„So ein Mist aber auch! Nie ist jemand da, wenn man in dieser gottverlassenen Bude mal Hilfe braucht“, fluchte Anni wenig damenhaft, als es an der Wohnungstür Sturm klingelte. Jemand schien es sehr eilig zu haben und läutete ununterbrochen weiter, während sie unbeholfen und unsicher auf ihrem Gehgips zur Tür humpelte.
„Daddy auf Geschäftsreise, Tante Cloe mit Wer-weiß-wem irgendwo in der Karibik... zum Schreien ist das! Jaaaa verflixt! Ich bin doch gleich da!“
Wütend riss sie die Tür wütend auf und sah mitten in Alex` grinsendes Gesicht.
„Guten Morgen, ich bringe das Frühstück, gnädige Frau“, meinte er und marschierte wie selbstverständlich an ihr vorbei in die Wohnung.
„He, halt... Sie kennen sich doch in der Küche gar nicht aus...“, protestierte Anni und humpelte ihm, so schnell sie konnte, hinterher.
„Sie aber auch nicht, wie mir scheint“, bemerkte Alex trocken, mit einem erstaunten Blick auf den schmutzigen Abwasch und die leeren Pappbehälter vom Lieferservice, die überall herumstanden. „Was ist denn hier passiert? Ein Terroranschlag? Oder hat sich die Putzfrau überraschend krankgemeldet?“
„Klugscheißer“, zischte Anni. „Haben Sie schon mal auf einem Bein stehend den Aufwasch gemacht?“
„Den Gips haben Sie doch erst seit gestern“, erwiderte er ungerührt. „Wollen Sie mir ernsthaft erzählen, das hier stammt alles von letzter Nacht?“
„Ich will Ihnen gar nichts erzählen! Ich will, dass Sie wieder verschwinden“, keifte Anni wütend. „Ich habe Sie nicht gebeten, herzukommen, und das blöde Frühstück können Sie gleich wieder mitnehmen!“
„Okay.“ Alex stellte die beiden Tüten auf dem einzig freien Platz neben der Spüle ab und verschränkte demonstrativ die Arme vor der Brust. „Zwei Möglichkeiten, Annabel Parker: entweder ich koche uns jetzt einen schönen heißen duftenden Kaffee, und wir lassen uns die frischen Croissants anschließend draußen auf Ihrer Veranda schmecken, oder...“
„Oder was?“, fragte Anni lauernd.
„Oder Sie baden weiter in Selbstmitleid, Miss Dickkopf, und ich gehe zurück zu der netten Dame in den Café-Shop, wo ich gerade herkomme. Dann können Sie selber zum Bäcker humpeln und sich etwas zum Frühstück holen, denn in dem Müllhaufen hier...“ Er machte eine weit ausholende Bewegung „...werden Sie mit Sicherheit nichts Essbares finden.“
Anni holte tief Luft und schnaufte. Momentan kämpfte ihr Stolz gegen ihr Hungergefühl, aber schließlich gewann ihr Magen, in dem es bereits kräftig rumorte.
„Wie lange wollen Sie noch dumm hier herumstehen? Der Kaffee ist dort oben links im Schrank!“
Mit diesen Worten drehte sie sich um und humpelte so würdevoll, wie es ihre Situation überhaupt zuließ, zur Tür hinaus in Richtung Veranda.
Alex sah ihr kopfschüttelnd nach und grinste, bevor er damit begann, das Chaos in der Küche notdürftig zu beseitigen, während kurz darauf ein verführerischer Kaffeeduft durchs Haus zog.
*
Edward saß im Büro über seinen Unterlagen und versuchte sich bei allem Ärger, den er auf Grund von Sophias Verschwinden verspürte, auf seine Arbeit zu konzentrieren. Am Vormittag war er gemeinsam mit seinem Bruder Andrew bei Randy im Gefängnis gewesen, und dieser hatte ihnen erzählt, er erinnere sich daran, gestern Abend unten am Pier zwei Schatten gesehen zu haben, die allem Anschein nach schnell das Weite gesucht hatten, kurz bevor er die Leiche von Kims Stiefvater unter der Brücke fand.
Edward strich sich über die Stirn und schnaufte.
Zu dumm, dass Randy auf keine weiteren Einzelheiten geachtet hatte. Wie sollte sein Anwalt aus derartig vagen Behauptungen heraus eine wirksame Verteidigungsstrategie aufbauen! Dazu brauchte er schon ein wenig mehr.
Aber sein jüngerer Bruder war nicht umsonst einer der Besten auf dem Gebiet der Strafverteidigung. Auf den ersten Blick wirkte Andrew Hamilton zwar eher wie ein unbescholtener Buchhalter, aber wer ihn kannte, wusste es besser. Kein anderer seiner Berufskollegen war so raffiniert, verschlagen und rücksichtslos vor Gericht wie er. Trotzdem brauchte er wenigstens einen wirksamen Beweis, auf den er seine Verteidigung stützen konnte.
Edward strich sich über die Stirn und nickte einen Moment lang zufrieden grinsend vor sich hin.
Nur gut, dass man für Geld fast alles kaufen konnte - zur Not sogar das nötige Beweismaterial.
Aber alles zu seiner Zeit…
Noch war es nicht soweit, erst musste die Staatsanwaltschaft offiziell Anklage erheben, und so lange der Obduktionsbefund nicht vorlag, würden die Herren sich ohnehin zurückhalten.
Der Immobilien-Mogul atmete tief durch und konzentrierte sich wieder auf die Dokumente, die sich vor ihm auf seinem Schreibtisch stapelten. Er musste seine Zeit unbedingt nutzen, um den riesigen Schuldenberg, der die Firma seit Baubeginn der Ferienanlage belastete, etwas zu verringern. Der größte Dorn im Auge war ihm dieses Archäologen-Team, dessen Forschungs- und Sicherungsarbeiten an und in den Höhlen ein wahres Vermögen kosten würden.
Seit Tagen grübelte Edward bereits, wie man diese Ausgaben um ein Vielfaches senken könnte, ohne dass es jemandem auffiel. Vor allem Matt nicht, der von Anfang an aus Sicherheitsgründen auf diese Überprüfungen der Höhlen bestanden hatte.
Gestern Abend war ihm plötzlich die rettende Idee gekommen.
Mit etwas Schmiergeld von seinem geheimen Schweizer Konto und einem gerissenen Anwalt wie Andrew in der Familie würde er seinen Kopf einmal mehr unbemerkt aus der Schlinge ziehen.
Ein verschlagenes Lächeln umspielte seine Lippen, als er den Knopf der Sprechanlage betätigte.
„Elisabeth... kommen Sie bitte einen Moment herein!“
Ein paar Sekunden später öffnete seine persönliche Assistentin schwungvoll die Bürotür und trat dienstbeflissen näher.
