Prompt 36: Secret Santa
Sorgfältig verbarg Nils den Zettel, den er soeben gezogen hatte, damit niemand sehen konnte, für wen in der Runde er nun den Wichtel spielen würde. Sofort als er den Namen auf dem schmalen Papierstreifen gesehen hatte, hatte sich der junge Mann ein Lächeln nicht verkneifen können, was jedoch sofort wieder von seinem Gesicht verschwand, aus Angst, er könnte sich verraten. Doch die anderen Anwesenden waren viel zu sehr mit der Auslosung beschäftigt, als dass sie sich Gedanken darum machen konnten, was der Dunkelhaarige in ihrer Mitte tat.
»Und? Wen hast du gezogen?«
Neugierig lehnte sich Jana hinüber, um so vielleicht sogar eine besseren Blick auf Nils' Zettelchen erhaschen zu können, doch dieser faltete ihn schnell zusammen und stopfte ihn in seine Hosentasche, damit die Blonde auch ja nicht sehen konnte, welcher Name auf dem Papier stand.
»Ist nicht der Sinn des Wichtelns, dass ich das gerade nicht verrate?«, antwortete Nils spitz und wandte sich dann von seiner Gesprächspartnerin ab, die sofort dachte, dass mit Sicherheit ihr eigener Name von dem Dunkelhaarigen gezogen sein worden musste, so verlegen und seltsam wie er reagierte. Jana hätte es sogar gefreut. Seit Jahren kannte sie Nils und so lange schon war sie sich unsicher, ob sie ihm sagen sollte, dass sie ihn als mehr als nur einen Freund betrachtete und sie seit sie ihn kannte vielleicht auch mit anderen Typen zusammen gewesen war, das aber nie etwas Ernstes gewesen war, so sehr wie Nils im Kopf der jungen Frau umherspukte.
So wandte sich auch Jana von dem Dunkelhaarige ab, verdrängte die Aufregung, die sich so plötzlich wegen all der Gedanken in ihr breit machte und begann auch mit den anderen Personen im Raum zu plaudern, um sich von genau diesen Gedanken etwas ablenken zu können.
In den nachfolgenden Wochen beobachtete Jana Nils eingehend, um herauszufinden, ob sich ihr Verdacht bestätigen würde. Das alles war kein Problem für sie, da sie sich in der Firma ein Büro mit dem Dunkelhaarigen teilte und auch den Großteil ihrer Freizeit mit ihm verbrachte. Wie hätte sie auch anders gekonnt, wo sie doch kaum genug Zeit mit ihrem heimlichen Schwarm verbringen konnte und sich dabei wieder wie ein hormongesteuerter Teenie vorkam, der nichts anderes außer Jungs und alberne Liebeleien im Kopf hatte.
Doch in diesen Tagen, die bis Heiligabend noch Zeit waren, wollte sich Jana nicht von ihren Gefühlen überrennen lassen wie sonst und jede Frage, die Nils ihr stellte, genauestens analysieren, ob sie daraus nicht eine versteckte Botschaft herauslesen konnte. Vielleicht würde er sie ja fragen, was sie von Schals hielt, oder was ihre Lieblingsfarbe oder Parfümmarke war. Solche Fragen stellten Wichtel doch immer, wenn sie keine Ahnung hatten, was sie der Person, die sie gezogen hatten, schenken sollten.
Doch genau solche Fragen kamen von Nils in dieser Zeit nicht. Stattdessen fragte er Jana nur, wie es denn gerade mit Timo lief, ob sie zu Weihnachten etwas Besonderes geplant hatte oder wie es dieses Jahr um ihre Eltern stand, die traditionell über die Weihnachtszeit immer in die Karibik flogen, um der Kälte zu entfliehen, doch dies letztes Jahr nicht tun konnten, da Janas Vater sich bei einem Arbeitsunfall die Hüfte gebrochen hatte. Nils ließ einfach nichts durchscheinen und war für seine beste Freundin in dieser Zeit einfach nur ein Rätsel, das sie nicht lösen konnte.
Am Weihnachtstag, als die Bescherung schon beinahe vorbei war und alle bis auf Jana und ihren nun Exfreund Timo die Geschenke von ihrem jeweiligen Wichtel erhalten hatten, war die junge Frau immer noch nicht schlau aus Nils und seinen so banalen Fragen geworden. Doch sie gab die Hoffnung auch jetzt noch nicht auf, da der Dunkelhaarige und Sandra, eine Frau, von der sie kaum etwas wusste und auch nur durch ihren gemeinsamen Freund Chris überhaupt beim Namen kannte, auch die Einzigen waren, die noch nicht ihr Geschenk vor versammelter Mannschaft übergeben hatten.
Egal was Nils ihr schenken würde, Jana würde sich darüber so freuen, allein schon weil es von ihm kam und somit einen ganz besonderen Platz in ihrem Herzen haben würde.
Doch als ihr dieses Mauerblümchen Sandra dann mit einem zaghaften Lächeln einen schlampig verpackten Gutschein von irgendeiner überteuerten Parfümerie überreichte und sich dann schnell wieder auf ihren Platz setzte, war die Enttäuschung groß. Es würde also kein Geschenk von Nils werden. Nicht für sie, sondern für ihren blöden Exfreund, der so arschig war, sich noch an diesem Morgen von Jana zu trennen und dann noch den Nerv hatte, hier aufzutauchen und sich direkt neben sie zu setzen, obwohl sie seine Nähe kaum aushielt, ohne ihm auf der Stelle die Augen auskratzen zu wollen.
Damit sah die Blonde niedergeschlagen zu, wie Nils Timo ein hübsches Päckchen überreichte, an dem sogar ein kleiner Brief befestigt worden war. In diesem waren sicher Nils' berühmten Brownies drin. Vermutlich sogar individuell verziert, wie er es immer machte, wenn er seinen Freunden etwas Selbstgebackenes schenkte. Er war so ein großartiger Bäcker und egal wie ungern sie sein Geschenk einfach verzehrt hätte, Jana hätte jeden Bissen davon sicher genossen.
Seltsam war nur Timos Reaktion auf den Brief, den er sogleich las, als er das Päckchen wieder zugeklappt hatte. Denn er weitete die Augen, stand abrupt auf und fiel Nils um den Hals, als hätte er diesen sein halbes Leben lang nicht mehr gesehen.
»Woher wusstest du das?«, konnte Jana Timo leise sagen hören.
Nils lächelte nur verschmitzt und zuckte mit den Schultern. »Ich glaube, ich hab einen sechsten Sinn für sowas. Und mir geht es ebenso mit dir.«
Sicher verstand keiner der Anwesenden in dem Moment, worüber die beiden Männer da redeten und was in dem kleinen Brief gestanden hatte, den Timo noch immer fest umklammert hielt. Erst als dieser Nils zu sich zog und küsste, verstand Jana, warum es mit Timo in letzter Zeit so schlecht gelaufen war und warum Nils sie immer wieder nach ihrem Freund fragte.
Diese Erkenntnis änderte jedoch nichts an den heißen Tränen, die der jungen Frau in die Augen stiegen und an dem Verlangen, einfach aus dem Raum zu laufen und diesen Anblick hinter sich zu lassen, der dieses Weihnachtsfest noch schlimmer machte, als es ohnehin schon war.