Matt spürte, wie sich sein Magen schmerzhaft zusammenzog.
„Was willst du hier?“, fragte er und seine eigene Stimme klang fremd in seinem Ohr.
Marina erhob sich zögernd und kam langsam auf ihn zu.
„Ich habe dich vermisst...“ Sie hob die Hand, um ihn zu berühren, aber er wich zurück und starrte sie fassungslos an.
„Du hast... was? Das kann nur ein schlechter Scherz sein!“ Kopfschüttelnd strich er sich mit der Hand über die Stirn. „Für gewöhnlich wache ich an dieser Stelle immer schweißgebadet aus dem Albtraum auf.“
„Matt…“
Er sog hörbar die Luft ein.
„Zum letzten Mal: Was willst du?“
Enttäuscht ließ sie ihre Hand wieder sinken und nagte nervös an ihrer Unterlippe, eine Eigenschaft, die ihm noch immer sehr vertraut war.
„Ich dachte, ich könnte… wieder nach Hause kommen, zu dir…“
„Nach Hause?“ Er lachte verächtlich. „Das hier ist seit langer Zeit schon nicht mehr dein Zuhause! Vielleicht erinnerst du dich daran, dass du es warst, die mich verlassen hat, bei Nacht und Nebel, ohne ein Abschiedswort, ohne irgendeine Erklärung. Du hast dich nicht ein einziges Mal gemeldet während all der Zeit! Und jetzt willst du mir allen Ernstes einreden, du hättest mich vermisst?“ Er schüttelte den Kopf und hob abwehrend die Hände. „Was glaubst du eigentlich, wie ich mich gefühlt habe, Marina? Ich habe dich mehr geliebt als alles andere auf der Welt, und du verschwindest einfach mit meinem Bruder.“ Seine Augen funkelten sie wütend an. „Wo zum Teufel steckt der Mistkerl überhaupt?“
„Ich habe ihn verlassen“, antwortete sie mit zitternder Stimme.
„Gratuliere, darin hast du ja eine Menge Übung.“, höhnte er.
„Matt!“, rief sie flehend. „Bitte…“
Er zog erstaunt die Stirn in Falten.
„Was willst du, Marina? Was erwartest du denn? Soll ich vielleicht die Arme ausbreiten und sagen: Hallo, schön, dass du wieder da bist, lass uns einfach die letzten zwei Jahre vergessen?“
Sie schüttelte den Kopf.
„Nein, natürlich nicht. Aber du könntest mich wenigstens hereinbitten.“
„Ich halte das für keine gute Idee.“ Seine Stimme klang kalt und abweisend und sein Blick sagte ihr, dass es kein Zurück für sie beide geben würde, doch noch war sie nicht gewillt, das so einfach zu akzeptieren.
„Matt, bitte! Ich bin total fertig, und ich weiß nicht, wohin ich gehen soll.“
„Deine Familie lebt noch immer in dieser Stadt, deine Mutter, dein Bruder Stefano. Geh doch zu ihnen.“, entgegnete er scheinbar ungerührt.
„Aber du bist meine Familie!“
„Nicht mehr, Marina. Wir sind geschieden und du selbst hast es so gewollt.“
Sie sah ihn in stummer Verzweiflung an und begann zu weinen.
Er betrachtete sie nachdenklich.
Sie hatte sich kaum verändert. Noch immer das helle, schulterlange Haar, die blauen Augen, ihre tadellose Figur in dem dunklen Reisekostüm. Sie schien ihm nur blasser und schmaler als früher, sie wirkte hilflos und irgendwie verloren.
Einen Augenblick lang tat es ihm fast schon wieder leid, dass er so schroff und abweisend gewesen war. Nach kurzem Zögern öffnete er widerwillig die Tür und forderte sie durch eine Handbewegung auf einzutreten.
„Für heute Nacht kannst du bleiben. Aber ich möchte, dass du dir gleich morgen früh eine Unterkunft suchst.“
Sie schluckte und nickte stumm, während er begann, ihr umfangreiches Gepäck ins Haus zu tragen. Als sie unschlüssig stehen blieb, deutete er nach oben.
„Du weißt ja, wo das Gästezimmer ist. Zu essen oder zu trinken findest du in der Küche.“
„Matt, bitte lass uns reden!“
„Worüber? Es gibt nichts zu bereden. Wenn du morgen das Haus verlässt, wirf den Schlüssel einfach in den Briefkasten. Gute Nacht, Marina.“
Sie wandte sich um und ging langsam, mit hängenden Schultern, die Treppe hinauf.
