Prompt 30: Glühwein
Die Vorweihnachtszeit war etwas, was alle Menschen plötzlich zu neuem Leben erwachen ließ. Sie waren so fröhlich und plötzlich so nett zueinander, als würde sich irgendeine Blockade mit dem Anbrechen des ersten Dezembers in den Köpfen der Leute lösen und sie wieder zu dem machen, was sie über das Jahr vernachlässigt hatten. Die Kälte des Winters wurde von dem Licht in den Herzen der Menschen überstrahlt und es herrschte ein kompletter Ausnahmezustand den ganzen Monat lang, nur weil das wohl beliebteste Fest des Jahres vor der Tür stand.
In seinen Augen waren sie alle nur Heuchler. Wie konnten sie sich nur an Lebkuchen und anderen Leckereien erfreuen und dabei denken, dass dieser eine Monat der kurzweiligen Nächstenliebe und Freundlichkeit das restliche Jahr wieder aufwog? Jetzt zeigten sich die Leute von ihrer besten Seite, wo sie sonst nur das pure Böse in sich trugen und dieses auch nach außen kehrten, wann immer es ihnen passte.
Der Mann am Glühweinstand hasste die Vorweihnachtszeit genau für diese falsche Art, die die Menschen um ihn herum plötzlich an sich hatten und das nur, weil es darum ging, in ein paar Wochen reich beschert zu werden. Als ob es an Weihnachten nur um Geschenke ginge. Selbst alte Traditionen dieses eigentlich schöne Fest zerstörte der Kapitalismus mit seiner Gier, die er den Menschen einpflanzte.
Doch vor allem hasste der Mann diese plötzliche Großzügigkeit, die Menschen für Hilfsbedürftige spenden und Kranke umsorgen ließ. Weil es schließlich Weihnachten war. Und an anderen Tagen des Jahres litt wohl niemand auf der Welt, oder was?
Dagegen musste etwas getan werden. Gegen diese Heuchelei und das Vergessen, was wirklich in dieser Zeit zählte. Da kam dem Ladenbesitzer sein Gelegenheitsjob auf dem Weihnachtsmarkt gerade recht. Der Glühweinstand lief prächtig, während sanft Schneeflocken vom dunklen Himmel fielen, die Kälte an den Menschen zerrte und dennoch jeder glücklich war.
Wenn diese Geblendeten doch nur wüssten, dass der Glühwein, den er ihnen mit einem ähnlichen Lächeln, wie es seine Kunden auf den Lippen trugen, ausschenkte, nicht nur dazu gedacht war, sie von innen heraus aufzuwärmen, sondern auch, um ihnen eine Lektion zu erteilen, die sie nie vergessen würden. Wie konnten sie nur so in ihrem falschen Glück gefangen sein, dass die Menschen einfach nicht mehr nachdachten? Sie mussten das Rattengift doch schmecken, das der Mann seiner Ware beigemischt hatte, als niemand hinsah. Aber nein, stattdessen merkten sie zunächst nicht einmal, dass sie den flüssigen Tod hinunterspülten. Erst wenn die Wirkung des Giftes einsetzte, schöpften sie Verdacht, doch da war es schon längst um sie geschehen.
Dumme Menschen. So viel Schreckliches war schon auf Weihnachtsmärkten wie diesem hier geschehen. Doch die Vorfreude auf Weihnachten ließ diese Narren wohl vergessen, wie sehr sie noch die Jahre zuvor um die Verstorbenen getrauert und Denkmäler für sie errichtet hatten.
Doch dem Giftmischer sollte es recht sein. Wenn sie schon so unvorsichtig waren, mussten sie dafür auf bestraft werden. Hauptsache, seine Tat würde im Gedächtnis der Menschen etwas länger haften bleiben als die Attentate zuvor. Schließlich ging es doch hier um Weihnachten.