Nachdem der Notarzt die Versorgung des Patienten übernommen hatte, wurde George Freeman vorsichtig auf einer Trage liegend über die Gangway nach unten transportiert. Danielle begleitete ihn zum Einsatzwagen. Die Wirkung der Spritze und des provisorischen Tropfes machten ihn schläfrig.
Kurz bevor man ihn auf der Trage ins Auto schob, hob er die Hand und lüftete mit der anderen kurz die Sauerstoffmaske.
„Danielle...“
Sie beugte sich zu ihm hinunter.
„Sie werden es schaffen, George, ganz sicher!“
„Wo finde ich Sie?“, fragte er, obwohl ihm das Sprechen schwer fiel. Als er sah, dass sie mit der Antwort zögerte, ergriff er ihre Hand.
„Bitte, es ist mir wichtig!“
Danielle nickte kurzentschlossen, denn sie konnte ihm in diesem Augenblick nicht sagen, dass sie selbst noch nicht wusste, wie ihr Leben weitergehen würde.
„Ich werde vorübergehend in Sunset City wohnen, bei Mitch Capwell.“
Freeman nickte zufrieden.
„Sunset City, Capwell.“ wiederholte er, als müsse er sich den Namen fest einprägen. „Ich danke Ihnen...“
Kurz darauf schlossen sich die Türen des Rettungswagens, und das Fahrzeug brauste mit Blaulicht und aufheulender Sirene über das Rollfeld des Kennedy Airport von Los Angeles zum Ausgang.
„Tja, das war`s dann wohl, Leute“, fasste Co-Pilot Hank Steward wenig später, als alle Passagiere die Maschine verlassen hatten, die gegenwärtige Situation zusammen. Er warf einen bedauernden Blick zurück in das enge Cockpit des riesigen stählernen „Vogels“, den sie nun verlassen mussten. „Es ist an der Zeit, Abschied zu nehmen.“
Die Mitglieder seiner Crew schwiegen betreten, und Mitch nickte wehmütig.
„Sieht ganz danach aus. Mach`s gut, Vögelchen!“
Santana kam mit einem Tablett aus der Bordkantine und reichte jedem von ihnen ein Sektglas. Für sie war nun der endgültige Abschied von ihren Mitarbeitern gekommen, denn in San Diego warteten ihr Ehemann und ihre beiden Kinder bereits sehnsüchtig auf sie. Und auch Hank würde zunächst zu seiner Ehefrau nach Hause reisen, um sich dann nach einer kurzen Auszeit bei einer anderen Fluggesellschaft um einen Pilotenjob zu bewerben.
„Lasst uns noch einmal das Glas erheben. Auf die schöne gemeinsame Zeit, die wir bei BLUE SKY hatten und auf eine glückliche Zukunft! Auf uns, Leute!“
„Auf uns!“
Schweigend stiegen sie ein letztes Mal die Gangway hinunter.
Unten angekommen, drehte sich Mitch zu den Mitgliedern seiner Crew um, setzte seinen Trolli ab und breitete die Arme aus.
„Hey Leute, denkt positiv! Wir sind frei! Erobern wir das Paradies!“
*
Ein paar Stunden später verließ er gemeinsam mit Dean, Chelsea und Danielle in seinem klapprigen, alten Chevy das Flughafengelände und bog ab auf den Valley Drive in Richtung Süden, dorthin, wo zwischen Long Beach und Huntington die kleine Stadt Sunset City direkt am Meer lag.
Danielle sah aus dem Fenster und dachte während der Fahrt an ihr Gespräch mit Mitch kurz nach der Landung in Los Angeles.
Er hatte sie beim Betreten des Terminals zur Seite genommen, so dass die anderen sie nicht hören konnten.
„Er hat nach dir gefragt.“
„Wer?“
„Matt Shelton. Er wollte sich von dir verabschieden, kam aber nicht durch, weil der Notarzt gerade bei der Arbeit war.“
„Schade.“
„Du scheinst ihn wirklich beeindruckt zu haben. Ich kenne ihn schon ziemlich lange, und ich weiß, er hätte nicht nach dir gefragt, wenn es nicht so wäre.“
„Mitch, hör zu, ich...“
„Du musst wissen, er hat es nicht gerade leicht gehabt in den letzten zwei Jahren. Er hat eine ziemliche Enttäuschung wegstecken müssen. Du weißt selbst, wie einem so etwas zusetzen kann.“
Sie war ihm die Antwort darauf schuldig geblieben, hatte sich nur müde mit der Hand über die Stirn gestrichen.
„Auf jeden Fall“, fuhr er fort „habe ich ihm gesagt, wenn er dich wiedersehen möchte, soll er sich bei mir melden.“
Sie sah erstaunt auf.
„Du hast... was? Mitch, ich weiß nicht, ob das richtig war.“
„Das denke ich schon“, nickte er und gab ihr spontan einen freundschaftlichen Kuss auf die Wange. „Mein Gefühl sagt mir, dass ich genau das Richtige getan habe.“
Danielle lächelte in Erinnerung an diese Unterhaltung still vor sich hin. Im Grunde war sie Mitch dankbar, denn nun gab es vielleicht doch eine klitzekleine Chance, diese beeindruckenden tiefblauen Augen wiederzusehen. Vorausgesetzt, Matt wollte dies auch.
Während Mitch bereits in den East Ocean Boulevard einbog, der sie direkt ans Ziel bringen sollte, wurde Danielle plötzlich von einem tiefen Glücksgefühl erfasst.
Vielleicht gab es ja doch so etwas wie ein Schicksal! Und vielleicht würde sich ihres in Sunset City erfüllen.
Sie lehnte sich zurück und atmete tief durch.
Mit oder ohne Matt Shelton, hier und heute fing ihr neues Leben an!