„Was kann ich für Sie tun, Mr. Hamilton?“
„Hat Matt oder sonst Jemand von der Firma in letzter Zeit Einsicht in die Baupläne genommen, die den Abschnitt um die Höhlen betreffen?“, erkundigte er sich ohne Umschweife.
Elisabeth schüttelte derart überzeugt den Kopf, dass ihre dauergewellten Löckchen wippten.
„Nein, Sir, nicht dass ich wüsste. Die Pläne liegen im Wandschrank, und den Schlüssel verwahre ich. Also wenn jemand daran interessiert wäre, dann müsste er mich schon persönlich danach fragen.“
Edward lächelte zufrieden.
„Ausgezeichnet. Würden Sie mir die Pläne bitte hereinbringen?“
„Natürlich, einen Moment.“
Mit einer erstaunlichen Wendigkeit, die man ihr bei ihrer etwas fülligen Figur gar nicht zugetraut hätte, verschwand Elisabeth aus dem Büro und kehrte eine halbe Minute später mit den Unterlagen zurück. Eifrig suchte sie die gewünschten Zeichnungen aus dem Sammelordner und breitete sie vor Edward auf dem Schreibtisch aus.
„Sehen Sie, hier befindet sich der Eingang zur nördlichsten Höhle, diese Markierungen bezeichnen den bisher angenommenen Verlauf des unterirdischen Gangsystems, das verbunden ist mit den anderen beiden südlich gelegenen Höhlensystemen. Und dann ist da noch weiter südlich eine kleinere Grotte, von der allerdings nur vermutet wird, dass von da aus weitere Gänge in die Felsen hineinführen“, erklärte sie fachkundig.
Edward lehnte sich zufrieden zurück.
„Danke Elisabeth. Bitte sorgen Sie dafür, dass ich nicht gestört werde.“
„Wollen Sie denn heute gar nichts zu Mittag essen?“, fragte seine Sekretärin mit einem Blick zur Uhr erstaunt.
„Ich habe noch zu arbeiten und werde später etwas essen. Machen Sie inzwischen Ihre Mittagspause, damit Sie zurück sind, wenn ich mich mit unserem Forscherteam in zwei Stunden an den Höhlen treffe.“
„In Ordnung, Sir. Soll ich die Unterlagen wieder mitnehmen?“
„Nicht nötig, die brauche ich noch.“
Elisabeth nickte ihrem Boss huldvoll zu, straffte die Schultern und eilte hinaus.
Edwards Blicke wanderten aufmerksam über die Zeichnungen, und sein Gesicht hellte sich merklich auf.
Kurzentschlossen nahm er den Plan, auf dem die südlichste Grotte eingezeichnet war, rollte ihn zusammen und steckte ihn in seine Tasche.
„So, das hier verschwindet erst einmal in meinem Privatsafe. Und wenn die Sache abgeschlossen ist, wird keinem auffallen, dass es da jemals eine kleine, unbedeutende Höhle gab, deren zusätzliche Erforschung uns noch einmal so viel kosten würde, wie die Arbeit an den anderen drei Höhlen zusammen.“ Er nickte wie zur Bestätigung. „Wahrhaft ein nettes Sümmchen, das wir uns hier sparen können.“ Selbstzufrieden lächelnd griff er zum Telefon und wählte eine Nummer.
„Ich möchte, dass wir uns in genau einer halben Stunde südlich der Baustelle treffen“, sagte er ohne große Vorrede. „Ich habe einen Auftrag für Sie.“
*
Pünktlich zur verabredeten Zeit wartete einer der von Edward Hamilton persönlich eingestellten Vorarbeiter am vereinbarten Treffpunkt.
„Hat Sie jemand gesehen?“, fragte Edward kurz angebunden.
Der Mann schüttelte den Kopf.
„Sind alle in der Mittagspause, Sir.“
„Ausgezeichnet.“ Edward sah sich kurz um. „Also hören Sie gut zu. Etwa hundertfünfzig Meter weiter drüben, ziemlich am Ende unseres Baustellenterrains, finden Sie versteckt zwischen den Felsspalten den schmalen Eingang zu einer kleinen unscheinbaren Höhle, gerade mal so breit, dass sich ein Mensch mit Mühe hindurchzwängen kann. Ich möchte, dass Sie sich heute nach Feierabend einen der mit Steinen und Kies beladenen Tieflader schnappen und dorthin fahren. Schütten Sie den Eingang der Höhle zu, und zwar so gründlich, dass sie von außen nicht mehr als solche zu erkennen ist. Haben Sie verstanden?“
Der Mann nickte eifrig, den Blick gierig auf den dicken Umschlag gerichtet, den sein Auftraggeber ihm reichte.
„Natürlich Sir, wird erledigt.“
Edward sah sich kurz um, und maß ihn dann mit einem letzten, warnenden Blick.
„Machen sie Ihre Sache gut, und sorgen Sie vor allem dafür, dass Sie niemand beobachtet. Kein Mensch soll hinterher auch nur ansatzweise vermuten, dass sich dort zwischen den Felsen jemals ein Eingang befand.“
„Sie können sich auf mich verlassen, Mr. Hamilton, wie immer“, antwortete der Mann, nickte Edward kurz zu und stieg wieder in seinen Jeep. Mit aufheulendem Motor jagte er über den Strand davon, eine Staubwolke hinter sich zurücklassend.
Edward grinste zufrieden und klopfte sich den Staub von seinem makellosen Anzug, bevor er selbst in seinen glänzenden, schwarzen Firmenwagen stieg und in Richtung Stadt zurückfuhr, um sich selbst endlich ein Mittagessen zu gönnen.
*
„Was soll das heißen, du weißt, was geschehen ist?“, fragte Brendon beunruhigt. „Hast du herausbekommen, wen die beiden Kerle letzte Nacht um die Ecke gebracht haben?“
Caroline schüttelte den Kopf.
„Nein, das nicht. Aber ein Freund von mir sitzt wegen genau dieser Sache unschuldig hinter Gittern und bekommt wahrscheinlich eine Mordanklage an den Hals, wenn nicht ganz schnell jemand das Gegenteil beweist.“
Sie spielte nervös mit einer Strähne ihres blonden Haares und sah Brendon eindringlich an.
„Er ist jemand, der garantiert niemanden umbringt, weder vorsätzlich noch aus Versehen, und mein Onkel wird seine Verteidigung übernehmen, falls es zur Anklage kommt.“
Brendon biss sich auf die Lippen.
„Was heißt falls?“, fragte er heiser.
