Prompt 136: Perlenarmband
Es war noch lange nicht der letzte Karton in Sicht, den Laura heute noch packen musste. Der Tag neigte sich bereit allmählich dem Ende zu und trotzdem war noch längst nicht alles für den Umzug morgen vorbereitet. Warum hatte die junge Frau den Laster nur für morgen früh bestellt? Was war in sie gefahren, dass sie sich selbst so wenig Zeit gab, das Kinderzimmer hinter sich zu lassen und sich in das Leben eines Erwachsenen zu stürzen?
Es war mühsam, sich durch Jahrzehnte zu wühlen, die diese vier Wände verändert und zu einer Ausstellung dessen gemacht hatten, was Laura damals und heute ausgemacht hatte. So kam es der Blonden auch nicht allzu merkwürdig vor, als ihr plötzlich ein hübsches, wenn auch billiges Perlenarmband mit einem kleinen braunen Muschelanhänger in die Hände fiel. Dieses war ebenfalls das Relikt einer Zeit, die längst hinter Laura lag und die sie beinahe schon vergessen hatte. Doch dieses alte Schmuckstück zu sehen, rief sofort wieder hervor, was so lange unter der Oberfläche geschlummert hatte.
Laura war zwölf gewesen, als sie dieses Armband von dem ersten Jungen erhielt, für den sie je geschwärmt hatte. Sein Name war Nico gewesen und sie hatten sich, wie es sicher häufiger bei Kindern vorkam, im Sommercamp kennengelernt.
Mit einem nostalgischen Lächeln auf den Lippen erinnerte sich die junge Frau daran, dass sie sich zunächst strikt geweigert hatte, in dieses Camp zu fahren, es schließlich jedoch getan hatte; ihren Eltern zuliebe, die auch im Sommer lange arbeiten mussten und dementsprechend keine Zeit für Ferienaktivitäten haben würden. Schnell hatte sich Laura mit einigen Kindern angefreundet und bis zum Abschied hin hatte es sich angefühlt, als würde sie diese Fremden bereits ihr ganzes Leben lang kennen und auch noch einen Großteil davon mit ihnen verbringen.
Doch es war Nico gewesen, der am meisten hervorgestochen war - zumindest aus Lauras Sicht. Es war dem Mädchen vorgekommen, als hätte es eine Ewigkeit still und heimlich für diesen Jungen geschwärmt, ehe sie es sich getraut hatte, zum ersten Mal jemandem zu gestehen, wie gern es diesen Jemand hatte. Und Nico enttäuschte Lauras Erwartungen nicht, sondern schien zu erwidern, was noch lange nicht als echte Liebe häte bezeichnet werden können. Es war eher wie ein Spiel. Die Vorbereitung auf das, was man später als Erwachsener fühlen würde. Aber das war in diesem Moment gleichgültig gewesen. Für Nico und Laura war alles echt gewesen. Auch wenn es sich heute anfühlte, als wäre alles nur ein Traum aus einem anderen Leben gewesen, der nie wieder in seiner vollen Intensität existieren könnte nach all den Jahren, die er still vor ich hin vegetiert hatte.
So unzutrennlich wie die beiden Kinder nach dem Geständnis gewesen waren, war es nicht überraschend gewesen, dass Nico Laura ein Abschiedsgeschenk hatte machen wollen. Wohl wissend, dass sie sich wohl sehr lange oder auch nie wiedersehen würden, überreichte der Junge seiner Freundin das Perlenarmband und bat sie darum, es für immer zu behalten, damit sie ihn niemals vergessen würde. Laura gab dieses Versprechen leichtsinnig und fühlte sich nun, wo sie das fast vergessene Geschenk wieder in Händen hielt so, als hätte sie gebrochen, was sie hätte halten sollen.
Für einen Moment hielt die junge Frau inne und fragte sich, ob es Nico heute genauso ging. Dass er seine erste Freundin ohne Andenken an diese längst vergessen und sein Leben weitergelebt hatte, als hätte es die Zeit im Sommercamp nie gegeben. Was wohl für ein Mann aus diesem Jungen von damals geworden war. Laura hatte keinen Anhaltspunkt, sich die heutige Version ihres damaligen Freundes vorzustellen. Immerhin war Nico nur eine blasse, in ihrer Zeit festgefrorene Erinnerung, die nichts mit der Realität mehr zu tun hatte.
Trotzdem fühlte Laura sich ein wenig schuldig. Ein so alten Versprechen durfte nicht gebrochen werden. Deswegen legte sie das Perlenarmband vorsichtig in einen der bereits gefüllten Kartons, die mit der jungen Frau gemeinsam in die neue Wohnung ziehen würden. Denn wer wusste schon, ob Laura Nico nicht doch eines Tages zufällig wiedersehen würde. Und würde er dann nach dem Armband fragen, könnte Laura mit Stolz behaupten, dass sie ihr Versprechen gehalten hatte.