein schlimmer Albtraum für mich, denn ich habe nichts von dem getan, wessen man mich beschuldigt.“
Er machte eine kleine Pause und sah zur Geschworenenbank hinüber, da Andrew ihm geraten hatte, Blickkontakt mit den Geschworenen zu halten.
„Es ist wahr, ich war an diesem Abend wütend auf Kims Stiefvater. Immerhin hatte er sie geschlagen und ihr gedroht, sie gegen ihren Willen von Sunset City wegzubringen. Wo sie dann gelandet wäre, hat sie Ihnen bereits in ihrer Aussage selbst erzählt. Ebenfalls wahr ist, dass ich Roger Thorne aufsuchen wollte, um in Ruhe mit ihm über alles zu reden. Aber ich hatte zu keinem Zeitpunkt die Absicht, ihn zu töten, ich kannte ihn ja noch nicht einmal persönlich!“
Er atmete tief durch.
„Ich wusste nicht, wo ich Roger Thorne finden sollte, also bin ich an jenem Abend zunächst an den Strand gegangen, um in Ruhe noch einmal über alles nachdenken zu können, und plötzlich lag dort jemand unter dem Pier. Ich bin sofort hingelaufen und versuchte noch zu helfen, aber der Mann war bereits tot. Erst durch die Polizei erfuhr ich, um wen es sich bei dem Toten handelte.“
Er drehte sich zu Kim um, und ihre Blicke trafen sich.
„Ich hätte ihm niemals etwas angetan, wenn er auch noch so grausam und gemein zu dir war, aber trotz alledem war er dein Stiefvater!“
Kim nickte mit Tränen in den Augen, und Randy wandte sich wieder den Geschworenen zu.
Seine Stimme zitterte jetzt nicht mehr, sie klang eindringlich und fest:
„Hiermit sage ich es noch einmal klar und deutlich, und ich hoffe, Sie alle hier im Saal erkennen die Wahrheit: Ich habe Roger Thorne nicht ermordet. Ich bin unschuldig!“
*
„Wie fühlst du dich?“, fragte Mitch besorgt, als er sah, dass Suki bereits wieder in der Küche herumhantierte.
„Es geht mir gut“, erwiderte sie lächelnd. „Allerdings ist es etwas umständlich, Küchenarbeit mit einer Hand zu verrichten.“ Sie trug den Arm der verletzten Schulter in einer Schlinge, was sie natürlich bei allem, was sie tat, erheblich behinderte.
Mitch trat schnell hinzu und nahm ihr die schwere Salatschüssel ab.
„Lass mich das machen. Setz dich einfach hin und sag mir, was du gerne essen möchtest. Ich werde dich ein bisschen verwöhnen.“
Suki lachte kopfschüttelnd.
„Du wirst mich so sehr verwöhnen, dass ich ein Hausmädchen brauche, wenn ich wieder gesund bin!“
Mitch sah sie nachdenklich an.
„Ein Hausmädchen, oder...“
„Was meinst du?“. fragte Suki irritiert, doch er biss sich auf die Lippen.
Anstatt einer Antwort drehte er sich hastig um und griff nach dem Autoschlüssel, der neben dem Wandtelefon am Haken hing.
„Wo willst du denn hin? Ich dachte, du hilfst mir dabei, das Essen vorzubereiten?“, rief Suki irritiert.
„Das Essen kann einen Augenblick warten. Ich bin gleich zurück, Shugar! Lauf mir in der Zwischenzeit bloß nicht weg!“
*
Die junge Frau, die verängstigt hinter der nur spaltbreit geöffneten Haustür herauslugte, war etwa Mitte Zwanzig und trug ein kleines Kind auf ihrem Arm, das die Männer aus großen Augen anstarrte.
„Was wollen Sie?“, fragte die Frau und drückte das Kind angesichts der Waffe, die Nolan in der Hand hielt, schützend an sich.
Matt trat vor.
„Entschuldigen Sie, Ma`m...“
„Lara Cassidy“, stellte sie sich hastig vor, ohne die Augen von der Waffe zu lassen. „Wir sind vorgestern erst hier eingezogen und haben ganz bestimmt keinen Ärger mit der Polizei!“
„Nolan, nimm endlich die Waffe runter“, knurrte Stefano seinen übereifrigen Kollegen an und wandte sich dann betont freundlich an die junge Frau.
„Aus diesem Grund sind wir auch nicht hier, Mrs. Cassidy.“ Pflichtbewusst holte er seine Dienstmarke hervor und hielt sie ihr hin. „In diesem Haus befindet sich unter Umständen ein wichtiges Beweismittel, dass wir im Prozess um einen Mordfall benötigen. Würden Sie uns bitte helfen, und uns einen Augenblick hereinlassen?“
„Oh mein Gott, ein Mordfall?“, rief sie erschrocken. „In diesem Haus?“
Das Kind fing, beunruhigt durch ihren lauten Tonfall, an zu weinen, doch sie beruhigte es schnell. Stefano streckte die Hand aus und strich dem Kleinen über die goldblonden Locken.