„Nun, immerhin ist es möglich, dass sich noch jemand meldet, der beweisen kann, dass Randy unschuldig ist. So wie wir, Brendon.“ Caroline legte ihre Hand auf seinen Arm. „Wir müssen ihm helfen! Wir haben doch beide gehört, was diese Schlägertypen erzählt haben und wer ihnen höchstwahrscheinlich den Auftrag dazu gab. Und wir wissen sogar die Namen der Kerle. Der eine heißt Ramon, und der andere, warte.... Scotti, ja genau! Ich würde sie sofort wiedererkennen. Du etwa nicht?“
„Pst... nicht so laut, Caroline“, warnte Brendon und legte den Finger an die Lippen, während er sich vorsichtig umsah.
Sein Gehirn arbeitete auf Hochtouren. In was für einen Schlamassel hatte er sich da nur hineinziehen lassen!
Würde er zur Polizei gehen und eine Aussage machen, so wie Caroline es vorhatte, dann konnte er sicher sein, dass die beiden Kerle nach ihrer Festnahme sofort auspacken würden, um ihre Haut zu retten. Und er zweifelte auch nicht eine Sekunde daran, dass Bobby Hughes ihn ohne zu zögern als seinen Komplizen in der Sache mit sich in den Abgrund riss, wenn es brenzlig für ihn werden sollte.
Dann war er geliefert und genauso mitschuldig an einem Mord wie die anderen.
Er spürte, wie sich auf seiner Stirn bereits kleine Schweißperlen bildeten.
„Nein, Caroline, das dürfen wir nicht tun!“
„Wieso?“, fragte sie erstaunt.
„Nun... weil... dein Vater würde erfahren, dass wir uns heimlich getroffen haben, und dann dürfen wir uns vielleicht nicht mehr sehen...“
„Brendon“, unterbrach ihn Caroline ungeduldig. „Mein Vater ist momentan das kleinste Problem. Schließlich bin ich volljährig und kann mich treffen, mit wem ich will. Aber hier geht es um viel mehr. Ein Mensch ist umgebracht worden!“
„Ja schon.“ Brendon wischte sich nervös mit dem Handrücken über die Stirn. „Aber vielleicht war es gar kein Mord, sondern nur ein dummer Unfall!“
Caroline zog unwillig die Augenbrauen zusammen und schüttelte verständnislos den Kopf.
„Wie kannst du so etwas sagen? Unfall oder nicht, der Mann ist tot! Und wir sind vielleicht die Einzigen, die Randy vor dem Gefängnis retten können. Die Einzigen, die gehört haben, was geschehen ist und wer das zu verantworten hat.“ Sie atmete tief durch und sah Brendon fest in die Augen. „Ich werde mit meinem Vater sprechen und dann zur Polizei gehen.“
Als sie Anstalten machte, sich zu erheben, fasste Brendon blitzschnell nach ihrer Hand.
„Caroline, bleib hier, das darfst du nicht!“
Irritiert über seinen Ausbruch setzte sie sich zögernd wieder hin.
Brendon sah sich erneut kurz um, doch niemand schien Notiz von ihnen zu nehmen.
Bobby Hughes hatte sich vorn an den Tresen gesetzt und warf nur ab und zu einen neugierigen Blick zu ihnen herüber.
„Was ist denn los mit dir?“, fragte Caroline ungehalten und entzog ihm ihre Hand. „Warum bist du dagegen, dass wir einem Unschuldigen helfen?“
„Weil...“ Er suchte krampfhaft nach den richtigen Worten, um sich nicht zu verraten. „Weil... ich Angst um dich habe!“
„Um mich?“ Ungläubig zog sie die Augenbrauen zusammen.
Brendon nickte.
„Hör zu...“ Er beugte sich etwas näher zu ihr herüber. „Diese Männer sind gefährlich, und es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie herausfinden, wer sie verpfiffen hat“, flüsterte er. „Und selbst, wenn die Polizei die beiden schnappt und einsperrt, wird Hughes sich dafür zu rächen versuchen!“
Caroline biss sich auf die Lippen und überlegte einen Moment. Daran hatte sie bisher noch nicht gedacht. Dann aber siegte ihr ausgeprägter Gerechtigkeitssinn.
„Das Risiko muss ich eingehen“, entgegnete sie überzeugt. „Ich bin sicher, Randy würde genau das gleiche auch für mich tun!“
Plötzlich zog ein Lächeln über ihr Gesicht.
„Weißt du was? Wir könnten der Polizei Hughes Namen ebenfalls nennen, dann wird er auch gleich mit verhaftet.“
`...und reißt mich mit in den Abgrund!`, dachte Brendon panisch und schluckte.
„Nein Caroline, da mache ich nicht mit, das ist viel zu gefährlich“, versuchte er sie noch einmal umzustimmen, doch sie hatte sich bereits entschieden und deutete sein Zögern nun auf ihre Art.
„Du bist ein erbärmlicher Feigling“, zischte sie wütend und sprang auf. „Du lässt es lieber zu, dass ein völlig unschuldiger Mensch des Mordes angeklagt und vielleicht verurteilt wird, nur um ja kein Risiko einzugehen!“ Sie ging drei Schritte um den Tisch herum auf ihn zu und beugte sich zu ihm herunter. „Weißt du was, Brendon? Dann mache ich es eben allein!“
Für einen Moment saß Brendon wie gelähmt auf seinem Platz, unfähig sich zu rühren, und starrte Caroline nach, als sie den Café-Shop verließ.
In seinem Kopf wirbelten die Gedanken wild durcheinander.
„Na Freund, Ärger mit deiner Kleinen?“, holte ihn Bobbys spöttische Stimme zurück in die Wirklichkeit. Er blickte hoch und sah dessen lauernden Blick auf sich ruhen.
„Setz dich, Hughes“, sagte er schroff. „Ärger werden wir beide bald haben, und zwar sehr viel mehr, als uns lieb ist, das kannst du mir glauben!“
*
Bereits den ganzen Tag über fand Danielle keine Ruhe. Das Gespräch mit Matt und sein Geständnis über sich und seinen Zwillingsbruder hatte sie zutiefst aufgewühlt. Wie konnte es möglich sein, dass zwei Menschen, die sich äußerlich glichen wie ein Ei dem anderen, charakterlich so unterschiedlich waren? Wieso hassten sie sich, wo doch von Wissenschaftlern und Psychologen immer wieder behauptet wurde, Zwillinge hätten eine besonders enge Beziehung zueinander? Konnte einer von beiden dann wirklich derart bösartig sein? Nun, wenn sie Matts Worten Glauben schenkte, und das tat sie, dann musste sie fortan auf der Hut sein…
Um nicht weiterhin in Grübeleien zu verfallen, versuchte sich Danielle mit Arbeit abzulenken. Sie hatte für ihre Mitbewohner einen leckeren Gemüseauflauf zubereitet, danach noch ein Blech Kuchen gebacken, und war nun gerade dabei, den Abwasch zu erledigen, als jemand an der Tür klingelte.
„Das ist sicher der Postbote, ich geh schon“, rief Suki, die sich für ihren Dienst in der Klinik zurechtmachte.