*
Als Matt nach Hause kam, war es zwei Uhr morgens. Er ließ sein Gepäck achtlos an der Eingangstür stehen und schenkte sich erst einmal einen Drink ein. Dann löschte er das Licht wieder, öffnete die Balkontür und trat hinaus auf die breite Veranda.
Vor ihm lag der Strand und das im Mondlicht geheimnisvoll funkelnde, endlos scheinende Wellenmeer des Ozeans. Ein leichter angenehmer Nachtwind wehte vom Wasser herüber.
Matt lehnte sich an die Brüstung und nippte an seinem Drink. Er schloss die Augen, und da war es sofort wieder:
Ihr Gesicht, als hätte es sich unwiderruflich in sein Gedächtnis gebrannt. Ihr Lächeln und ihr weiches lockiges Haar, der besondere Ausdruck ihrer sanften Bernsteinaugen, der ihn gefangen nahm...
Er hatte keine Ahnung, wie lange er so dagestanden hatte, aber dieses übermächtig scheinende Gefühl beunruhigte ihn erneut. Er wusste, wenn er wollte, könnte er sie wiedersehen. Er brauchte nur Mitch nach ihr zu fragen.
Aber wollte er das wirklich? War das gut für ihn?
Auf jeden Fall hatte ihn seit der Trennung von Marina keine andere Frau derart fasziniert.
Natürlich hatte es andere gegeben, aber am nächsten Morgen wusste er meistens nicht einmal mehr ihren Namen und zog sich mit einem schalen Gefühl im Magen sofort unmissverständlich zurück.
Ein One Night Stand war okay, aber eine neue Beziehung – nein danke!
Wenn er dieses Mal jedoch seinen Gefühlen nachgab, würde das anders sein, das spürte er genau. Er war sich nur noch nicht im Klaren darüber, ob er wirklich bereit dafür war.
Dabei sehnte er sich doch jetzt schon nach einem Wiedersehen mit ihr.
Seine zwiespältigen Gefühle heimlich verfluchend trank den Rest seines Drinks in einem Zug und warf die Balkontür hinter sich zu.
Er wollte endlich zur Ruhe kommen, nach diesem endlos langen Flug. Nicht mehr nachdenken müssen, weder über Marina, noch über irgendjemand anderen.
Entschlossen ging er nach oben, nahm eine heiße Dusche und streckte sich anschließend auf dem breiten Doppelbett aus.
Kurz darauf fiel er in einen unruhigen, wenig erholsamen Schlaf.
*
Am Ortseingangsschild von Sunset City, Bundesstaat Kalifornien, stoppte Mitch den Wagen.
„Seid Ihr bereit?“
Die Frage erwies sich als völlig überflüssig, denn trotz ihrer Müdigkeit waren alle in bester Laune. Kurz darauf bogen sie in die nächtliche, vom fahlen Licht der Straßenlaternen beleuchtete Ocean Avenue ein.
Plötzlich trat Mitch auf die Bremse und setzte den Wagen zurück.
„Ist es das hier?“, fragte Chelsea gespannt. „Das schöne helle Eckhaus?“
Mitch blieb ihr die Antwort schuldig. Stattdessen riss er die Wagentür auf und sprang hinaus. Ratlos blieb er stehen.
Die anderen folgten ihm etwas zögernd.
„Was ist?“, erkundigte sich Dean gespannt.
Mitch fuhr sich irritiert mit beiden Händen durchs Haar.
„Ja aber… Das ist... nicht... mein Haus!“
„Was soll denn das jetzt heißen?“, fragte Chelsea verwirrt.
„Hier an dieser Stelle stand das letzte Mal, als ich zu Hause war, noch ein alter verwittert grauer Betonklotz, der dringend Farbe gebraucht hätte“, erklärte Mitch überwältigt, ohne dabei einen Blick von dem etwas verwinkelt gebauten, zweistöckigen Gebäude zu lassen.
„Wow“, staunte Danielle. „Hier sieht absolut nichts verwittert und grau aus. Scheint so, als hättest du wirklich tolle Freunde.“
Er nickte sichtlich beeindruckt und grinste dann.
„Mir fällt eben ein, dass ich keinen Schlüssel dabei habe. Hoffentlich bekomme ich die beiden Langschläfer um diese Zeit munter. Immerhin ist es noch ziemlich früh am Morgen.“
Er ging zur Haustür und betätigte mehrmals hintereinander die Klingel.
Lange Zeit tat sich nichts, dann aber wurde die Tür, gut gesichert durch eine dicke Kette, langsam und zögernd einen Spaltbreit geöffnet, und Mitch sah in das verschlafene Gesicht einer jungen Asiatin.
„Was wollen Sie denn um diese Zeit?“, fragte diese und maß ihn mit einem äußerst misstrauischen Blick.
„Ich...“ Er fand keine Worte. Wer war diese Frau? Wieso war sie in seinem Haus? Und seit wann befand sich an seiner Tür eine Sicherheitskette?
Die junge Dame mit taxierte ihn noch immer missbilligend.
„Falls Sie eine Bleibe für den Rest der Nacht suchen sollten, dann sind Sie hier falsch. Wir vermieten nicht an Touristen!“
Ohne eine Antwort abzuwarten schloss sie mit Nachdruck die Tür. Mitch stand draußen, ausgesperrt aus seinem eigenen Haus und sprachlos wie schon seit langem nicht mehr.
Die anderen traten zögernd näher.
„Was war das denn?“, fragte Chelsea. „Bist du wirklich sicher, dass wir in der richtigen Straße sind?“
„Nein... ich meine... ja!“, stotterte Mitch irritiert und ließ keinen Blick von der Haustür.
„Und warum lässt sie dich dann nicht rein?“
„Keine Ahnung! Ich wusste ja nicht einmal, dass sie hier wohnt!“
Er sah seine Freunde ebenso ratlos an wie sie ihn.