„Ein netter Junge.“
„Ein Mädchen“, verbesserte sie und trat zur Seite, um die Männer einzulassen. „Ihr Name ist Jo Ann.“
„Hallo Jo Ann“, sagten Matt und Stefano gleichzeitig und traten ins Haus. Erstaunt sahen sie sich um.
„Was ist denn hier passiert?“, fragte Matt in böser Vorahnung. „Das Haus war doch möbliert!“
„Ja, von oben bis unten“, nickte Lara. „Aber mein Mann und ich fanden die Einrichtung grauenvoll. Außerdem weiß man ja nie, wer da vorher gewohnt hat.“
Matt getraute sich kaum die Frage auszusprechen, die ihnen allen dreien unter den Nägeln brannte.
„Und... wo sind diese alten Möbel jetzt?“
„Der Vermieter hat sie gestern früh abholen lassen. Er meinte, ihm gefallen sie auch nicht.“
„Haben Sie seine Adresse?“
„Einen Moment.“ Lara übergab ihre kleine Tochter kurzentschlossen an Officer Nolan. „Bleib einen Augenblick bei dem netten Onkel, Mami ist gleich zurück!“
Nolan stand mit dem Kind auf dem Arm entgeistert da und machte ein Gesicht, als hätte ihm jemand eine tickende Zeitbombe übergeben. Zu allem Überfluss fing die Kleine auch noch an, herzzerreißend zu brüllen.
Dem Ernst der Lage zum Trotz feixte Stefano.
„Tja Nol, da musst du wohl noch ein wenig üben!“
Hilflos begann Nolan, das schreiende Kind in seinen Armen zu schaukeln, als Lara zu seiner großen Erleichterung schon wieder aus der Küche zurückkam. In der Hand hielt sie einen Zettel.
„Hier ist die Adresse.“ Sie wandte sich um und nahm Nolan ihre Tochter ab, die plötzlich ebenfalls irgendwie erleichtert wirkte und nun zufrieden vor sich hin gurgelte. „Ist ja gut, meine Kleine!“ Ein Blick auf seine Uniform ließ sie erschrocken aufstöhnen. „Officer... oh Gott... das ist mir jetzt wirklich peinlich!“
„Was denn?“ Nolan sah irritiert an sich herunter und bemerkte zu seinem Unbehagen den großen nassen Fleck, der sich auf der Uniformjacke über seiner Brust und seinem Bauch ausbreitete. Entsetzt verzog er das Gesicht. „Ja aber... trägt die Kleine denn keine Windeln?“
„Nein“, erwiderte Lara nicht ohne einen gewissen Stolz. „Normalerweise ist sie sauber.“
„Was sagt man dazu…“
Hilflos sah Nolan Matt und Stefano an und wies auf seine durchnässte Uniform, als sie zurück zum Einsatzwagen gingen.
„Du riechst etwas streng“, bemerkte Matt trocken und Stefano lachte.
„Wir setzen dich auf dem Weg zu diesem Makler vor dem Revier ab. Da kannst du dich duschen und umziehen. Matt und ich kommen allein klar.“
Nolan nickte betreten.
„Beeilt euch bloß“, meinte er. „Hoffentlich hat dieser Geld-Hai die Möbel aus Masons Haus nicht schon allesamt weiterverkauft!“
*
Danielle massierte ihre Beine und führte hartnäckig die Übungen zur Muskelkräftigung durch, welche ihr die Physiotherapeutin gezeigt hatte. Sie wollte so schnell wie möglich wieder zu Kräften kommen, um die Klinik recht bald verlassen zu können.
Nach Hause...
Sie hielt inne und hing für einen Augenblick ihren Gedanken nach.
Ihr zu Hause... Wo war das?
Erstaunt stellte sie fest, dass sie nicht Oklahoma mit diesem Begriff verband, jedenfalls nicht mehr.
Ihre Kinder und Jugendzeit auf der elterlichen Ranch war unwiderruflich vorbei, es war eine herrliche, zumeist unbeschwerte Zeit gewesen, aber dieser Lebensabschnitt hatte für sie in dem Augenblick geendet, als sie sich von Brendon trennte und fortgegangen war.
Sunset City, das war ihr neues Zuhause! Hier lebten ihre neuen Freunde, und hier hatte sie ihre große Liebe gefunden... Matt.
Danielle lächelte still vor sich hin. Ganz ohne Frage, der Begriff „zu Hause“- das war Matt für sie. Wo er war, da wollte sie sein, das war ihr in diesem Augenblick so klar wie nie zuvor.