Als er hörte, wie oben die Tür zum Gästezimmer ins Schloss fiel, atmete er tief durch. Dann löschte er das Licht, öffnete die Verandatür und trat hinaus in die sternenklare Nacht.
Das wunderbare Gefühl der Schwerelosigkeit in seinem Bauch war verschwunden und machte einem ohnmächtigen Chaos von Wut und Verbitterung Platz, das sich unaufhaltsam in seinem Inneren ausbreitete.
Warum nur, warum, warum… Und warum gerade jetzt?
An Schlaf war nicht zu denken.
Als die Schatten der Vergangenheit in seinem Kopf endlich zur Ruhe kamen und ihn die Müdigkeit überwältigte, dämmerte bereits der Morgen.
*
Caroline saß am Bett ihrer Mutter und hielt deren Hand.
Seitdem Sophia wusste, dass sie ihr Baby verloren hatte, starrte sie unentwegt die Wand an und sprach kein einziges Wort mehr.
Caroline strich ihr liebevoll übers Haar. Inzwischen fragte sie sich ernsthaft, wo ihr Vater die ganze Zeit blieb. Wie konnte er einfach davonlaufen, so als schmerzte das, was passiert war, nur ihn allein! Ihre Mutter brauchte ihn doch jetzt! Gemeinsam hätten sie beide eher eine Chance, das Geschehene zu verkraften und sich gegenseitig Mut zu machen, um vielleicht dadurch wieder zueinander zu finden.
Sie überlegte, wann ihre Eltern damit angefangen hatten, sich gegenseitig das Leben schwer zu machen. Es war mehr als offensichtlich, dass die Ehe kriselte, obwohl beide nach außen hin immer das perfekte Paar mimten. In den eigenen vier Wänden kam es jedoch entweder ständig zu Reibereien, oder man ging sich gezielt aus dem Weg.
Edward war oft unterwegs und Sophia fühlte sich einsam, vernachlässigt und unverstanden. Sie versuchte verzweifelt, die Leere in ihrem täglichen Einerlei durch verschiedene ehrenamtliche Tätigkeiten auszufüllen, und Caroline vermutete, dass es inzwischen auch die eine oder andere heimliche Liebesaffäre im Leben ihrer Mutter gegeben hatte.
Und dann war da noch Sophias kleine französische Boutique, in der sie ihre Vorliebe für Mode begeistert und engagiert ausleben konnte. Mit tatkräftiger Unterstützung ihrer Jugendfreundin und äußerst erfolgreichen Modedesignerin Kelly Morano hatte sie den kleinen Laden liebevoll gestaltet und schien endlich eine sinnvolle Aufgabe für sich gefunden zu haben.
Leider war Edward weder von Kelly Morano, noch von der Tatsache sonderlich begeistert, dass seine Ehefrau in ihrer gehobenen gesellschaftlichen Position einer geregelten Arbeit nachging. Er fand, sie habe das nicht nötig, ignorierte ihre Einwände und verkaufte die Boutique kurzerhand. Für Sophia war das wie ein Schlag ins Gesicht gewesen, und trotzdem sie nach außen hin auch weiter den Schein gewahrt hatte, hasste sie ihren Gatten für diese Tat und hatte ihm diese Eigenmächtigkeit nie verziehen.
Caroline lächelte bitter.
Sie selbst hatte zu ihrem Vater immer ein sehr enges Verhältnis gehabt, ganz anders als ihr zwei Jahre jüngerer Bruder Corey, der sich von ihm ständig benachteiligt und unverstanden fühlte und gegen Edward rebellierte, sooft sich die Gelegenheit dazu bot. Aber auch sie selbst wusste ebenso gut, dass ihr Dad nicht nur großzügig, sondern auch gnadenlos und unerbittlich sein konnte, wenn etwas nicht so lief, wie er es sich vorstellte. Der Verkauf von Sophias Boutique war das beste Beispiel dafür gewesen. Edward war bereit, alles für seine Familie zu tun, aber er verlangte im Gegenzug, dass sich ihm alle Beteiligten bedingungslos unterordneten.
Als Kind war ihr das normalerweise nicht sonderlich schwergefallen, aber jetzt, an der Schwelle zum Erwachsenwerden, wurde sein Regime zusehends zu einer Belastung. Sie überlegte sogar, ob sie ihr naturwissenschaftliches Fernstudium vielleicht doch lieber aufgeben und dafür einen Direktstudienplatz in Los Angeles belegen sollte, um eine Zeitlang von zu Hause wegzukommen und etwas Abstand zu gewinnen.