Danielle war froh, heute den Küchendienst übernommen zu haben, denn so musste sie vorerst nicht mit den anderen ins OCEANS, wo sie unweigerlich wieder auf Marina getroffen wäre, denn die Hobbymalerin war momentan emsig damit beschäftigt, die Wand hinter der Bar farblich zu gestalten.
Die Begegnungen mit Matts Exfrau waren ihr zunehmend unangenehm, und jedes Mal ergriff sie aufs Neue eine seltsame Unruhe, wenn sie Marina gegenüberstand, obwohl diese im Grunde eine durchaus nette Person zu sein schien. Allerdings befürchtete Danielle, dass sich das sehr schnell ändern würde, wenn Mrs. Cortez-Shelton erst einmal mitbekam, in welchem Verhältnis sie zu Matt stand, denn dass sie selbst ihren Ex noch nicht aufgegeben hatte, war ja inzwischen offensichtlich. Trotzdem versuchte Danielle das Ganze gelassen zu sehen und sich einzureden, dass Marinas Bemühungen ganz sicher auch weiterhin unbeantwortet bleiben würden.
„Hallo mein Schatz“, raunte ihr plötzlich eine vertraute Stimme ins Ohr, und zwei starke Arme umfingen sie.
„Matt“, rief sie überrascht.
„Ich hoffe, ich habe dich nicht erschreckt. Deine Mitbewohnerin hat mich hereingelassen“, sagte er und küsste sie zärtlich auf die Wange.
Sie drehte sich zu ihm um und dachte sofort wieder an ihr Gespräch mit ihm heute Morgen, dass sie trotz ihrer Ablenkungsversuche unablässig beschäftigte. Erneut kamen Zweifel in ihr hoch.
Stand sie wirklich Matt gegenüber, oder... Mason?
„Was tust du denn um diese Zeit hier?“, fragte sie erstaunt. „Müsstest du nicht im Büro sein?“
„Ich habe mir den Rest des Tages frei genommen, um ein bisschen Zeit mit dir zu verbringen“, erwiderte er mit verheißungsvollem Blick. „Ich hoffe, du hast nichts dagegen?“
„Nein, ganz im Gegenteil. Ich bin froh, dass du da bist. Ich bin hier gleich fertig.“
Sie drehte sich um und stellte einen fertigen Stapel Teller in den Schrank, während ihre Gedanken fieberhaft arbeiteten.
Matt oder Mason? Es galt, das herauszufinden...
„Ist Chelsea schon weg?“, fragte sie scheinbar beiläufig, einer plötzlichen Eingebung folgend.
„Wer?“
„Chelsea, meine Mitbewohnerin, die junge Frau, dir die Tür geöffnet hat.“
„Oh... ja, sie hat mir verraten, wo ich dich finde und meinte, sie müsse gleich los.“ antwortete er. Danielle nickte und polierte emsig die Gläser aus, ohne sich umzudrehen.
„Was... wollen wir denn nachher unternehmen?“, fragte sie und versuchte, ihre Stimme möglichst unbeschwert klingen zu lassen, obwohl ihr das Herz plötzlich bis zum Hals schlug.
Er hatte Suki mit Chelsea verwechselt… Er war definitiv nicht Matt!
Oder irrte sie sich?
Sie musste Gewissheit haben!
„Ich dachte, wir gehen hinunter zum Hafen, mieten uns ein Boot und fahren ein Stück hinaus, genießen Sonne, Wind und Wellen dort, wo uns keiner stört“, vernahm sie seine verführerische Stimme dicht - viel zu dicht - an ihrem Ohr.
„Hört sich gut an.“ Hastig drehte sie sich zu ihm um, drückte ihm kurzerhand das Geschirrtuch in die Hand und wies auf den Besteckkasten. „Ich werde mich schnell umziehen gehen. Erledigst du das hier währenddessen bitte? Ich bin gleich zurück!“
Verdutzt sah Matt ihr nach und machte sich sichtlich widerwillig daran, die Messer und Gabeln einzusortieren, während Danielle die Treppe zu ihrem Zimmer hinaufeilte.
Oben angekommen schloss sie die Tür hinter sich ab und griff aufgeregt nach ihrem Handy. Mit zittrigen Fingern wählte sie Matts Nummer in der Firma.
„H&S ENTERPRISES, Ronda am Apparat, was kann ich für Sie tun?“, meldete sich seine Sekretärin mit dienstbeflissener Stimme.
„Ronda... Hier ist Danielle Belling. Sagen Sie bitte, ist Matt im Büro?“
„Einen Augenblick, Miss Belling, ich verbinde Sie“, erwiderte Ronda freundlich.
Es ertönte ein Knacken in der Leitung und Danielle hielt unwillkürlich die Luft an, als Matts Stimme erklang und sie sich in dieser Sekunde in ihrer Vorahnung bestätigt sah.
„Danielle, was für eine nette Überraschung! Was hast du denn auf dem Herzen?“
„Ich... ich wollte…“, begann sie stockend, denn urplötzlich wurde ihr klar, was passieren würde, wenn er jetzt erfuhr, dass Mason bei ihr war. „Ich wollte einfach deine Stimme hören, und... ich wollte dich fragen, ob ich dich nachher vom Büro abholen soll… wir könnten dann vielleicht zusammen den Abend verbringen...“ Sie spürte, wie ihr vor Aufregung die Hitze siedend heiß ins Gesicht stieg. Bestimmt hörte sie sich total idiotisch an mit ihrem Gestammel!
Matt jedoch lachte.
„Eine tolle Idee! Ich bin in einer Stunde hier fertig. Danach gehört der Rest des Tages nur uns beiden.“
„Ähm.. ja, in einer Stunde also… ich freue mich... Bis nachher, Matt!“
Schnell legte sie auf.
Mason Shelton...
Er war tatsächlich hier und versuchte soeben eines seiner hinterhältigen Spielchen mit ihr zu spielen!
„Na warte, mein Freund, nicht mit mir!“
Danielle verharrte eine Weile reglos vor dem Spiegel, starrte verloren ihr Spiegelbild an, während Matts Worte unaufhörlich in ihren Gedanken widerhallten.
´Er scheint ein geradezu perverses Vergnügen daran zu finden, alles zu zerstören, was mir etwas bedeutet...´
So stand sie eine ganze Weile, bis sie sicher war, dass ihr Pulsschlag einigermaßen normale Werte erreicht hatte. Entschlossen atmete sie tief durch und straffte die Schultern, bevor sie das Zimmer verließ und die Tür mit einem lauten Knall hinter sich zuwarf.
*
Nachdem Danielle angerufen hatte, starrte Matt einen Moment lang nachdenklich auf das Telefon in seiner Hand. Ihr Anruf hatte ihn überrascht, denn irgendwie hatte sie anders geklungen als sonst. Aufgeregt, durcheinander, fast so, als hätte sie sich eigentlich aus einem ganz anderen Grund gemeldet.