„Also ich habe ja schon davon gehört, dass die Kalifornier ein wenig verrückt sind, aber das hier übersteigt selbst meine Vorstellungen“, grinste Dean und schob abwartend die Hände in die Taschen seiner verwaschenen Jeans. „Na komm schon, Mitch, worauf wartest du? Zeig ihr, wer der Hausherr ist! Sie sah nicht aus, als ob sie dich gleich umhaut.“
„Da wäre ich mir nicht so sicher…“, murmelte Mitch und strich sich übers Kinn, während er einen Moment lang die mit dunkelbrauner Farbe kontrastvoll abgesetzten Tür- und Fensterrahmen betrachtete. Wer auch immer hier am Werk gewesen war, der hatte sehr viel Geschick bewiesen. Die dunkle Farbe harmonierte perfekt mit dem im Licht der Straßenbeleuchtung sonnengelb leuchtenden Hausfassade, und in den Fenstern standen frisch bepflanzte Blumenkästen.
Was zum Teufel war hier los?
Entschlossen, die Antwort auf der Stelle herauszufinden, trat er wieder näher und klingelte, diesmal langanhaltend. Als daraufhin erneut nur einen Spaltbreit geöffnet wurde, stellte er todesmutig seinen Fuß zwischen Tür und Schwelle.
„Entschuldigen Sie“, startete er einen neuen Versuch, während er sah, wie sich das hübsche Gesicht der jungen Frau binnen Sekunden deutlich ins Rötliche färbte. „Das hier ist offenbar ein Missverständnis...“
„Verschwinden Sie!“, fauchte sie und warf wütend ihr schwarzglänzendes Haar zurück, das ihr offen über die Schultern fiel. „Wenn Sie nicht augenblicklich damit aufhören, mich zu belästigen, rufe ich die Polizei!“
„Be...lästigen?“ Mitch schluckte, behielt aber hartnäckig den Fuß in der Tür. „Hören Sie, Miss, ich will Ihnen ganz bestimmt nicht zu nahetreten, aber ich wohne hier!“
„Ah ja, und der Papst wohnt im Obergeschoss“, erwiderte sie völlig unbeeindruckt und schüttelte missbilligend den Kopf. „Also mit dieser Masche hat es hier auch noch niemand versucht.“ Sie blitzte ihn mit ihren schönen mandelförmigen Augen herausfordernd an. „Nehmen Sie auf der Stelle Ihren Fuß aus der Tür!“
Allmählich wurde es Mitch zu bunt.
„Jetzt halten Sie mal die Luft an, Lady!“, legte er los. „Mein Name ist Mitch Capwell, und ganz zufällig ist das hier mein Haus, welches meine Freunde Luke Burnett und Randy Walker für mich verwalten sollten. Allerdings bin ich momentan nicht ganz sicher, ob die beiden dieser Aufgabe gewachsen waren. Und ich bin mir auch nicht im Klaren darüber, was Sie in diesem Haushalt zu suchen haben, aber meine Freunde hier…“ Er wies auf die anderen, die wartend auf dem Fußweg standen und die Szene gespannt verfolgten „…und ich, wir sind seit vielen Stunden unterwegs gewesen, und wir sind müde und hungrig. Also hätten Sie vielleicht die Güte, diese alberne Kette zu lösen und uns endlich hereinzulassen!“
Die Asiatin starrte ihn sprachlos an.
In seiner Aufregung hatte Mitch, ohne sich dessen bewusst zu sein, während er sprach seinen Fuß zurückgezogen.
Mit einem Knall war die Tür zu.
„Verdammt nochmal...“, knurrte er, drehte sich zu den anderen um und hob ratlos die Schultern.
Zögernd traten seine Freunde näher, als sie plötzlich hörten, wie die Kette innen im Haus klirrend gelöst und die Tür langsam wieder geöffnet wurde.
„Und... Sie sind wirklich Mister Capwell, der Pilot?“, fragte die junge Frau, während sie Mitch äußerst skeptisch von oben bis unten betrachtete. In seinen abgetragenen Jeans und dem unspektakulären Shirt mit der Aufschrift der LA Dodgers entsprach er offensichtlich nicht ihren Vorstellungen von einem Flugkapitän.
Er grinste.
„Höchstpersönlich, Miss...“
Sie machte keinerlei Anstalten, sich vorzustellen.
„Können Sie sich ausweisen?“, fragte sie stattdessen streng.
„Ähm... ausweisen?“ Er überlegte kurz. Okay, er musste zugeben, so in Zivil sah er nun wirklich nicht wie ein Flugkapitän aus, und diese fremde junge Frau maß ihn mit einem Gesichtsausdruck, der keinen Zweifel daran ließ, dass sie die Tür sofort wieder schließen und nötigenfalls sogar die Polizei rufen würde, wenn er nicht umgehend ihren Forderungen Folge leistete.
„Dean, würdest du bitte die Papiere aus dem Wagen holen, damit wir diese freundliche Lady endlich davon überzeugen können, dass ich der rechtmäßige Besitzer dieses Hauses bin!“
Sekunden später hielt er ihr seinen Führerschein unter die Nase. Sie studierte das Dokument aufmerksam und verglich das darauf befindliche Lichtbild sogar mit Mitchs Gesicht.
„Ich bin es wirklich!“ grinste er schelmisch. „Ich sehe nur in Wirklichkeit viel besser aus“
Seine Freunde hinter ihm lachten verhalten, während die energische junge Dame nach wie vor keine Miene verzog. Schließlich reichte sie ihm das Dokument zurück und trat zur Seite.
„Entschuldigen Sie, Mister Capwell, aber ich hatte keine Ahnung, dass Sie bereits heute ankommen, noch dazu so früh am Morgen!“
„Kein Problem“, meinte er versöhnlich und drehte sich zu den anderen um.
„Na los, Leute, rein mit euch! Fühlt euch wie zu Hause.“
Während Dean, Danielle und Chelsea das Haus betraten, blieb Mitch an der Tür stehen und musterte die fremde junge Asiatin neugierig.