Andererseits, wenn sie auch noch ging, würde das ihre Mutter in der gegenwärtigen Situation überhaupt verkraften?
Voller Sorge blickte sie in deren bleiches Gesicht und verwarf den Gedanken sofort wieder.
Nein, sie konnte nicht fort, zumindest jetzt noch nicht…
Liebevoll drückte sie die eiskalte Hand ihrer Mum.
„Daddy wird sicher gleich hier sein.“
Sophias Lippen zuckten, aber sie erwiderte nichts.
Rein äußerlich hätte man kaum vermutet, dass es sich bei den beiden Frauen um Mutter und Tochter handelte. Sophias schulterlanges Haar war dunkel und ihr Gesicht fein, fast zart geschnitten, mit hohen Wangenknochen und blaugrünen Smaragdaugen. Caroline dagegen ähnelte mit ihren energischen Gesichtszügen mehr ihrem Vater. Sie hatte ein sehr ausgeprägtes Kinn, volle, sinnliche Lippen und eine etwas zu breite Nase, ein Aussehen, durch das sie noch ein wenig kindlich, aber gleichzeitig umso anziehender wirkte. Auch war sie nicht ganz so schlank wie ihre Mutter, aber Sophia pflegte immer scherzhaft zu sagen, das sei nur noch ein Rest von Babyspeck, der sicher bald verschwinden würde.
Caroline strich ihr langes hellblondes Haar zurück und drehte sich erwartungsvoll um, als sie hörte, wie die Tür zum Krankenzimmer leise geöffnet wurde.
Edward trat zögernd ein, und an der etwas linkischen Art, wie er sich bewegte bemerkte sie sofort, dass er getrunken hatte.
Leicht schwankend kam er näher. Sein Haar war zerzaust, und sein sonst tadellos sitzender Anzug zerknittert.
„Daddy“, rief sie beunruhigt und sprang auf. Er schob sie achtlos beiseite und blieb vor dem Bett seiner Frau stehen.
„Warum hast du das getan, Sophia?“, fragte er mit schwerer Zunge.
Caroline packte ihn am Arm.
„Was soll denn das, Dad? Wie kannst du Mum Vorwürfe machen? Sie kann doch nichts dafür!“
Er lachte nur höhnisch.
„Deine Mutter...“, sagte er bedeutungsvoll, ohne den Blick von Sophias blassem Gesicht abzuwenden „...hat es ja noch nicht einmal für nötig gehalten, mir zu sagen, dass sie schwanger war!“
„Wann hätte ich es dir denn sagen sollen? Du warst ja nie da.“, erwiderte seine Frau kaum hörbar.
„Eben“, knurrte er erbost. „Wer weiß, ob das Kind überhaupt von mir war!“
Sophia verlor jeglichen Rest an Gesichtsfarbe.
„Wie kannst du es wagen…“ Mühsam richtete sie sich auf, vor Wut und Empörung am ganzen Körper zitternd. Sekunden später begann der Überwachungsmonitor, mit dem sie verbunden war, laut Alarm zu schlagen. „Das kann nicht dein Ernst sein, du Mistkerl“, flüsterte sie mit letzter Kraft und griff sich an die Stirn, denn sie hatte plötzlich das Gefühl, das Zimmer würde sich im Kreis drehen. „Raus... verschwinde...“ Sie hörte kaum noch ihre eigene Stimme und sank kraftlos nach hinten in die Kissen.
„Mum!“, schrie Caroline entsetzt. Sie drehte sich panisch nach ihrem Vater um. „Hol einen Arzt, Dad! Na los, mach schon!“
Endlich löste sich Edward aus seiner Starre. Schlagartig ernüchtert schien er endlich zu begreifen, was er angerichtet hatte. Er stürzte zur Tür, um Hilfe zu holen, als Dr. Mendes, gefolgt von einer Schwester, hereingeeilt kam.
„Was ist passiert?“, rief die Schwester, während der Doktor sofort damit begann, Sophias Vitalwerte zu überprüfen.
