Prompt 107: anschmiegsam
Sofort, als er das Haus der beiden betrat, wussten sie, dass etwas mit ihm nicht stimmte. So höflich und nett der neue Freund ihrer Tochter auch wirkte, geheuer war er dem älteren Ehepaar keinesfalls.
Er kam ihnen so seltsam leblos vor – wie eine Puppe, die immer nur dann eine Regung zeigte, wenn Thea es von ihr verlangte. Sonst war der junge Mann so still und beinahe schon geistesabwesend, dass man an seiner Stelle auch einen Teddybären als Gesprächspartner haben könnte. Es hätte keinen Unterschied gemacht. Doch was den besorgten Eltern besonders auffiel, war die Anhänglichkeit dieses Kerls. Zu keiner Zeit war er von Theas Seite gewichen. Als wäre sein Charakter zu instabil, um ohne seine bessere Hälfte existieren zu können.
All das stieß dem älteren Paar sauer auf. Dennoch ließ es dieses erste Kennenlernen des neuen Freundes seiner Tochter stumm über sich ergehen. Ohne den Elefanten im Raum überhaupt anzusprechen. Erst, als das frischverliebte Paar gegangen war, wurde dieses Schweigen gebrochen.
»Was für ein seltsamer Typ«, eröffnete Peter das Gespräch. Dabei half er seiner Frau, das benutzte Geschirr abzuräumen und in den Geschirrspüler zu verfrachten.
»Hast du auch mitbekommen, wie er sich an Thea geklammert hat? Irgendwas stimmt da ganz und gar nicht«, pflichtete Andrea ihrem Mann bei. »Bei dem habe ich wirklich kein gutes Gefühl. Mit so etwas sollte sich unsere Tochter besser nicht herumtreiben.«
»Beim nächsten Mal sagen wir ihr, dass sie diesen Psycho in den Wind schießen sollte«, schloss Peter das Gespräch. »Was denkt sie sich nur dabei, so einen überhaupt in ihre Nähe zu lassen?«
Damit wandte sich das Paar erfreulicheren Themen zu. Der Abend ging in die Nacht über, ohne dass der neue Freund von Thea wieder erwähnt wurde. Wie war sein Name noch gleich?
Wochen vergingen und der Ärger über das neuste Familienmitglied verblasste Tag für Tag mehr. Die jedoch weiterhin besorgten Eltern hatten bisher keine Zeit gehabt, Thea ihre Bedenken zu offenbaren. So hatte die Sache auch immer mehr an Dringlichkeit verloren.
Dieses unangenehme Thema drängte sich erst wieder auf, als ein junger Polizist vor der Haustür der Hofstedts stand und die Nachricht überbrachte, dass Theas neuer Freund ermordet worden war.
»Geht es unserer Tochter gut?« Das war die erste Frage, die Andrea in den Kopf kam. Was kümmerte sie schon der Kerl, der ihr eh so unsympathisch war?
Der Polizist wirkte für einen Moment irritiert, ehe er verstand, dass er weiter ausholen musste, damit das Paar die Situation verstand.
»Natürlich. Ihre Tochter ist unversehrt und in Gewahrsam genommen worden. Doch deshalb bin ich nicht hier. Haben Sie etwas dagegen, wenn wir ins Haus gehen? Diese Angelegenheit könnte Sie etwas in Verlegenheit bringen, wenn die Nachbarn davon hören würden.«
Etwas zögerlich bat Andrea den Beamten hinein und holte daraufhin ihren Mann zu sich, der zuvor noch im Garten gearbeitet hatte.
»Ich bin nicht hier, weil Ihrer Tochter etwas zugestoßen ist«, wiederholte der Polizist, als er sich mit dem Paar im Wohnzimmer hingesetzt und seine Worte genau durchdacht hatte.
»Eher geht es darum in Erfahrung zu bringen, ihre Verwicklungen in den Mord an Herrn Jakobsen genauer zu untersuchen und Informationen über ihre Tätigkeiten zu sammeln.«
»Verwicklungen?«, wiederholte Peter ungläubig. »Was soll bitte unsere Tochter mit einem Mordfall zu tun haben?«
Der Polizist ging nicht auf den Ton des Mannes ein, der deutlich Streit suchte. Der Beamte wollte nur den Sachverhalt klären, keine Diskussion über Schuld oder Unschuld anfangen.
»Ihre Tochter steht im Verdacht, einem Ring von Menschenhändlern anzugehören. Dieser hat sich darauf spezialisiert, Menschen, die nicht sonderlich vermisst werden, zu Sklaven auszubilden und an Interessenten weltweit zu verkaufen. Die Rolle Ihrer Tochter ist noch nicht ganz geklärt, auch wenn es bisher wirkt, als wäre sie eine der Ausbilderinnen gewesen. Aufgeflogen sind all diese illegalen Geschäfte nur durch einen anonymen Brief, der dem Opfer zugeordnet wird. Dass ich das erklären muss, überrascht mich. Wussten Sie wirklich nichts über die Geschäfte ihrer Tochter?«
Auf diese Frage hin herrschte Schweigen. Am liebsten hätten die Eltern aufgeschrien vor Empörung, dass ihrem Kind so etwas Grauenhaftes unterstellt wurde. Doch sie schwiegen. Warum sollte ein Polizist lügen, wenn doch scheinbar das Opfer selbst Thea belastet hatte?
Nach der Empörung machte sich tiefe Scham breit. Stumm entschuldigte sich das alte Ehepaar bei dem Toten, von dem es fälschlicherweise geglaubt hatte, er wäre der Böse in dieser Geschichte.