„Verraten Sie mir nun bitte, mit wem ich das Vergnügen habe?“
Sie schluckte nervös und schloss die Tür. Etwas zögernd reichte sie ihm die Hand.
„Suki Yamada.“, sagte sie und stellte leicht beunruhigt fest, dass er ihre Hand nicht wieder losließ. „Ich bin noch nicht sehr lange in der Stadt, und als ich Luke in der Klinik kennenlernte, hat er mir angeboten, ich könnte vorübergehend zur Untermiete hier wohnen.“
„Luke war im Krankenhaus?“, fragte Mitch besorgt. Sie nutzte die Gelegenheit und entzog ihm hastig ihre Hand.
„Es war nicht weiter schlimm. Er ist auf einen Seeigel getreten und ich habe ihn daraufhin versorgt.“
Mitch kniff die Augen zusammen.
„Dann sind Sie... die neue Ärztin, von der er mir am Telefon erzählt hat! Allerdings hat er nicht erwähnt, dass Sie meine neue Untermieterin sind.“
„Jetzt, wo Sie zurück sind, werde ich selbstverständlich sofort wieder ausziehen“, beeilte sie sich zu sagen, aber er hob sogleich abwehrend die Hand.
„Das kommt überhaupt nicht in Frage. Wir haben schließlich genug Platz hier.“
„Oh, ich könnte zur Not auch in der Klinik…“
„Auf gar keinen Fall! Sie bleiben!“
Sie lächelte, das erste Mal an diesem Morgen.
„Vielen Dank, Mister Capwell.“
„Mitch“, verbesserte er galant, als ihm plötzlich noch etwas Wichtiges einfiel.
„Da habe ich gleich noch eine Frage, Doc...“
„Bitte nennen Sie mich Suki.“, unterbrach sie ihn, noch immer lächelnd. „Den Doktortitel lasse ich für gewöhnlich in der Klinik.“
Er lächelte zurück.
„Suki...“ Seine Stimme klang für einen Augenblick weich und zärtlich. „Sagen Sie, wer hat eigentlich das Haus so hübsch angestrichen?“
„Ich fand dieses öde Grau furchtbar erdrückend. Also habe ich Farbe ausgesucht und wir haben am vergangenen Wochenende ein paar Veränderungen vorgenommen.“, erklärte sie vorsichtig und maß ihn mit einem prüfenden Blick. „Ich hoffe, es gefällt Ihnen… Mitch?“
Er betrachtete sie wohlwollend, während sie sprach. Obwohl sie ihre schlanke, zierliche Figur sehr gekonnt in einem kimonoartigen Morgenmantel verhüllte, der fast bis zur Erde reichte, war sie ein echter Hingucker.
„Und ob es mir gefällt. Wunderschön!“, sagte er leise mit verklärtem Blick, und es schien, als meine er nicht nur die Farbe des Hauses damit. Erneut überzog eine zarte Röte ihr Gesicht und sie blickte einen Moment lang verlegen zu Boden. Diese Bewegung ihrer Augen holte ihn in die Wirklichkeit zurück.
„Suki... Wie es scheint, werden wir hier alle zusammen eine Weile wohnen. Aus diesem Grund sollten wir versuchen, möglichst normal und locker miteinander umzugehen. Also…“ Er wies auf seine Freunde, die sich fürs erste auf dem riesigen, bequem aussehenden Sofa in dem großen als Wohnzimmer dienenden Eingangsraum niedergelassen hatten. „Das sind Danielle, Chelsea und Dean. Und meinen Namen kennst du ja inzwischen.“
Suki reichte allen der Reihe nach zur Begrüßung die Hand.
„Freut mich, euch kennenzulernen.“
„Hey, bist du wirklich Ärztin?“, fragte Chelsea neugierig und warf Danielle einen bedeutungsvollen Blick zu. „Dani versteht nämlich auch eine Menge von Medizin.“
„Glaub ihr kein Wort“, widersprach diese sofort. „Ich habe nur in meinem Heimatort ein wenig im Krankenhaus ausgeholfen.“
Suki lachte.
„Darüber sollten wir uns aber bei Gelegenheit mal unterhalten“, schlug sie vor. Dann fiel ihr Blick auf die Uhr über dem Sofa, und sie stöhnte erschrocken auf. „Meine Güte, schon so spät! In einer Stunde beginnt mein Dienst!“
Sie eilte die Treppe hinauf, und Mitch sah ihr fasziniert hinterher.
„Mann, ist das eine Klassefrau“, schwärmte er begeistert.
„Hey“, beschwerte sich Chelsea sogleich und drohte ihm scherzhaft mit dem Finger. „Werd` mir bloß nicht untreu!“
„Ich befürchte, den Satz hat er schon des Öfteren zu hören bekommen“, tönte eine Stimme von der Treppe her.
Der junge Mann Mitte Zwanzig, der in lässigem Gang die Stufen hinunterkam, war nur mit Jeans bekleidet, hatte schokoladenbraune Haut und wirkte äußerst schlank und durchtrainiert. Seine schwarzen Augen blitzten schelmisch und um seine Lippen spielte ein verschmitztes Lächeln. Sein Haar war sehr kurz geschnitten, und er trug einen gepflegten Bart.
„Luke“, begrüßte Mitch seinen Mitbewohner herzlich.
„Hey Mann, lass dich ansehen, du Überflieger!“, rief dieser seinerseits und maß ihn mit prüfendem Blick. „Na immerhin, den Abschied von deinem Vögelchen scheinst du ja ganz gut überstanden zu haben.“ Seine Augen wanderten zu den anderen hinüber. „Wie ich sehe, bist du nicht allein zurückgekommen. Willst du mir deine Freunde nicht vorstellen?“
Mitch machte die jungen Leute miteinander bekannt. Freundlich lächelnd reichten sie sich die Hände.