„Misses Hamilton bekommt eine Beruhigungsspritze“, ordnete er an. Dann wandte er sich mit ernster Miene an Edward und Caroline. „Bitte verlassen Sie jetzt das Krankenzimmer, die Patientin braucht unbedingt Ruhe. Gehen Sie am besten nach Hause und schlafen Sie ein wenig. Vor morgen früh wird Mrs. Hamilton sowieso nicht ansprechbar sein.“
Die Schwester reichte ihm die Spritze und schob die beiden Besucher konsequent zur Tür hinaus.
Caroline verließ wortlos die Klinik. Erst draußen vor dem Eingang drehte sie sich wütend nach ihrem Vater um.
„Das war ja wohl das Letzte!“, fauchte sie ihn ungehalten an. „Wie konntest du nur so etwas Gemeines sagen! Nicht zu fassen...“
„Das verstehst du nicht“, wehrte Edward ab und wollte gehen, aber seine Tochter hielt ihm am Arm fest.
„Oh doch, ich verstehe sehr gut!“, rief sie ungehalten. „Mum wollte dich sicher mit der guten Nachricht überraschen und dafür eine passende Gelegenheit abwarten, aber anstatt sie jetzt zu trösten und ihr beizustehen, unterstellst du ihr aus gekränkter Eitelkeit oder, weiß der Teufel was, solche schlimmen Dinge!“ Sie schüttelte verständnislos den Kopf. „Warum tut ihr euch das an? Warum streitet ihr ständig und verletzt euch gegenseitig? Ihr liebt euch doch, du und Mum! Oder, Daddy?“
Edward starrte in die Nacht hinaus.
„Ich weiß es nicht, Cary...“, sagte er resigniert. „Ich weiß gar nichts mehr...“
*
Übernächtigt und frustriert stand Matt an diesem Morgen viel zu früh auf, duschte eiskalt und war schon lange vor seiner persönlichen Assistentin im Büro. Dort stürzte er sich förmlich in die Arbeit, um nicht länger über Marina und ihr unerwartetes Auftauchen nachgrübeln zu müssen.
So gut es ging, versuchte er die privaten Gedanken aus seinem Kopf zu verbannen und sein inneres Gleichgewicht wenigstens etwas wiederherzustellen, während er sich auf die Versammlung mit den Stadtverordneten vorbereitete, deren heutiges Hauptthema der Bau der neuen Ferienanlage war.
Seine gründlichen Vorbereitungen bewährten sich, denn er stand auf der Versammlung urplötzlich allein da. Sein Geschäftspartner glänzte durch unbegründete Abwesenheit.
Doch Matt erwies sich als kompetent genug, um die Verhandlungen auch ohne diesen zu führen und brachte letztendlich alles gut und zu seiner eigenen Zufriedenheit über die Bühne.
Zurück im Büro bat er Ronda, seine Assistentin, ihn mit Edward zu verbinden, doch der war anscheinend unauffindbar. Erst am späten Nachmittag erfuhr Matt durch einen Anruf von Caroline Hamilton, was passiert war. Spontan beschloss er, persönlich nach seinem Geschäftspartner zu sehen.
Auf dem Weg dorthin fiel ihm plötzlich seine abendliche Verabredung mit Danielle ein. Er würde sich beeilen müssen, wenn er in der wenigen Zeit, die ihm bis zu seinem Wiedersehen mit ihr noch blieb, alles andere klären wollte. Vor allem hoffte er, dass Marina inzwischen aus seinem Haus und vor allem ein für alle Mal aus seinem Leben verschwunden war, wenn er heimkam. Ihr unverhofftes Auftauchen hatte alles Vergangene gnadenlos wieder aufgewühlt und heute Morgen hatte er sich geschworen, dass dies die letzte schlaflose Nacht gewesen war, die er wegen seiner Exfrau verbracht hatte. Er wollte endlich die Vergangenheit begraben und damit beginnen, sein Leben zu genießen. Und er wollte wieder die Schmetterlinge im Bauch spüren, wenn er in Danielles sanfte Bernsteinaugen sah.
Der Gedanke an sie beflügelte ihn, während er sein schwarzglänzendes Mercedes-Cabriolet schwungvoll vor der prächtigen Hamilton-Villa einparkte.
Caroline öffnete ihm die Tür.
„Matt! Gut, dass du da bist!“ Erleichtert umarmte sie ihn.
„Wie geht es ihm?“, fragte er besorgt.
