Prompt 138: Schneegestöber
Das erste, was ich spürte, war ein kalter Luftzug, der mich in einen watteartigen, gräulichen Tunnel ohne klare Struktur zog. Ich konnte mich nicht dagegen wehren und so begann ich durch diesen nebelartigen Dunst zu fallen, bis dieser immer lichter wurde und sich unter mir eine riesige Landschaft aus Farbe und weißen, leer wirkenden Flecken ausbreitete. Ich konnte gar nicht erfassen, wie groß die Welt war, die ich da vor mir sah und auf die ich mich rasend schnell zubewegte. Mein Fall ließ zwar nach und nach klarer werden, welche Vielfalt sich mir eröffnete, jedoch ließ die steigende Nähe auch mein Sichtfeld kleiner werden, was es mir verbot, alles zu sehen.
Mit der Welt unter mir begann ich ein sehr kurzes und rasantes Leben zu leben, das sich nicht viel von denen langlebigerer Wesen unterscheidet. Ich fiel unkontrolliert, segelte dabei an anderen meiner Art vorbei, grüßte, schloss Freundschaften, fand Partner und musste Abschiede hinter mich bringen, wann immer der Wind entschied, dass es Zeit war weiterzuziehen. Und das alles nur in Sekunden, die sich für mich wie Jahre anfühlten. Nein, nicht nur anfühlten - ich konnte spüren, wie ich mit jeder Sekunde, die ich dem Boden näher kam, alterte.
Immer näher rückte das unvermeidbare Ende und mit ihm kam die Reue. Hätte ich doch nur mehr meiner Art gesehen. Hätte ich doch nur eine Sekunde länger die Welt betrachtet, mit der ich gleich schon kollidieren würde. Hätte ich mein Leben doch nur ein klein wenig mehr selbst in die Hand genommen, anstatt dem Wind zu gehorchen. Doch auch als ich genau diesen bat, mir doch noch ein wenig mehr Zeit zu schenken, konnte ich nichts mehr tun.
Ich starb inmitten bereits Gefallener und verlor, was mich die Momente zuvor ausgemacht hatte. Plötzlich war nicht kein Individuum mehr, sondern nur noch Teil eines großen Ganzen. Ein Stück dessen, was ich zuvor als leeren, weißen Fleck wahrnahm, ohne zu hinterfragen, woraus diese bestanden. Ich war tot und gleichzeitig bei Bewusstsein. Gemeinsam mit meinen Brüdern und Schwester lag ich reglos da, überzog den Boden unter uns mit einer dichten Decke und schaute elig dabei zu, wie mehr meiner Art aus den Wolken fielen und sich auf den Weg zu uns machten.