„Randy schläft noch“, erklärte Luke anschließend den Verbleib des dritten Mitbewohners. „Er hat gestern bis spät in die Nacht im OCEANS Club ausgeholfen und war todmüde.“
„Haben die etwa schon wieder Personalmangel?“, fragte Mitch ungläubig.
Luke nickte.
„Wie ich gehört habe, will der neue Besitzer die Bar wieder abgeben, da er angeblich nicht aus den roten Zahlen herauskommt.“
Mitch hob bedauernd die Schultern.
„Schade drum, das OCEANS ist wirklich eine Investition wert. Für jemanden mit Führungsqualitäten könnte die Bar eine wahre Goldgrube sein.“
„Na dann“, erwiderte Luke und klopfte seinem Kumpel scherzhaft auf die Schulter. „Ich habe gehört, ihr sucht alle einen neuen Job!“
„Wir?“ Mitch grinste und zwinkerte den anderen verschwörerisch zu. „Oh nein, wir machen erst einmal Ferien und lassen die anderen arbeiten.“
Minuten später zog ein köstlicher Duft von frischem Kaffee, aufgebackenen Brötchen und Rührei mit Schinken und Speck durchs Haus.
Suki, ausgehfertig in heller Hose und dunkelblauer Seidenbluse, das schwarze Haar zu einem kunstvollen Knoten aufgesteckt, blickte zur Tür herein.
„Mmh... das schnuppert wirklich lecker“, schwärmte sie.
„Na komm, setz dich zu uns, es ist genug von allem da“, rief Mitch sogleich mit einer einladenden Handbewegung, doch die junge Ärztin wehrte bedauernd ab.
„Keine Zeit, ich bin heute ziemlich spät dran! Bis dann...“
Weg war sie.
„Ihr habt euch schon kennengelernt?“, fragte Luke.
Mitch nickte bedeutungsvoll.
„Sie ist klasse!“
„Und sie hat euch einfach so, ohne Probleme, ins Haus gelassen?“, erkundigte sich sein Mitbewohner äußerst skeptisch.
„Na klar“, erwiderte Mitch gespielt unschuldig.
Luke bemerkte die bedeutungsvollen Blicke der anderen und grinste breit.
„Ich dachte eigentlich bis heute, unsere Frau Doktor sei von Natur aus immun gegen männlichen Charme.“
Mitch zog bedeutungsvoll die Augenbrauen hoch.
„Nicht gegen meinen!“
*
Als Danielle erwachte, hatte sie durch die Zeitverschiebung das Gefühl kaum geschlafen zu haben. Erstaunt stellte sie fest, dass es bereits auf Mittag zuging. Sie hörte das Rauschen der Wellen durch das weit geöffnete Fenster, roch den würzigen Duft des Ozeans und musste sich erst einen Augenblick lang besinnen, wo sie war.
Sunset City – ihr neues Zuhause für eine vorerst unbestimmte Zeit.
Erwartungsvoll sprang sie aus dem Bett und trat aus ihrem Zimmer auf die kleine Terrasse hinaus. Sofort spürte sie die heiße Sonne auf der Haut und streckte sich wohlig.
`Wunderschön`, dachte sie begeistert, während sie den Ausblick, der sich ihr bot, mit dem verglich, den sie zu Hause von ihrem Fenster aus gehabt hatte. In Crawford /Oklahoma waren es wogende Getreidefelder gewesen, soweit das Auge reichte. Hier hingegen waren es endlose, in der Sonne funkelnde Wellen, die mit dem Wind spielten und sich von ihm in einem nimmermüden Spiel an den Strand treiben ließen.
Links von ihrer Terrasse stand eine dicke Palme, deren saftig grüne Wedel fast bis zu ihr herüberreichten. Direkt vor dem Haus lag die Strandpromenade. Daran angrenzend begann bereits der breite Sandstrand, einladend und zum Greifen nah, schöner als auf jeder Postkarte.
Rechterhand zog sich ein unendlich langer Pier wie eine Straße ins Wasser hinein, eine imposante Holzkonstruktion mit einer Aussichtsplattform in der Mitte.
Auf der Brücke tummelten sich zahlreiche Touristen, und auch der Strand war um diese Zeit ziemlich belebt. Fröhliches Kindergeschrei drang an ihr Ohr, und die vielen bunten Sonnenschirme wirkten wie Farbkleckse in dem makellos weißen Sand.
Danielle schloss die Augen und dachte etwas wehmütig an ihr Zuhause, an die Farm und ihre Eltern, an ihre jüngere Schwester Robyn, deren unbeschwertes fröhliches Wesen sie oft insgeheim vermisste.
Einen Moment lang überkam sie ein beklemmendes Gefühl, das sie nicht so recht zu deuten vermochte. Lag es an der Tatsache, dass ihr Job bei BLUE SKY unwiderruflich zu Ende war? Oder vielmehr daran, dass sich ihr Leben nach der Trennung von Brendon grundlegend verändert hatte? Oder war es schlicht und einfach nur Heimweh?
Die letzten Wochen waren buchstäblich wie im Fluge vergangen, und sie konnte kaum glauben, dass es inzwischen schon fast ein Jahr her war, seit sie so überstürzt von daheim ausgezogen war.
Sie lächelte etwas wehmütig, doch die Erinnerung daran war noch immer bitter. Heute auf den Tag genau vor zehn Monaten wäre ihr Hochzeitstag gewesen. Ihre Hochzeit mit Brendon Finley, ihrem Jugendfreund. Sie hatte damals gerade ihre Ausbildung zur Flugbegleiterin abgeschlossen und eine Stelle bei BLUE SKY bekommen, die sie nach der Hochzeitsreise mit ihrem frisch angetrauten Ehemann antreten wollte. Leider musste sie kurz vor dem Gang zum Traualtar erkennen, dass Brendon nicht einmal annähernd derjenige war, für den sie ihn die ganze Zeit gehalten hatte, und dass sich ihr Vertrauen in ihn und seine Liebe zu ihr als gänzlich unbegründet erwies.