„Du solltest dich nicht überanstrengen, mein Kind“, riss die besorgte Stimme ihrer Mutter sie aus ihren Gedanken. Jill kam mit zwei Bechern voll Orangensaft herein und reichte Danielle den einen davon. „Den hab ich aus der Kantine unten, der ist frisch gepresst.“
„Danke Mom.“ Danielle setzte sich in ihrem Bett auf. „Wo ist Robyn?“
„Oh, sie wollte sich ein wenig umsehen und vielleicht einen kleinen Stadtbummel machen“, erwiderte Jill. „Ich habe ihr gesagt, das wäre schon in Ordnung, du hättest bestimmt nichts dagegen.“
„Aber Mum, ihr beide braucht doch wirklich nicht den ganzen Tag an meinem Bett zu sitzen!“, lachte Danielle. „Es geht mir gut, glaub mir. Du solltest dir auch etwas die Beine vertreten.“
„Nein, dazu ist später immer noch Zeit“, widersprach Jill energisch. „Ich bleibe wenigstens so lange hier bei dir, bis Matt zurück ist.“
Danielle sah zur Uhr.
„Hoffentlich hat er inzwischen den Brief gefunden und ist damit auf dem Weg zu Randy.“
Jill nickte zuversichtlich.
„Er wird es sicher schaffen, rechtzeitig dort zu sein. Mach dir keine Sorgen.“
*
Ungeduldig klopfte Matt gegen die Bürotür des kleinen Maklerbüros, dessen Adresse ihnen Lara Cassidy vor ein paar Minuten gegeben hatte.
Nach einer Weile, die ihm und Stefano wie eine Ewigkeit erschien, öffnete ein etwas älterer, kahlköpfiger Mann die Tür. Er trug einen Anzug, der ihm vielleicht früher einmal gut gepasst hatte. Jetzt allerdings wirkte er ziemlich speckig und spannte erheblich über der ziemlich fülligen Gestalt seines Besitzers.
„Tut mir leid, aber wir haben bereits geschlossen“, sagte er abweisend, während er die beiden mit seinen kleinen, wieselflinken, grauen Augen argwöhnisch musterte.
„Mister Cunningham?“, fragte Stefano der Form halber und hielt ihm, als er schließlich zögernd nickte, seine Dienstmarke unter die Nase.
„Sunset City Police Departement, Detektiv Cortez“, stellte er sich routinemäßig vor und erreichte zumindest, dass der Mann respektvoll die Schultern straffte und vorsichtshalber einen Schritt zurücktrat..
„Polizei?“, fragte er misstrauisch und kniff nervös die Augen zusammen.
„Keine Sorge, Sir“, sagte Matt schnell, als hätte er Angst, Mr. Cunningham könnte ihnen die Tür vor der Nase zuwerfen, bevor sie ihm ihre wichtigen Fragen stellen konnten. „Es handelt sich um eine Routineuntersuchung. Wir brauchen dringend eine Auskunft von ihnen.“
Der Makler atmete sichtlich auf.
„Na also… wenn das so ist, dann fragen Sie!“
„Es geht um das Strandhaus in der Mountain- Beach- Gasse“, erklärte Stefano. „Dort ist doch gestern ein Ehepaar mit einem kleinen Kind eingezogen...“
„Allerdings“, nickte Cunningham eifrig. „Mister und Misses Cassidy. So steht es jedenfalls auf dem Mietvertrag. Stimmt etwas nicht mit den Leuten?“
„Nein“, wehrte Stefano ab. „Alles in bester Ordnung. Was uns interessiert, sind die Möbel, die bis gestern in dem Haus gestanden haben. Wo sind die hingebracht worden?“
„Die Möbel?“ Cunningham machte ein langes Gesicht und sog hörbar die Luft ein. „Was zum Teufel wollen Sie denn mit diesem alten Plunder?“
Stefano und Matt sahen ihn erwartungsvoll an.
„Wo sind die Möbel jetzt, Mr. Cunningham? Wie bereits erwähnt führen wir eine polizeiliche Untersuchung durch, und Sie würden uns wirklich sehr helfen...“
„Ja, natürlich, ich helfe gerne“, beeilte sich der Dicke zu sagen. „Ich bin ein gutmütiger Mensch, ein echter Menschenfreund, und wenn jemandem das Mobiliar meiner Häuser nicht gefällt, dann bedarf es natürlich keiner Frage, dann wird es entsprechend ausgetauscht.“
Stefano und Matt warfen einander einen genervten Blick zu.
„Mr. Cunningham“, unterbrach Matt den Redeschwall des Maklers mit eiserner Selbstbeherrschung und betonte jedes einzelne Wort: „Wo sind die Möbel?“
„Im Obdachlosenheim drüben in Huntington, Sir“, erwiderte Cunningham diensteifrig. „Meine Frau meinte, wenn wir es schon nicht hinbekommen, regelmäßig in die Kirche zu gehen, dann sollten wir mal wieder etwas Gutes tun. Also haben wir die Möbel dem Obdachlosenheim geschenkt.“