„Aus einem anderen Grund?“, sagte er zu sich selbst. „Aber warum sollte sie...“
Von einer plötzlichen inneren Unruhe angetrieben, drückte er auf den Knopf der Wechselsprechanlage.
„Ronda, was genau hat Danielle gesagt, als sie anrief?“
„Sie hat gefragt, ob Sie da sind.“
`Mason...`, schoss ihm ein Gedanke durch den Kopf. `Er ist bei ihr...`
Er sprang auf, griff nach seiner Jacke und eilte hinaus ins Vorzimmer.
„Ich habe etwas Dringendes zu erledigen und bin momentan für niemanden zu erreichen.“
Ohne auf das erstaunte Gesicht seiner Assistentin zu achten, riss er die Tür auf und stürmte aus dem Büro.
*
Langsam, mit unübersehbar finsterer Miene, ging Danielle die Treppe hinunter.
Mason stand mit dem Rücken zu ihr in der Küche und sortierte eben das letzte Besteck ein, als er ihre Schritte hinter sich vernahm.
„So, fertig“, sagte er erleichtert, drehte sich um und bemerkte ihren Gesichtsausdruck. „Was ist denn los, Dani?“, fragte er mit unschuldigem Lächeln.
Danielle blieb am unteren Treppenabsatz stehen und musterte ihn, als suche sie noch immer nach einer Bestätigung, dass dieser Mann, der dem, in den sie sich verliebt hatte, äußerlich aufs Haar glich, wirklich ein Fremder war.
Wieder fragte sie sich, wie zwei Menschen derart identisch aussehen und doch so unterschiedlich in ihrem Charakter sein konnten.
Sekunden vergingen, bevor sie, innerlich zitternd, aber äußerlich scheinbar ruhig sagte:
„Du hast genau zehn Sekunden Zeit, um aus diesem Haus und aus meinem Leben zu verschwinden, Mason Shelton.“
Offensichtlich überrascht starrte er sie an.
„Was hast du gesagt?“
„Du hast mich sehr gut verstanden. Ich weiß, wer du bist und was du vorhast, und ich finde das absolut krank...“ Angewidert verzog sie das Gesicht. „Ich muss dich enttäuschen, bei mir funktionieren deine psychopathischen Spielchen nicht.“
In diesem Augenblick ging eine Veränderung in Mason vor.
Plötzlich war da dieses kalte Lächeln auf seinem Gesicht, ein Lächeln, das ihn von Matt unterschied und ihr augenblicklich das Blut in den Adern gefrieren ließ. Er wusste, dass er momentan verspielt hatte, aber er dachte nicht daran, aufzugeben.
„Na komm schon, Dani, das war doch nur ein Spaß“, meinte er lauernd und trat einen Schritt auf sie zu. „Ich wollte die Freundin meines Bruders einfach ein wenig besser kennenlernen. Du faszinierst mich, Kleines!“
„So wie Marina?“, entfuhr es ihr.
Er lachte höhnisch.
„Marina? Wer zum Teufel ist Marina?“
Instinktiv wich sie zurück. Ein beklemmendes Gefühl der Angst machte sich in ihrem Inneren breit, doch um nichts in der Welt hätte sie das in diesem Augenblick zugegeben.
„Verschwinde, Mason, oder ich rufe die Polizei“, fauchte sie bissig.
„Uuh, du kannst ja richtig wütend werden! Ich muss zugeben, das gefällt mir.“
„Raus!“
Mason hob beschwichtigend die Hände, aber das gefährliche Lächeln blieb.
„Okay, ich gebe zu, die erste Runde geht an dich. Aber ich verspreche dir, ich komme wieder, und dann spielen wir dieses Spiel zu Ende... Und zwar nach meinen Spielregeln.“ Er deutete grinsend einen Kuss in ihre Richtung an und wandte sich dem Ausgang zu. „Bis bald, kleine Dani! Wir sehen uns!“
Schwungvoll öffnete er die Tür - und sah für den Bruchteil einer Sekunde sein eigenes Spiegelbild, bevor ihn eine Faust mit aller Kraft am Kinn traf und ihn zurück ins Zimmer schleuderte.
Danielle schrie vor Schreck auf und starrte fassungslos zuerst auf Mason, der rückwärts die drei Treppenstufen hinunterstürzte und ziemlich unsanft hinter dem Sofa landete. Dann wanderte ihr Blick wieder zur Tür, wo Matt mit versteinertem Gesicht stand.
„Ich denke nicht, dass sie dich so schnell wiedersehen wird, du Mistkerl“, sagte er gefährlich ruhig. „Und sollte das doch der Fall sein, dann wird sie dich sofort erkennen, nachdem ich hier mit dir fertig bin!“
Mit ungeahnter Schnelligkeit war er drüben beim Sofa und zog seinen von dem Schlag immer noch ziemlich benommenen Zwillingsbruder unsanft auf die Füße. Geistesgegenwärtig sprang Danielle dazwischen und hielt ihn zurück, bevor er erneut zuschlagen konnte.
„Nicht Matt! Hör auf, es ist genug!“
„Stimmt, es ist wirklich genug“, knurrte Matt und starrte seinem Bruder ins Gesicht, während er ihn fest am Hemdkragen gepackt hatte. „Ich habe mir deine Gemeinheiten schon viel zu lange gefallen lassen, aber damit ist jetzt Schluss!“
„Na los, schlag zu, du Feigling“, ächzte Mason und brachte trotz allem immer noch ein höhnisches Grinsen zustande. „Das ändert nichts an der Tatsache, dass alle deine Frauen letztendlich in meinem Bett landen!“
„Bitte Matt, lass ihn in Ruhe!“, rief Danielle und legte ihre Hand beschwörend auf Matts Arm. Durch den Stoff seiner Jacke hindurch spürte sie seine eisern angespannten Muskeln und wusste, Mason hätte keine Chance gegen diese lange aufgestaute geballte Kraft. Er hatte zwar eine Abreibung verdient, aber letztlich war Gewalt auch keine dauerhafte Lösung gegen die beharrliche Boshaftigkeit, mit der er agierte. „Er will dich doch nur provozieren Glaub mir, er ist es nicht wert“, versuchte sie Matt zu beschwichtigen. Der presste wütend die Lippen aufeinander, während er und sein Zwilling sich gegenseitig hasserfüllt anstarrten.
„Vielleicht hast du Recht...“, brachte Matt schließlich heraus, ohne den feinseligen Blickkontakt mit seinem Bruder zu unterbrechen. „Er ist es wirklich nicht wert!“
Er versetzte Mason einen kräftigen Stoß gegen den Brustkorb, so dass dieser rückwärts in einen der Sessel fiel.