Der Schock saß tief und ihre spontane Reaktion darauf war die Flucht. Sie verließ Crawford und flog nach New York, wo sie sofort mit dem Dienst für ihren neuen Arbeitgeber begann. Wohl weislich, dass Brendon nach ihr suchen würde, verriet sie niemandem ihren Flugplan und jeweiligen Aufenthaltsort, nicht einmal ihrer Familie, mit der sie ansonsten regelmäßig telefonierte. Sie vermisste ihre Eltern und Robyn, aber eine Rückkehr nach Oklahoma bedeutete früher oder später eine Konfrontation mit dem Mann, der ihre Liebe und ihre gemeinsamen Zukunftspläne so schändlich verraten hatte, und dazu war sie nicht bereit.
Noch nicht…
Kurzentschlossen kramte Danielle ihr Handy aus der Umhängetasche, trat wieder auf den Balkon und wählte die Nummer ihrer Eltern.
Sie lächelte, als sie die Freude in der Stimme ihrer Mutter hörte.
„Ja, es geht mir gut, Mum. Wo ich bin? In Sunset City, etwas südlich von Los Angeles, an der kalifornischen Küste. Mitch hat uns angeboten, bei ihm zu wohnen.... Du weißt schon, der Pilot… Nein, er ist nur ein guter Freund… Ja, Chelsea ist auch mit hier.... Nein, daran hat sich nichts geändert, die Fluggesellschaft ist pleite… Ich weiß noch nicht, wie es weitergeht, wir machen ein bisschen Urlaub und dann werden wir sehen.“
Sie musste lachen, weil ihre Mutter aufgeregt tausend Fragen stellte, von denen ihr Robyn mindestens die Hälfte aus dem Hintergrund zuflüsterte. Sie stellte sich vor, wie ihre jüngere Schwester um ihre Mutter herumsprang, darauf erpicht, jedes einzelne Wort mitzuhören.
„Ich habe hier ein schönes Zimmer zur Untermiete. Es ist zwar klein, aber für mich allein völlig ausreichend“, berichtete sie weiter. „Und wenn ich auf die Terrasse hinausgehe, kann ich direkt aufs Meer und auf den Strand sehen. Es ist herrlich warm und sonnig, alle laufen nur in Badesachen oder kurzen Hosen herum, und die Luft riecht nach frischem Salzwasser und Sonnenöl.“
Die nächste Frage ihrer Mutter betraf wohl ein Thema, das Danielle gerne vermieden hätte, denn ihr Gesicht verfinsterte sich zusehends.
„Nein, Mum! Nein, ich möchte auf keinen Fall, dass er erfährt, wo ich bin.“ Sie verdrehte genervt die Augen, da ihre Mutter wohl nicht lockerließ. „Hör zu, ich würde dieses Kapitel in meinem Leben gerne ein für alle Mal hinter mir lassen! ... Nein, Brendon gehört nicht mehr zu unserer Familie, nie mehr. Bitte Mum, ihr müsst das endlich akzeptieren!“
Sie sagte das mit einer Entschiedenheit, die ihre Mutter dazu veranlasste, rasch einzulenken. Stattdessen fragte sie noch dies und das, und Danielle beantwortete ihre Fragen geduldig.
Mit einem Lächeln auf den Lippen verabschiedete sie sich schließlich, ließ ihrem Vater und Robyn Grüße ausrichten und versprach, bald wieder anzurufen.
Gedankenverloren trat sie ins Zimmer zurück. Sie wusste, ihren Eltern fiel es nach wie vor schwer, Brendon nicht mehr länger als den Schwiegersohn zu sehen, den sie sich gewünscht hatten und der schon lange vor der geplanten Hochzeit zur Familie gehört hatte.
Nun, sie würden sich daran gewöhnen müssen, eine andere Alternative gab es nicht.
*
Im Haus war es still, wahrscheinlich schliefen alle Nachtschwärmer noch, während Suki, Randy und Luke um diese Zeit bereits ihrem Job nachgingen.
Auf dem Weg zum Badezimmer, das sich zwei Türen weiter befand, traf Danielle auf Mitch, der nur mit Shorts bekleidet und einem Handtuch über der Schulter eben aus der Dusche kam.
„Na, Prinzessin, gut geschlafen?“
„Wie ein Baby“, lachte sie. „Und vielen Dank, dass du mir dieses wunderschöne Zimmer mit Blick aufs Meer gegeben hast. Der Ausblick ist traumhaft!“
Er zwinkerte ihr schelmisch zu.
„Reine Absicht. Schließlich liegt meines gleich nebenan.“
Sie boxte ihn scherzhaft in die Seite.
„Hey, und ich dachte, die Ärztin wohnt neben mir.“
„Ja klar, auf der anderen Seite. Ganz hinten am Ende des Ganges ist Randys Zimmer. Luke hat sich den Raum über der Garage hergerichtet und die anderen beiden wohnen genau gegenüber. Also, du siehst, das Hotel ist nun bis unters Dach voll belegt.“
„Wenn du von uns allen pünktlich deine Miete bekommst, brauchst du eigentlich nicht mehr zu arbeiten“, sinnierte Danielle, und Mitch nickte schmunzelnd.
„Ja, das wäre eine Überlegung wert. Allerdings fühle ich mich noch etwas unreif für den Ruhestand.“ Er fuhr sich mit den Fingern durch sein vom Duschen feuchtes Haar.
„Und, was hast du heute vor?“
Sie hob die Schultern.