„Er hat eine ganze Menge getrunken und ist ziemlich daneben“, erwiderte sie und berichtete kurz, was sich letzte Nacht ereignet hatte. Sie kannte Matt als einen engen Freund und Vertrauten der Familie und sah keinen Grund dafür, irgendetwas vor ihm zu verheimlichen. Außerdem tat es ihr gut, mit jemandem über die Sache sprechen zu können.
Er zog besorgt die Stirn in Falten. Das hörte sich nicht gut an.
„Dad hat die ganze Zeit über im Wohnzimmer gesessen, nichts gegessen und nur vor sich hin gegrübelt. Er will mit niemandem sprechen und zu Mum in die Klinik will er auch nicht.“ Verzweifelt blickte sie zu ihm auf. „Das alles macht mir schreckliche Angst! Vielleicht kannst du ihn ja zur Vernunft bringen, während ich Mum besuche.“
Er legte ihr beruhigend seine Hand auf die Schulter.
„Ich werde sehen, was ich tun kann, Cary“, versprach er. „Grüß deine Mutter von mir.“
Sie nickte und küsste ihn auf die Wange.
„Das werde ich. Danke, Matt.“
Er sah ihr nachdenklich hinterher, wie sie schnellen Schrittes auf die Strandpromenade einbog.
`Arme Caroline`, dachte er `Deine heile Welt kommt ganz schön ins Wanken, seit du erwachsen geworden bist und vor den Problemen deiner Eltern nicht mehr die Augen verschließen kannst.`
Er atmete noch einmal tief durch und trat ins Haus.
*
Danielle und Chelsea hatten den Tag am Strand verbracht. Sie sonnten sich, badeten im Meer und faulenzten nach Herzenslust.
„So viel Freizeit macht mich ganz schwindelig“, lachte Chelsea, als sie sich schließlich auf den Weg zurück zu Mitchs Haus machten.
Danielle fieberte in Gedanken bereits ihrer abendlichen Verabredung mit Matt entgegen. Sie freute sich auf das Wiedersehen und konnte an gar nichts anderes denken.
Plötzlich jedoch blieb sie erschrocken stehen.
„Chelsea!“
„Was ist?“
„Ich kann heute Abend nicht ausgehen! Ich hab nichts Passendes anzuziehen!“
Ihre stets praktisch denkende Freundin verdrehte theatralisch die Augen und lachte.
„Na, du machst mir Spaß! Wozu gibt es in der Mainstreet unzählige Modegeschäfte und Boutiquen? Benutze deinen letzten Gehaltsscheck und los geht’s!“
Gesagt, getan. Kurze Zeit später zogen die beiden gut gelaunt los und fanden recht schnell eine Boutique mit verheißungsvollen Auslagen. Hier konnte man vom Negligé über Dessous bis hin zum Kostüm fürs Büro alles finden, was ein Frauenherz begehrte.
Sie suchten und stöberten in aller Ruhe und hatten eine Menge Spaß.
Schließlich entdeckte Danielle ein nachtblaues Cocktailkleid aus edlem, dezent glänzendem Stoff. Vorn und hinten hatte es einen V-Ausschnitt und war in eleganter Wickeloptik figurbetonend gerafft. Am Rücken wurde es von einem verdeckten Reißverschluss zusammengehalten. Kurzentschlossen probierte sie es an und es passte hervorragend.
„Wow, das ist es!“, rief Chelsea begeistert. „Darin siehst du einfach umwerfend aus!“
Während sich Danielle noch selbstkritisch von allen Seiten im Spiegel betrachtete, trat eine junge Frau aus der Nachbarkabine. Über dem Arm trug sie zwei überaus zart aussehende Negligés aus feinstem Material.
„Hallo“, sagte sie freundlich und maß Danielle mit einem anerkennenden Blick. „Ihre Freundin hat Recht. Sie sehen toll aus in dem Kleid. Falls es für eine Verabredung gedacht ist, so wird er zweifellos begeistert sein.“
„Das will ich hoffen, wenn ich bedenke, wieviel es kostet“, erwiderte diese lächelnd.
„Sie scheinen einen sehr guten Geschmack zu haben.“, meinte die Fremde anerkennend. „Vielleicht könnten Sie mir ja kurz behilflich sein?“
„Und wobei? Suchen Sie auch ein passendes Kleid?“
„Nein, nichts für den Tag. Mehr etwas für die Nacht... eine ganz besondere Nacht, wenn Sie wissen, was ich meine.“ Die junge Frau wies auf die beiden Artikel, die sie über dem Arm trug. „Ich kann mich einfach nicht entscheiden.“
„Okay“, nickte Danielle. „Lassen Sie mal sehen.“
Die beiden Negligés waren wunderschön, hauchzart und fast durchsichtig, mit herrlicher Spitze eingesäumt und äußerst gewagt ausgeschnitten. Das eine war weiß, das andere pastellblau. Die Fremde hielt abwechselnd beide Teile vor ihren schlanken Körper.