Matt atmete tief durch und maß sein Ebenbild mit Eiseskälte. „Das ist das letzte Mal, dass ich dir deine Gemeinheiten durchgehen lasse. Und nun raus... Verschwinde aus meinem Leben!“
„Was ist denn hier los?“
Chelsea und Dean standen in der Tür und schauten staunend von einem zum anderen.
„Kleine Meinungsverschiedenheit, nicht der Rede wert“, erwiderte Matt und strich sein Jackett glatt, während er den anderen Arm schützend um Danielle legte.
Deans fassungsloser Blick blieb schließlich an Mason hängen, der sich gerade aus dem Sessel hochrappelte. Verständnislos schüttelte er den Kopf.
„Das... das glaube ich jetzt nicht...“
Chelsea beobachtete ihrerseits mit offenem Mund, wie Mason schließlich an ihr vorbei zur Tür ging, während er sich das schmerzende Kinn rieb.
„Schönen Tag noch allerseits“, sagte „Matts Spiegelbild“ und blinzelte ihr trotz seiner Schmerzen herausfordernd zu.
„Wow!“ Chelsea schaute hinüber zu Danielle, die, etwas blass um die Nase, an Matts Schulter lehnte. „Den Kerl gibt’s tatsächlich zweimal! Ob ich wohl einen davon abhaben könnte?“
*
„Du bist ja so schweigsam“, bemerkte Manuel mit einem Seitenblick auf Claudia, die gedankenversunken neben ihm im Jeep saß, während sie auf die Baustelle hinausfuhren, um sich mit Edward zu treffen. „Hat unser kleines Familienmeeting dir die Sprache verschlagen?“
„Tja, so könnte man es auch ausdrücken“, erwiderte seine Frau. „Deine Mutter jedenfalls schien nicht sehr begeistert von mir zu sein.“
Manuel lachte.
„Mein Bruder dafür umso mehr.“
Claudia sah ihn überrascht an.
„Wie kommst du denn darauf?“
„Na hör mal, so wie er dich angesehen hat... Als würdest du von einem anderen Stern kommen!“ Manuel fuhr den Wagen auf einen der provisorischen Parkplätze, lehnte sich zurück und betrachtete seine Frau liebevoll von der Seite. „Etwas Perfektes wie dich hat er mir eben nicht zugetraut. So ist er, mein großer, schlauer Bruder.“
Sie lächelte bescheiden.
„Du übertreibst.“
„Kein bisschen, im Gegenteil.“
Spontan zog er sie zu sich heran und gab ihr einen Kuss.
In diesem Augenblick riss jemand schwungvoll die Wagentür auf. Erschrocken fuhren beide auseinander und sahen in Alex` lachendes Gesicht.
„Hey ihr Turteltäubchen, ich störe ja nur ungern, aber die Arbeit ruft! Alles andere muss leider bis heute Abend warten.“
„Sklaventreiber“, kommentierte Manuel schmunzelnd, während sie gemeinsam damit begannen, die Ausrüstung aus dem Wagen zu laden. „Was macht eigentlich dein kleines Date von gestern?“
„Faucht, beißt und kratzt. Und sieht mit ihrem Gipsfuß absolut sexy aus.“
Claudia blickte erstaunt auf.
„Gipsfuß? Der Unfall auf dem Weg zu den Höhlen?“
Alex nickte bedauernd.
„Ja, Miss Parker wird uns heute sicher nicht dahin begleiten. Wirklich schade, wenn ihr mich fragt.“
„Zum Glück hast du ja ihre Adresse“, grinste Manuel. „Oder etwa nicht?“
„Ein Kavalier genießt und schweigt“, erwiderte Alex augenzwinkernd.
Lachend machte sich das kleine Team auf den Weg zum ersten Höhleneingang, wo sie mit Edward Hamilton verabredet waren.
Unterwegs wanderten Claudias Gedanken sofort wieder zurück zu diesem merkwürdigen Familientreffen im Hause Cortez...
Madame Dolores` dunkle Augen hatten sie förmlich durchbohrt, während sie einander vorgestellt wurden, und auch später spürte Claudia die prüfenden Blicke von Manuels Mutter ständig auf sich ruhen. Ein Gespräch mit ihr war nur sehr schleppend in Gang gekommen, und erst Marinas Auftauchen hatte die Situation schließlich etwas entspannt. Manuels Schwester war sehr nett zu ihr gewesen, aufgeschlossen und freundlich, aber Claudia war das unbestimmte Gefühl nicht losgeworden, dass Madame Dolores gerade das überhaupt nicht passte.
Und dann war da noch Stefano... unverschämt attraktiv, schlank und sportlich, ein Mann, in dessen Gegenwart sich ihr Pulsschlag sofort zu beschleunigen schien. Er war nicht unfreundlich gewesen, ganz im Gegenteil, doch sie fühlte sich in seiner Gegenwart irgendwie befangen. Und immer dann, wenn sich ihre Blicke wie zufällig getroffen hatten, spürte sie, dass Dolores sie beobachtete, argwöhnisch und misstrauisch, lauernd...
„Mach dir keine Sorgen wegen meiner Mutter“, hörte sie Manuel plötzlich sagen, als hätte er ihre Gedanken erraten. „Sie ist manchmal etwas eigenartig, und wenn die Karten ihr frühmorgens nichts Gutes verheißen, dann ist der Tag gelaufen, egal was auch geschieht.“
Claudia sah ihn erstaunt an.
„Woher wusstest du, dass ich gerade über sie nachgedacht habe? Kannst du auch Hellsehen?“
Manuel schmunzelte und legte den Arm um sie.
„Ich spüre schon die ganze Zeit, was dich beschäftigt, dazu braucht man keine mystischen Fähigkeiten.“
„Ist das so offensichtlich?“ Claudia seufzte. „Das tut mir leid, aber irgendwie hat deine Mutter mir das Gefühl vermittelt, als sei ich eine unerwünschte Fremde. Und dabei hatte ich mich wirklich gefreut, endlich deine Familie kennenzulernen.“
„Sie muss sich erst an den Umstand gewöhnen, dass ihr Jüngster glücklich verheiratet ist“, erwiderte Manuel, doch Claudia verzog skeptisch das Gesicht. „Komisch, normalerweise freuen sich Mütter darüber, wenn ihre Kinder glücklich sind.“
Manuel nickte.
„Wie ich schon sagte, meine ist da wohl etwas speziell. Aber lass ihr etwas Zeit, mit manchen Dingen tut sie sich eben ein wenig schwer.“
Sie unterbrachen ihr Gespräch, als sie sahen, wie Edward Hamilton aus seinem Dienstwagen stieg und mit einem geschäftsmäßig verbindlichen Lächeln auf sie zukam.