„Ich weiß noch nicht. Auf jeden Fall möchte ich später unbedingt noch zum Strand.“
„Okay, dann mach ich dir einen Vorschlag“, legte er los. „Sobald die anderen endlich munter sind, könnten wir erst einmal alle zusammen zu Becky gehen und uns ihre selbstgemachten Hamburger bestellen.“
„Becky?“, fragte Danielle interessiert.
„Das angesagteste Fast-Food-Café von Sun City“, erklärte er. „Du wirst es lieben. Becky macht die besten Hamburger weit und breit. Nur von ihren Hot Dogs solltest du die Finger lassen, die sind grauenhaft. Aber dafür erzählt sie die romantischsten Legenden der Stadt! Das darfst du dir auf gar keinen Fall entgehen lassen.“
Danielle lachte und nickte.
„Klingt wirklich gut. Ich bin dabei.“
*
Anni wurde von der lauten Stimme ihres Vaters geweckt. Ungehalten über die Störung sprang sie aus dem Bett und verließ ihr Schlafzimmer.
Wes Parker, ein großer, breitschultriger Mann in den besten Jahren, führte gerade ein für ihn anscheinend wichtiges Telefonat, wobei er pausenlos von einem Ende des Raumes zum anderen lief und zwischendurch immer wieder wütend in den Hörer brüllte.
„Was heißt, die Sache ist geplatzt?... Waaas? Der Alte war selbst dort? Ich denke, der fliegt nicht gern... Sie haben ... was?... Ist er tot?... Das wissen Sie nicht?“ Er blieb abrupt stehen und schlug mit der flachen Hand auf den Schreibtisch. „Verdammt, Hughes! Was zum Teufel wissen Sie überhaupt?... Das ist mir egal, dann finden Sie es gefälligst raus!“ Er schnaufte abfällig und seine Stimme nahm plötzlich einen gefährlichen Unterton an, als er mit Nachdruck sagte: „Ich will diese Firma! Um jeden Preis!“ Wieder lauschte er gespannt in den Hörer, dann verzog sich sein Gesicht zu einem teuflischen Grinsen. „Wie schon gesagt, das ist mir egal, solange Sie meinen Namen aus dem Spiel lassen. Benutzen Sie Ihr Spatzenhirn, schließlich bezahle ich Sie fürstlich dafür!“
Er warf das Telefon wütend auf den Tisch. „Schwachkopf!“
„Na Daddy, laufen die Geschäfte nicht so, wie du es gerne hättest?“, fragte Anni und schritt gemächlich in einem schwarzglänzenden, knappen Satinmorgenmantel die Treppe hinunter.
Mit einem sarkastischen Lächeln auf den schmalen Lippen drehte Wes sich um.
„Du bist schon auf? Was ist passiert, es ist doch erst Mittag!“
Sie hörte sehr wohl den Spott in seiner Stimme, aber das schien sie nicht zu stören.
„Natürlich, wer könnte denn bei deinem Gebrüll schlafen“, entgegnete sie gelassen und goss sich einen Orangensaft ein. „Was gibt es Neues?“
Wes sah seine Tochter missbilligend an.
„Das fragst du mich? Du warst doch zu den Firmengesprächen in Tokio. Müssten da die Neuigkeiten nicht eigentlich von dir kommen?“
Sie hob nur gleichgültig die Schultern, worauf hin er geringschätzig abwinkte. „Schon klar, ich bin mir sicher, nichts von dem, was dort wirklich wichtig war, ist in deine degenerierten Gehirnzellen vorgedrungen. Nun gut, ich werde sicher nachher aus der Zeitung erfahren, ob Edward den alten Masato um den Finger gewickelt hat oder nicht.“
Anni grinste.
„Nicht Edward.“ antwortete sie triumphierend. „Matt hat die Verhandlungen geführt.“
Wes hob erstaunt die buschigen Augenbrauen.
„Matt?“ Er musterte seine Tochter gespannt, während er ungeduldig die Hände hob. „Und? Nun lass dir gefälligst nicht jedes Wort aus der Nase ziehen!“
„Ach Daddy“, meinte Anni mit spöttischem Lächeln. „Wolltest du nicht lieber die Zeitung lesen?“
Als sie sein drohender Blick traf, lenkte sie rasch ein.
„Okay, ist ja gut! Also Masato beteiligt sich an dem Projekt der HSE, und zwar als Hauptinvestor!“
Er strich sich nachdenklich über sein breites, kantiges Kinn.
„Gut, wirklich gut! Das hätte ich Matt gar nicht zugetraut, dass er es tatsächlich schafft, den alten Geizkragen rumzukriegen.“
Anni lächelte stolz.
„Du hättest ihn erleben sollen, er war brillant!“
Ihr Vater grinste anzüglich.
„So wie du das sagst, war er nicht nur in den Verhandlungen gut.“
Sie verzog bedauernd die Lippen.
„Da muss ich dich enttäuschen, zwischen Matt und mir ist nichts passiert, überhaupt nichts. Ich kann machen, was ich will, er nimmt mich kaum wahr.“
Sie sah ihren Vater an wie ein verwöhntes Kind, dem man einen Wunsch verwehrt hat. „Es ist zum Verzweifeln, Daddy!“
Wes schüttelte abweisend den Kopf.
„Anni“, meinte er mit demselben sarkastischen Unterton in der Stimme wie vorhin. „Ich kann dir alles kaufen, was du möchtest, aber die Liebe eines Mannes gehört nun mal zu den wenigen Dingen im Leben, die du dir ausnahmsweise selbst verdienen musst.“
„Danke für deine Anteilnahme“, giftete sie zurück. „Ich wollte zur Abwechslung mal nicht dein Geld, sondern vielmehr deinen väterlichen Rat. Aber bei allem, was nicht mit Geld zu haben ist, hört ja für gewöhnlich dein Verständnis auf!“
Sie drehte sich wütend um und lief die Treppe wieder hinauf. Kurz darauf fiel oben eine Tür heftig ins Schloss.
