Prompt 118: Schattentanz
Dieses Mädchen war keine gewöhnliche Patientin. Das rief Doktor Derek Hartsfield sich ins Gedächtnis, als das rothaarige Kind das Behandlungszimmer betrat. Auf den ersten Blick gab es kaum etwas Bemerkenswertes an der kleinen Madeline, die der Arzt bereits seit ihrer Geburt kannte. Doch diese Unscheinbarkeit lag vor allem daran, dass das Mädchen über die Zeit gelernt hatte, alles Besondere meisterlich unter Kleidung und einer Fassade zu verstecken. Doch genau diese Scharade würde Doktor Hartsfield heute durchschauen. Er hatte genug von den Wehklagen der Eltern, die nicht mehr ein noch aus wussten. Genug von der Ratlosigkeit, die alle Beteiligten plagte, ohne dass jahrelange Arbeit auch nur ein vages Ergebnis hervorgebracht hätte. Es war an der Zeit, Maßnahmen zu ergreifen. So schwer es dem Arzt auch in diesem Falle fiel.
»Hallo Madelin. Wie geht es dir heute?«, versuchte er es mit einem alltäglichen Einstieg in dieses folgenschwere Gespräch.
»Heute ist es etwas besser als sonst, glaube ich.« Madeline sah ihrem Gegenüber nicht in die Augen, als sie das sagte. Stattdessen starrte sie den Boden an und spielte nervös an ihrem dunkelblauen Hoodie herum.
Dieses viel zu verdächtige Verhalten nahm Hartsfield als Anlass zu glauben, dass seine Patientin bereit wäre, sich heute zu öffnen und ehrlich mit dem zu sein, was sie immer wieder in diese Praxis kommen ließ.
»Du hast es schon wieder getan, oder?«
Sofort wusste das Mädchen, worauf bei dieser Frage angespielt wurde und nickte zaghaft. »Ich kann nicht anders. Tia gibt sonst keine Ruhe.«
Der Arzt seufzte und lehnte sich ein wenig vor. »Darf ich mir die Wunden ansehen?«
Wieder nickte Madeline und begann damit, beide Ärmel langsam hochzurollen. Dabei zuckte sie immer wieder zusammen, auch wenn sie sich allem Anschein nach größte Mühe gab, die Schmerzen zu vertuschen.
Es war immer das gleiche Spiel. Schon seit Jahren verletzte sich das Mädchen selbst und nie gab sie einen Grund dafür an. Außer dem, das sie keine andere Wahl hätte, als genau das zu tun. Tia wolle es so, sonst würden Menschen leiden müssen.
»Kannst du mir mittlerweile erklären, wer Tia ist?«, fragte Hartsfield, während er um den Tisch herumging, um die Wunden versorgen zu können.
Einen Moment lang füllte sich der Raum mit unangenehmer Stille, bevor Madeline auf die Frage antwortete.
»Tia ist immer bei mir. Schon seit ich denken kann. Sie hat mir ihren Namen genannt und gesagt, dass sie mich immer beschützen wird, weil ich etwas Besonderes sei. Sie ist auch jetzt hier und wenn Sie wollen, können Sie ihr hallo sagen. Nur treten Sie nicht auf sie drauf, das mag Tia nicht.«
Diese Erklärung warf mehr Fragen auf als sie beantwortete. Doch der Arzt zeigte sich gutmütig. »Kann ich sie denn auch sehen, oder versteckt sie sich?«
Madeline sah den Erwachsenen mit einem Blick an, als würde sie ihn für verrückt halten. »Klar können Sie Tia sehen. Jeder sieht doch Schatten.«
Derek konnte sich nicht helfen und ließ seinen Blick für den Bruchteil einer Sekunde hinter Madeline auf den Boden huschen, wo ihr Schatten war. Jedoch ließ sich nichts Außergewöhliches daran erkennen, also schenkte der Arzt lieber wieder seiner Patientin alle Aufmerksamkeit.
»Und Tia sagt dir, dass du dich selbst verletzen sollst?«
Auch wenn an dieser Frage nicht das Geringste witzig war, lachte Madeline auf und schüttelte vehement mit dem Kopf. »Nein, sie sagt, dass ich anderen wehtun soll. Vor allem dann, wenn sie gemein zu mir sind. Doch ich will das nicht. Deswegen versuche ich Tia zu ignorieren, wenn sie so etwas sagt, doch davon bekomme ich nur Kopfschmerzen. Deswegen tue ich mir weh. Sie hört dann auf und ist enttäuscht von mir, doch das ist mir egal. Ich will anderen nicht wehtun. Ist das denn schlimm?«
Dieses Mädchen war verzweifelt. Das hörte man nicht nur in seiner Stimme, sondern auch seine blauen Augen schrien regelrecht um Hilfe. Doch Hartsfield hatte keine Ahnung, wie er seinem Gegenüber helfen sollte. Dass Madeline an einer Krankheit litt, war offensichtlich. Doch über eine Diagnose hinaus war der Arzt hilfos.
»Wenn du Angst hast, anderen wehzutun, weiß ich einen Ort, wo du hin könntest, damit es dir besser geht«, begann er schweren Herzens.
Sofort horchte Madeline auf und schaute mit großen Welpenaugen zu dem Mann auf. »So einen Ort gibt es?«
Er nickte. »Natürlich. Da wird man dir helfen, mit Tia fertig zu werden. Dann musst du dir auch nicht mehr selbst wehtun.«
Hartsfield wusste, dass Madeline keinen Widerstand leisten würde gegen eine Psychiatrieeinweisung. Auch wenn es eigentlich keine Rolle spielte. Mister und Misses Price hatten schon ihre mündliche und auch schriftliche Einverständnis abgegeben. Also war alles schon festgeschrieben, ohne dass Madeline etwas davon gewusst hatte.
»Dann will ich da hin«, brach es aus dem Mädchen heraus. »Tia muss lernen, dass ich meine eigenen Entscheidungen treffen kann.«
Nach diesem Gespräch vergingen Jahre des Friedens. Oft dachte Hartsfield darüber nach, was wohl aus seiner seltsamsten Patientin bisher geworden war. Doch Nachforschungen anstellen wollte er nicht. Zu sehr fühlte er sich dabei, als würde er dieses Mädchen nur als Forschungsgegenstand sehen, der vielleicht seine Neugier befriedigen könnte. Und das war es nicht wert, vielleicht den Heilungsprozess zu unterbrechen. Denn nichts wollte der Arzt mehr, als dass das Kind wieder gesund würde und ein normales Leben führen könnte.
Das nächste Mal hörte Derek von Madeline in der Zeitung. Ein Artikel berichtete von einem Massaker in der Anstalt und dem Ausbruch einer Patientin, die als gefährlich eingestuft wurde und sich selbst "Butterfly" nannte.
Und plötzlich war alle Hoffnung auf Besserung für Madeline dahin.