Danielle überlegte nicht lange und deutete spontan auf das Blaue.
„Es passt ausgezeichnet zu Ihnen. Es bringt die Farbe Ihrer Augen zur Geltung.“
Die Frau hielt sich das Negligé noch einmal an, betrachtete sich prüfend im Spiegel und nickte dann zustimmend.
„Ja, ich glaube, Sie haben Recht. Das ist genau das Richtige. Damit wird es mir gelingen, den Mann, den ich liebe, zu beeindrucken.“ Sie drehte sich um. „Vielen Dank, Miss...“
„Danielle Belling.“
Die junge Frau streckte ihr erfreut die Hand entgegen.
„Freut mich sehr, Danielle! Ich bin Marina, Marina Shelton.“
Nachdenklich sah Danielle der jungen Frau nach, als diese die Boutique verließ.
Shelton? Das musste wohl ein Zufall sein! Ganz sicher...
„Miss?“ Die Stimme der Verkäuferin holte sie Sekunden später in die Wirklichkeit zurück.
„Ja, ich nehme das Kleid“, nickte sie zerstreut und verschwand in der Kabine, um sich wieder umzuziehen. Ihre Gedanken kreisten unaufhörlich um diese fremde Frau. War es möglich, dass sie etwas mit Matt zu tun hatte? Oder klopfte ihr Herz nur deswegen so heftig, weil sie den Namen „Shelton“ gehört hatte?
`Okay`, beschloss sie für sich. `Wenn wir wieder zu Hause sind, werde ich Mitch ein wenig ausfragen müssen.`
*
Matt fand Edward in einem bedauernswerten Zustand vor. Halb betrunken und unrasiert saß er wie ein Häufchen Unglück auf der Couch und haderte mit sich und der Welt. Erst als Matt sich zu ihm setzte und ihm das leere Whiskyglas aus der Hand nahm, schien er aus seinem Selbstbemitleidungs-Trance zu erwachen. Irgendwann fing er mit schwerer Zunge an zu erzählen, er ließ nichts aus, wollte sich alles von der Seele reden.
Geduldig hörte Matt ihm zu, denn er spürte, dass es seinem Geschäftsfreund guttat, jemandem seine Gefühle mitzuteilen.
Er selbst hielt jedoch mit seiner Meinung auch nicht hinter dem Berg und beschwor Edward, die Sache mit Sophia so bald wie möglich wieder in Ordnung zu bringen.
Schließlich hatte er seinen Geschäftspartner so weit überzeugt, dass dieser sich duschte, umzog und dann bereit war, seine Frau in der Klinik zu besuchen.
Gemeinsam verließen die beiden Männer das Haus, und Matt fuhr Edward zum Sunset City Memorial.
Inzwischen dämmerte es bereits.
Matt dachte mit Unbehagen daran, dass er es bisher nicht einmal geschafft hatte, Danielle anzurufen. Sicherlich würde sie bereits auf ihn warten.
Er hielt an einem Blumenladen an und kaufte einen großen Strauß rote Rosen. Dann beschloss er, auf dem schnellsten Wege nach Hause zu fahren, eine heiße Dusche zu nehmen und sich umzuziehen. Es würde zwar etwas später werden als geplant, aber der Abend hatte schließlich erst angefangen...
Er stellte den Wagen hinter dem Haus ab und wollte gerade die Haustür öffnen, als eine Gestalt im weißen Bademantel über die benachbarte Veranda gehuscht kam.
„Matt... Na endlich! Weißt du eigentlich, wie lange ich hier schon auf dich gewartet habe?“
Er musterte seine Nachbarin etwas verwundert.
„Und wo hast du auf mich gewartet, Anni? Etwa im Whirlpool?“
„Du siehst müde aus, Matt.“ entgegnete sie mit einem oscarverdächtigen Augenaufschlag und trat dicht an ihn heran. Verführerisch lächelnd legte sie ihre Hände an seine Brust. „Ich bin sicher, ein Sprudelbad wäre jetzt genau das Richtige. Ich könnte dir ein wenig den Nacken massieren.“
Obwohl er in Zeitdruck war, nahm er geduldig ihre Hände weg und grinste kopfschüttelnd.