Ungerührt sammelte Wes seine auf dem Tisch verstreut liegenden Papiere ein und legte sie sorgfältig in einen Aktenkoffer. Für die Eskapaden seiner Tochter hatte er nur ein müdes Lächeln übrig, daran war er gewöhnt.
Es wäre ihm lieber gewesen, wenn sich Anni eine eigene Wohnung gesucht hätte, anstatt ihm hier tagein tagaus auf der Tasche zu liegen. Aber sie war sein einziges Kind, und er liebte sie, auch wenn er das nur selten zeigte. Leider hatte er sie maßlos verzogen, indem er in den vergangenen Jahren stets versucht hatte, die wenige Zeit, die er ihr widmete, mit Geld und teuren Geschenken wieder aufzuwiegen. Anni war mit der Vorstellung aufgewachsen, dass alles Begehrenswerte käuflich war, aber bei diesem Matthew Shelton stieß sie zum ersten Mal wirklich an ihre Grenzen. Sie war nicht gewohnt, um eine Sache kämpfen zu müssen, davon zeugte unter anderem ihr neuster halbherziger Versuch, ein Studium zu beginnen. Ein Versuch, der ihn ein Vermögen gekostet hatte. Bereits nach einem halben Jahr war sie wegen Bummelei und wilder Partys von der Uni geflogen. Einen Beruf hatte sie bisher nicht erlernt und leider zeigte sie auch keinerlei Ambitionen, irgendeiner geregelten Arbeit nachzugehen, um endlich eigenes Geld zu verdienen.
Zu ihrem fünfundzwanzigsten Geburtstag hatte er ihr deshalb einen Großteil seiner gesamten Aktien, die er von der H&S Enterprises besaß, geschenkt. Er hoffte, sie würde sich für die Firma, deren stiller Teilhaber er war, interessieren und von Edward Hamilton lernen. Außerdem betrachtete er Annis Mitarbeit in der HSE insgeheim als gute und zuverlässige Quelle, die er vielleicht noch irgendwann zu seinem Vorteil nutzen könnte, wenn sie nur neugierig genug war und ihre Nase in alle legalen und illegalen Unterlagen stecken würde. Aber bisher schnüffelte sie lieber in Matt Sheltons Privatleben herum, als sich für Geschäfte zu interessieren.
Zum Teufel, warum hatte Miranda, seine geschiedene Frau, ihm keinen Sohn geschenkt! Stattdessen hatte sie ihn bereits vor vielen Jahren mit einer zickigen Tochter sitzen lassen und war einfach durchgebrannt. Ihre Schönheit war das einzig Gute, das sie ihrem Kind vererbt hatte. Diese Frau war wirklich das Letzte, und er konnte nur ahnen, was passieren würde, sollte er dieses Miststück jemals wieder in die Finger bekommen.
Er nahm seinen Aktenkoffer und verließ das Haus.
Anni starrte böse in den Spiegel.
Unter normalen Umständen wäre sie mit dem, was sie sah, sehr zufrieden gewesen. Grüne Augen, makellose helle Haut, hohe Wangenknochen und volle sinnliche Lippen, die Männern reihenweise feuchte Träume bescherten. Ihre leuchtend naturrote Haarpracht unterstrich zusätzlich ihr verführerisches Aussehen.
Sie ließ den Morgenmantel, der ihren wohlgeformten, sehr ansehnlich proportionierten Körper umhüllte, achtlos auf den Boden fallen und nahm eine kalte Dusche. Das Gespräch mit ihrem Vater hatte sie wieder einmal derart wütend gemacht, dass sie das eisige Wasser, das wie tausend Nadeln auf der nackten Haut stach, kaum wahrnahm.
Sie konnte tun oder sagen, was sie wollte, nichts vermochte sie ihm recht machen! Ganz zu schweigen davon, dass er sie sowieso nicht ernstnahm.
Eigentlich hätte sie stolz und froh sein müssen, einen Vater wie Wes zu haben.
Er war reich, sah für sein Alter noch recht gut aus, jedenfalls sprachen seine zahlreichen Affären, die er zum Glück diskret in diversen Hotelzimmern abzuwickeln versuchte, für ihn. Aber ansonsten wusste sie kaum etwas über sein Leben, denn obwohl sie beide hier unter einem Dach zusammenwohnten, ging jeder von ihnen seine eigenen Wege.
Anni hatte keine Ahnung, womit Wes momentan sein Geld verdiente, und es interessierte sie auch nicht sonderlich, solange er sie finanziell absicherte. Nur manchmal, wenn sie unglücklich und einsam war, oder wenn sie einem ihrer von Zeit zu Zeit wechselnden Lover den Laufpass gegeben hatte, wünschte sie sich doch von ihrem Vater ein offenes Ohr und ein wenig Verständnis für ihre Probleme. Aber er hörte ihr nicht zu, zu sehr war er mit sich selbst beschäftigt. Also ging Anni, solange sie denken konnte, mit all ihren Sorgen und Nöten zu ihrer Tante Cloe, Wesley Parkers jüngerer Schwester. Die war zwar etwas ausgeflippt und schon mehrmals geschieden, weil sie es bei keinem Mann lange aushielt, aber ihre einzige Nichte liebte sie über alles. Sie war wie eine gute Freundin, warmherzig und ehrlich, und sie besaß einen überaus erfrischenden Humor. Es tat Anni gut, mit ihr zusammen zu sein.
Allerdings konnte ihr Cloe bei all den verzweifelten Versuchen, Matt zu erobern, auch nicht helfen.
Zitternd vor Kälte drehte sie schließlich die Dusche ab und hüllte sich in ein großes flauschiges Handtuch.
„Wenn du glaubst, ich gebe so einfach auf, dann hast du dich geirrt, Matt Shelton!“, sagte sie zähneklappernd und begann zielstrebig damit, sich für den Tag schönzumachen.