„Also dann, wollen wir mal eintauchen in die unergründlichen Tiefen des kalifornischen Felsgesteins“, raunte Manuel seiner Frau zu und gab ihr einen liebevollen Klaps. „Komm schon, Claudia, mach dir keine Gedanken, wir beide haben uns. Alles andere ist unwichtig.“
*
„Randy, Besuch für dich“, verkündete Stefano, als er den Zellentrakt im Sunset City Police Departements betrat.
Der junge Mann sprang von seiner Pritsche hoch und blickte erwartungsvoll zur Tür, in der Hoffnung, Andrew Hamilton käme mit neuen Nachrichten. Aber es war nicht sein Anwalt, der hinter Detektiv Cortez den Raum betrat, sondern Edward Hamiltons Tochter Caroline.
„Hallo“ Zögernd trat sie näher und sah sich etwas befremdet um. Sie und Randy verband bereits geraume Zeit eine kameradschaftliche Freundschaft. Trotzdem überraschte ihn ihr Besuch.
„Cary? Weiß dein Dad, dass du hier bist?“
Etwas unwirsch zog sie die fein geschwungenen Augenbrauen zusammen.
„Wieso denkt eigentlich jeder in Sunset City, ich müsste bei allem, was ich tue, zuerst meinen Vater um Erlaubnis fragen?“
„Entschuldige, das war nicht böse gemeint“, lenkte Randy schnell ein und zwang sich zu einem Lächeln. „Danke, dass du dich um mich sorgst.“
Caroline strich nervös ihr blondes Haar zurück und trat näher an die Gitterstäbe heran.
„Ich wollte eigentlich erst mit meinem Onkel sprechen, aber da ich ihn nicht erreichen konnte, bin ich sofort hierhergekommen, um dir zu sagen, dass du dir keine Sorgen mehr zu machen brauchst. Es gibt einen Zeugen für das, was am Pier geschehen ist.“
Randy starrte sie an, und auch Stefano war sofort hellhörig geworden.
„Was sagst du da, Caroline? Was für einen Zeugen?“
„Mich.“ Sie war sich der Wirkung ihrer Worte bewusst und nickte bestätigend, als sie Randys ungläubigen Blick sah. „Ich weiß, wer den Mann umgebracht hat, und ich weiß auch, wer den Auftrag dazu gab, denn ich habe es mit eigenen Ohren gehört.“
Stefano räusperte sich auffällig.
„Ähm.. Caroline, vielleicht sollten Sie mit dem, was Sie zu sagen haben, warten, bis entweder Ihr Vater oder Ihr Onkel dabei ist.“
Caroline sah ihn fragend an.
„Aber wieso denn, Detektiv? Was sollte mein Onkel dagegen haben, wenn es darum geht, die Wahrheit herauszufinden, die seinen Mandanten entlastet?“
„So einfach ist das nicht“, erklärte Stefano vorsichtig. „Immerhin sind Sie damit eine wichtige Zeugin, und Ihr Onkel würde vielleicht lieber erst mit Ihnen allein über alles reden.“
„Warum sollte er das? Das würde überhaupt nichts an der Tatsache ändern, dass ich gehört habe, wer den Mord begangen hat“, erwiderte Caroline überzeugt und wandte sich wieder an Randy, der gespannt die Gitterstäbe umklammerte, um kein Wort von dem zu verpassen, was sie zu sagen hatte.
„Wer war es, Cary? Sag schon, wer hat mich in diese verflixte Lage gebracht?“
„Ich war noch unterwegs, etwa zu der Zeit, als mein Vater und Onkel Andrew hier auf dem Revier waren“, begann Caroline zu erzählen. „Unten am Strand habe ich zufällig gehört, wie sich zwei Männer über den Mord unterhalten haben.“ Sie überlegte kurz und meinte dann mit einem kurzen Blick auf Stefano: „Na ja, nicht direkt, aber sie sprachen davon, dass das Ganze eigentlich ein bedauerlicher Unfall gewesen sei. Und dass Hughes sie nicht verpfeifen würde, weil er ja selbst mit in der Sache drinsteckt.“
Stefano blies geräuschvoll die Luft zwischen den Zähnen aus.
„Hughes...“, knurrte er wissend. In jeder denkbaren zwielichtigen Aktion hatte dieser schmierige, kleine Ganove seine Finger mit im Spiel! Würde es dieses Mal reichen, um ihn endlich dingfest zu machen?
Gespannt trat er einen Schritt auf Caroline zu.
„Wissen Sie, wer diese Männer waren?“
Caroline nickte.
„Der eine heißt Ramon, er sah aus wie ein Mexikaner, und den anderen nannte er Scotti. Der war größer und kräftiger, mit einer Stirnglatze. Wenn ich richtig verstanden habe, arbeiten die beiden sonst für Mister Parker. Und sie befürchteten, dass dieser sehr wütend wäre, wenn er davon erfahren würde, dass sie einen Auftrag außer der Reihe von diesem Hughes angenommen hatten.“
„Der Angriff war also ein Auftrag?“
„Ja, so habe ich es verstanden.“
Stefano überlegte einen Moment.
„Ich glaube, ich kenne die Typen. Wenn Sie einverstanden sind, Caroline, gebe ich sofort eine Fahndung raus. Waren Sie allein, als Sie das Gespräch gehört haben?“
Caroline zögerte kurz und nickte dann mit zusammengepressten Lippen.
„Ja, ich war allein.“
„Verdammt“, entfuhr es Stefano. „Es wäre besser gewesen, es gäbe noch einen weiteren Zeugen. Aber egal, ich hoffe, wir kriegen sie auch so.“
Randy umklammerte aufgeregt die Gitterstäbe.
„Cary... ich weiß gar nicht, was ich sagen soll...“
„Langsam, Randy“, bremste Stefano den Enthusiasmus des Inhaftierten . „Zuerst müssen wir die Aussage überprüfen. Ich hoffe nur, dass sich alles bestätigt, was Caroline uns gerade erzählt hat.“
*
„Was willst du damit sagen, Brendon?“
Bobby packte sein Gegenüber am Arm und sah ihn mit unheilvoll zusammengekniffenen Augen an. „Rede gefälligst! Was soll das bedeuten, wir würden bald mehr Ärger haben, als uns lieb wäre?“
„Lass mich los, verdammt“, zischte der junge Mann und stand auf. Er warf das Geld für seinen Kaffee auf den Tisch. „Komm mit nach draußen. Oder willst du riskieren, dass uns das ganze Lokal zuhört!“
Bobby musterte den Schein, den Brendon hingelegt hatte und registrierte, dass es samt Trinkgeld auch für seinen Kaffee reichte. Er grinste zufrieden und folgte ihm hinaus.
Hinter dem Café-Shop drehte Brendon sich um.
„Also hör zu! Jemand hat deine beiden Gorillas belauscht, wie sie sich über den Mord unterhalten haben.“
“Wer?“, fragte Bobby sofort.