„Eins muss man dir lassen, Annabell Parker, du gibst nie auf!"
Sie lächelte geschmeichelt.
"Tja, so bin ich. Also... Was ist?"
"Nein danke, vielleicht ein anderes Mal. Du hast Recht, ich bin völlig erledigt. Also... War das alles, weswegen du auf mich gewartet hast?“
Schmollend sah sie ihn an.
„Ich wollte heute eigentlich mit dir zu dieser Versammlung gehen. Natürlich hat mal wieder niemand die Freundlichkeit besessen, mir mitzuteilen, wann genau sie stattfinden sollte. Verrätst du mir bei einem Glas Wein, worum es ging, und welche Entscheidungen gefallen sind?“
Matt atmete tief durch.
„Ich schlage vor, du kommst irgendwann morgen zu mir ins Büro, und dann erzähle ich dir alles. Und jetzt entschuldige mich. Gute Nacht!“
Er schloss die Tür auf und betrat das Haus.
„Morgen!“ knurrte Anni unwillig. „Da kann ich es in der Zeitung lesen!“
Sie machte beleidigt auf dem Absatz kehrt und verschwand.
Erleichtert ließ Matt die Tür hinter sich zuklappen und war soeben im Begriff, das Licht einschalten, als er überrascht innehielt. Ungläubig sah er sich um.
War das ein Traum?
Einer der Träume, die ihn in den vergangenen zwei Jahren wiederholt heimgesucht hatten?
Überall im Wohnzimmer und sogar die Treppenstufen hinauf brannten Kerzen und tauchten alles ringsumher in ein romantisches warmes Licht. Leise Musik, die ihm seltsam bekannt vorkam, erfüllte den Raum. In der Luft lag ein immer noch vertrauter Duft, der tief verschlossen gehaltene Winkel seiner Erinnerungen bittersüß berührte. Und dann erblickte er sie...
Marina!
Seine Marina, sie kam lächelnd auf ihn zu, eingehüllt in ein zartblaues, traumhaftes Negligé, das ihre Figur umschmeichelte und nichts dem Zufall überließ. In den Händen hielt sie zwei gefüllte Champagnergläser. Dicht vor ihm blieb sie verheißungsvoll lächelnd stehen.
„Auf uns beide, Matt!“ sagte sie mit leiser verführerischer Stimme und reichte ihm eines der Gläser. „Auf unser Wiedersehen und einen wundervollen, gemeinsamen Neuanfang!“
*
„Jemand zu Hause?“
Danielle warf die Einkaufstüte achtlos auf die Couch im Wohnzimmer und betrat die Küche, aus der es lecker duftete.
„Mmh...“ Sie reckte den Hals. „Das schnuppert ja himmlisch!“
Mitch stand am Herd und schwang einen großen Kochlöffel.
„Chinesische Gemüsepfanne“, erklärte er. „Ich wollte Suki damit überraschen, wenn sie vom Dienst kommt. Möchtest du kosten?“
„Oh ja, gerne.“ Sie lächelte vielsagend. „Du magst sie, stimmt’s?“
Er zwinkerte ihr zu, während er ihr den gefüllten Teller reichte.
„Ja, ich muss gestehen, sie hat so etwas Gewisses.“
„Sie hat anscheinend ziemlichen Eindruck auf dich gemacht, wenn du bereits für sie kochst.“
„Iss deinen Teller leer und stell keine Fragen.“
Danielle gehorchte schmunzelnd und ließ es sich schmecken.
Mitch beobachtete sie gespannt.
„Und?“
„Super“, schwärmte sie und verdrehte genüsslich die Augen. „Du hast wirklich verborgene Talente.“
Er grinste geschmeichelt.
„Gut, dass endlich mal jemand bemerkt, was in mir steckt! Willst du mich heiraten, Dani?“
„Nur, weil du eine 747 fliegen und chinesische Gemüsepfanne zubereiten kannst?“ Sie schob scherzhaft die Unterlippe vor und schüttelte den Kopf. „Das reicht mir nicht.“
„He, ich habe außerdem ein Haus direkt am Strand!“
„Angeber! Ich habe ein Zimmer in deinem Haus am Strand! Wozu soll ich dich da noch heiraten?“
„Auch wieder wahr. Okay, einen Versuch war es wert.“
Während er sich, grinsend über ihr zwangloses Geplänkel, erneut seiner Kochkunst zuwandte, lehnte sich Danielle zurück und begann nachdenklich in ihrem Essen herumzustochern.
„Mitch, darf ich dich etwas fragen?“
Er warf den Kochlöffel in die Luft und fing ihn geschickt wieder auf.
„Du darfst mich alles fragen, Süße.“
Sie ließ die Gabel sinken.
„Ist Matt eigentlich... ich meine, gibt es da Jemanden, von dem ich wissen sollte?“
„Du meinst, ob er verheiratet ist?“ Er schmunzelte. „Hast du ihn denn nicht danach gefragt?“
„Nein, das ergab sich noch nicht.“
Mitch nahm die Pfanne vom Herd und setzte sich zu Danielle an den Tisch.
„Er war verheiratet, bis vor zwei Jahren. Dann hat ihn seine Frau plötzlich wegen eines anderen verlassen. Das hat ihm das Herz gebrochen. Er hat lange Zeit gehofft, dass sie zurückkommt. Aber seit ungefähr einem halben Jahr ist er offiziell von Marina geschieden.“
Danielle sah ihn mit großen Augen an.
„Marina? Marina Shelton?“
„Ja genau. Aber sie lebt seit ihrer Trennung von Matt nicht mehr hier.”
„Da wäre ich mir nicht so sicher. Sie ist mir heute zufällig über den Weg gelaufen. Vorhin in der Stadt, in einem kleinen Laden.“
Mitch schaute sie nachdenklich an.
„Also doch...“ murmelte er, mehr zu sich selbst.
„Was meinst du?“
„Ich war heute Vormittag am Bootshafen unten, und da sah ich eine Frau aus Matts Haus kommen. Zuerst dachte ich, es sei Marina, aber das erschien mir absolut unwahrscheinlich...“
„Nun, offensichtlich nicht.“ Mit einem bitteren Lächeln lehnte Danielle sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Mitch beugte sich vor und legte ihr beschwichtigend seine Hand auf den Arm.
„Du musst dir nichts weiter dabei denken. Ich bin sicher, es gibt eine plausible Erklärung dafür.“
„Natürlich gibt es die. Misses Shelton hat sich vorhin ein Negligé gekauft, um, wie sie sagte, dem Mann, den sie liebt, zu imponieren. Und ich dumme Gans habe ihr auch noch bei der Auswahl geholfen.“
Ungläubig kniff Mitch die Augen zusammen.
„Du hast da sicher etwas missverstanden!“
„Das glaube ich nicht...“ Sie stand auf und stellte den Teller in die Spüle. „Danke für das Essen.“
Sie war schon fast an der Tür, als sie sich zögernd zu ihm umdrehte.
„Was meinst du, liebt er sie noch?“
Mitch verzog verlegen das Gesicht.
„Das solltest du ihn besser selbst fragen“, erwiderte er diplomatisch. „Weißt du, Matt ist ein guter Freund von mir, und ich möchte mir nicht vorwerfen lassen, dass ich mich in sein Privatleben einmische. Aber eines weiß ich bestimmt: Er ist ein ehrlicher Typ, und wenn er wieder mit seiner Ex- Frau zusammenleben würde, dann wäre er ganz sicher nicht hier aufgetaucht, um sich mit dir zu verabreden.“
Immer noch etwas skeptisch sah sie ihn an.
„Ich kann nur hoffen, dass du Recht hast.“ Trotz des beharrlichen, flauen Gefühls, das sich während der Unterhaltung mit Mitch in ihrem Magen festgesetzt hatte, huschte ein schelmisches Lächeln über ihr Gesicht. „Für unser Date heute Abend habe mir nämlich extra ein neues Kleid gekauft. Es war sündhaft teuer, und ich würde mich ärgern, wenn sich herausstellen würde, dass das Teil eine Fehlinvestition war.“
Mitch lachte.
„Das war es auf keinen Fall, du wirst schon sehen.“ Er stand auf und legte vertraulich seinen Arm um ihre Schultern. „Er hat es nicht leicht gehabt, Dani. Die ganze Zeit, seit Marina ihn verlassen hatte, war er zu keiner festen Beziehung bereit. Er hat das damals nur schwer verkraftet...“
„Was? Dass sie ihn verlassen hat?“
„Das auch. Aber vor allem hat ihm die Tatsache zu schaffen gemacht, dass der, mit dem sie durchgebrannt ist, sein eigener Bruder war.“