Brendon winkte ab.
„Völlig unwichtig, wer es war. Auf jeden Fall wird die Polizei bald die Namen der beiden auf ihrer Fahndungsliste haben... Und deinen auch, Hughes!“
Mit einer blitzschnellen Bewegung packte Bobby ihn an der Gurgel.
„Du hast mich verpfiffen, du Bastard!“
„Unsinn“, ächzte Brendon und schlug seine Hand weg. „Ich bin doch nicht blöd, Mann! Wenn du hängst, hänge ich mit, das ist mir völlig klar! Was meinst du denn, warum ich dir das alles erzähle!“
Bobby starrte ihn an. Seine Gedanken arbeiteten fieberhaft.
„Verdammt“, brachte er schließlich heraus und fuhr sich mit den Fingern nervös durchs Haar. „Die beiden müssen verschwinden.“
„Und du am besten gleich mit“, erwiderte Brendon. „Zumindest, bis etwas Gras über die Sache gewachsen ist.“
Bobby nickte und fluchte noch einmal unflätig.
„Hör zu, Mann...“, sagte er schließlich drohend. „Wenn du mich gelinkt hast, wird es dir leidtun, damit das klar ist!“
„Warum sollte ich so etwas tun?“
„Keine Ahnung...“, knurrte Bobby. „Aber eines weiß ich: wenn ich den Kerl erwische, der uns an die Bullen verraten hat, dann wird derjenige es bitter bereuen!“ Er tippte mit dem Zeigefinger auf Brendons Brust. „Verhalte dich ruhig, Kleiner, zu deiner eigenen Sicherheit, und zwar so lange, bis wir wieder voneinander hören.“
Er sah sich noch einmal schnell nach allen Seiten um und verschwand in einer Seitengasse.
Brendon lehnte sich an das kühle Mauerwerk hinter sich und atmete tief durch.
„Hoffentlich verschwindest du mit deinen beiden Schlägern für ganz lange Zeit, Hughes. Am besten für immer!“
*
Als Edward nach seinem Treffen mit den Archäologen bei den Höhlen am späten Nachmittag in sein Büro zurückkehrte, war Elisabeth bereits nach Hause gegangen. Auf seinem Schreibtisch lag ein Notizzettel, worauf vermerkt war, dass Caroline schon mehrmals versucht hätte, ihn telefonisch zu erreichen.
Während er noch überlegte, was seine Tochter wohl Wichtiges auf dem Herzen gehabt haben könnte, fiel sein Blick auf eine Boulevardzeitung, die neben dem Faxgerät lag. „L.A. Daily Planet” las er und wunderte sich, wie so ein Blatt in sein Büro kam. Anscheinend war seine Assistentin noch nicht beschäftigt genug!
In diesem Augenblick begann das Telefon auf Elisabeths Schreibtisch zu läuten.
Er nahm den Hörer ab. Am anderen Ende der Leitung war Andrew, und seine Stimme klang ungehalten.
„Wir haben ein Problem!“
„Wenn es um die Strafverteidigung von diesem Walker geht, dann ist das ab sofort dein Problem, Andrew“, erwiderte Edward abweisend und begann nicht sonderlich interessiert in der Zeitschrift seiner Sekretärin zu blättern. „Ich habe hier eine Firma zu führen und kann mich nicht zusätzlich…“
„Wenn ich sage, wir haben ein Problem, dann meine ich das auch so“, ranzte Andrew ihn ungeduldig an. „Bist du allein?“
„Ja verdammt…“
„Dann hör gut zu. Vor ein paar Minuten hatte ich ein Gespräch mit diesem Ermittler, Detektiv Cortez vom SC Police Departement. Er teilte mir mit, dass die neu vorliegenden Beweise nach eingehender Prüfung eventuell schon ausreichen, um meinen Mandanten auf freien Fuß zu setzen. Und er hätte soeben erfahren, dass die Staatsanwaltschaft beabsichtigt, Randy...“
„Wovon zum Teufel redest du?“ fuhr ihm Edward ins Wort. „Welche neuen Beweise?“
Am anderen Ende der Leitung erklang ein ungehaltenes Schnaufen.
„Ich nehme an, du hast noch nicht mit Caroline gesprochen?“
„Mit Caroline? Was hat meine Tochter mit der Sache zu tun?“
„Gute Frage, mein Lieber. Ich rede von einer wichtigen Zeugenaussage im Fall Randy Walker, die deine Tochter heute gemacht hat. Sie weiß angeblich, wer den Mord am Strand begangen hat.“
„Sie weiß... waaas?“
Ungläubig und voller böser Vorahnungen zog Edward die Augenbrauen zusammen. „Da muss ein Irrtum vorliegen, Andrew, das ist völlig unmöglich!“
„Sie war heute Mittag auf dem Revier und hat ihre Aussage zu Protokoll gegeben.“
„Das kann ja wohl nicht...“, entfuhr es Edward. Er biss sich auf die Zunge und versuchte, einen einigermaßen ruhigen Ton anzuschlagen. „Wo bist du, Andrew?“
„In meinem Büro.“
„Was gedenkst du zu tun?“
„Ich habe zunächst angeordnet, dass ich auf keinen Fall dulde, dass Randy Walker ohne mein Beisein von irgendwem vernommen wird.“
„Ich verstehe. Werden die sich daran halten?“
„Das kann ich nicht garantieren. Wenn der Staatsanwalt auftaucht...“
„Dann beweg gefälligst deinen Allerwertesten dorthin und versuche zu verhindern, dass Carolines Aussage an die große Glocke gehängt wird!“, fauchte Edward. „Ohne mich läuft in diesem Fall gar nichts! Ich bin in spätestens einer Stunde da.“
Ohne eine Antwort abzuwarten, knallte er den Hörer auf die Anlage und starrte gedankenverloren auf die achtlos aufgeschlagene Zeitung vor sich.
Worauf hatte seine Tochter sich da eingelassen? Verdammt nochmal, anscheinend war sie sich überhaupt nicht dessen bewusst, in was für eine Gefahr sie sich damit begab!
Er musste sofort nach Hause und mit ihr sprechen...
Noch während er angestrengt überlegte, wie er diese brisante Situation am besten entschärfen konnte, wurde ihm plötzlich bewusst, worauf er schon die ganze Zeit geschaut hatte, ohne es richtig wahrzunehmen...
Eine dick gedruckte schwarze Überschrift sprang ihm aus dem Boulevardblatt, das da vor ihm lag, förmlich ins Auge:
„Neue Austin- Creations- Kollektion ein sensationeller Erfolg in der internationalen Modebranche“, las er, und das Foto darunter ließ ihn erstarren:
Der Modezar persönlich, Ronald Austin, strahlend, gutaussehend, im maßgeschneiderten dunklen Anzug, und an seiner Seite, lächelnd und wunderschön... Sophia!